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Epidemiologen der Johns Hopkins School of Public Health und Ärzte der Al-Mustansiriya Universität in Bagdad ermittelten zu diesem Zweck die Zahlen und die Ursachen von Todesfällen vor und nach der Invasion. Der Vergleich ergab, daß – selbst bei vorsichtigster Interpretation der Daten – 98.000 irakische Zivilisten in den ersten 18 Monaten an den Folgen des Krieges und der Besatzung starben. Die meisten Todesfälle waren auf Gewalteinwirkung zurückzuführen, hauptsächlich auf Angriffe der US-Luftwaffe und Artilleriefeuer der alliierten Bodentruppen. Die Opfer waren größtenteils Frauen und Kinder. Die Veröffentlichung der brisanten Ergebnisse im renommierten medizinischen Fachjournal The Lancet Ende Oktober 2004 sorgte für Wirbel. Unmittelbar bei ihrem Erscheinen begann eine massive Kampagne, um die Studie in Frage zu stellen und zu diskreditieren: Die Stichproben seien zu klein, die Lage im Irak zu komplex, die Daten zu wenig repräsentativ und die Studie politisch motiviert, hieß es in Washington, London und den Hauptstädten der anderen Verbündeten, sekundiert von den tonangebenden Medien. Viele lehnten, wie der britische Premier Tony Blair, die Hochrechnung der ermittelten Zahlen auf den gesamten Irak als zu spekulativ ab und wollten nur »echte« Zahlen gelten lassen, so als hätten sie sich noch nie auf die Ergebnisse statistischer Erhebungen gestützt. Dabei ist die Methode an sich unumstritten. Mehrere namhafte Wissenschaftler überprüften die Studie und bescheinigten ihr hohe Qualität und wissenschaftliche Korrektheit. Dennoch wurde sie von fast allen westlichen Medien rasch als »umstritten« oder »fragwürdig« abqualifiziert, ihre unbequemen Ergebnisse wurden ad acta gelegt. »Es ist verrückt,« so Les Roberts, der die Untersuchung im Irak geleitet hatte, »wie sich die Einstellung zur Logik der Epidemiologie, deren Ergebnisse bezüglich neuer Medikamente oder Gesundheitsrisiken Tag für Tag von der Presse begeistert aufgenommen werden, radikal ändert, wenn die Todesursache ihre Armeen sind.« Mit seinen früheren Untersuchungen hatte der renommierte Epidemiologe keine solchen Probleme gehabt, im Gegenteil. In den Jahren 2000 und 2001 hatte er mit exakt derselben Methode wie im Irak Studien im Kongo durchgeführt, um die Zahl der Opfer des Bürgerkriegs zu ermitteln. Das Resultat war noch schockierender: Drei Millionen Menschen waren innerhalb von drei Jahren während der Kämpfe getötet worden. Obwohl dieses Ergebnis ungleich höher war als im Irak, wurden die Zahlen nie angezweifelt. Europäische und amerikanische Regierungschefs zitierten sie bedenkenlos. Bis heute sind sie Basis von Beschlüssen der EU und des UN-Sicherheitsrats. Für die Studie im Irak hatte Roberts' Team aus 33 zufällig gewählten Ortschaften und Stadtvierteln jeweils Gruppen von 30 benachbarten Haushalten, sogenannte Cluster, ausgewählt und befragt. Insgesamt 7800 Iraker wurden auf diese Weise einbezogen. Die Familien wurden gebeten, die Zahl der seit Anfang 2002 gestorbenen Angehörigen sowie die Todesumstände zu nennen. Soweit möglich wurden die Todesfälle anhand amtlicher Dokumente verifiziert. Die Zahl der Todesfälle hatte sich demnach in den befragten Haushalten von 46 vor auf 142 nach Beginn der Invasion erhöht. Mehr als die Hälfte der Toten waren Opfer eines gewaltsamen Todes, zumeist durch Aktionen der Besatzungstruppen, größtenteils durch Luftangriffe und Artilleriefeuer. Zwei Drittel der Opfer von Gewalt wurden aus dem Cluster von Falluja gemeldet. Hier waren im April 2004 bei einem ersten Angriff US-amerikanischer Truppen auf die Stadt besonders viele Einwohner ums Leben gekommen. Die Zahlen aus Falluja wurden daher als möglicherweise untypisch für das übrige Land aus der Berechung ausgenommen. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung kam man so auf ungefähr 98.000 Tote. »Bitte verstehen Sie, wie extrem zurückhaltend wir waren«, so Les Roberts in einem Brief an den britischen Independent , der Zweifel an der Schätzmethode geäußert hatte. »Wir führten eine Untersuchung durch, die ergab, daß wahrscheinlich 285.000 Menschen in den ersten 18 Monaten aufgrund von Invasion und Besatzung gestorben waren, und meldeten als Ergebnis 100.000.« Wissenschaftlich gesehen gab es keinen zwingenden Grund, Falluja ganz auszunehmen. Auch wenn Falluja zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich die Stadt mit der höchsten Zahl ziviler Opfer war, so war sie dennoch nicht ganz untypisch. Eine ganze Reihe von Orten, wie Ramadi, Najaf, Tal Afar und einige Stadtteile Bagdads waren ebenfalls bereits massiven Angriffen von US-Truppen ausgesetzt gewesen, aber nicht von der Studie erfaßt worden. Kurz nach Abschluß der Studie wurde Falluja zudem durch einen zweiten, wesentlich brutaleren Angriff von US-Truppen weitgehend zerstört. Zahlreiche weitere Städte wurden seither von ähnlich verheerenden militärischen Offensiven heimgesucht. Der Statistiker Pierre Sprey kam mit einer anderen Methode in der US-amerikanischen Zeitschrift Counterpunch (ohne Berücksichtigung von Falluja) zu dem Ergebnis, die Zahl der Opfer von Krieg und Besatzung habe in den ersten 18 Monaten mit 90 prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen 53.000 und 279.000, mit 80 prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen 78.000 und 229.000 gelegen. Tendenziell eher unterschätzt werden die wahren Todesziffern unter anderem dadurch, daß die Schätzungen der Statistiker die Opfer aus denjenigen Familien unbeachtet lassen, die durch einen Bombenangriff vollständig ausgelöscht wurden oder deren Überlebende sämtlich weggezogen sind. In Falluja waren 23 von 52 besuchten Haushalten verlassen vorgefunden worden. Nachbarn berichteten zwar von vielen Toten in diesen Familien, konnten aber keine genauen Zahlen angeben. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, die Situation im Irak habe sich mittlerweile verbessert. Im Gegenteil: Die Zahl der indirekten Opfer dürfte weiter gestiegen sein. Es steht zu befürchten, daß nun, knapp drei Jahre nach Beginn des Krieges, zwischen 200.000 und 500.000 Iraker die fragwürdige »Befreiung« durch die US-geführten Truppen mit ihrem Leben bezahlen mußten. Konfrontiert mit den Ergebnissen der Lancet -Studie griffen Politiker und Medien auf die zuvor ebenfalls als überhöht geschmähten Zahlen des »Iraqi Body Count«-Projekts (IBC, ) zurück, die deutlich niedriger liegen. Die ehrenamtlich arbeitenden Wissenschaftler des IBC bemühen sich seit Kriegsbeginn, die Zahl der durch militärische Gewalt getöteten Zivilisten zu erfassen, indem sie Angaben aus öffentlich zugänglichen englischsprachigen Quellen sammeln und abgleichen. Als »Maximum« veröffentlicht IBC die Summe der Fälle, die von mindestens zwei unabhängigen Quellen berichtet wurden, als »Minimum« gilt die Summe der jeweils kleineren Zahl bei abweichenden Meldungen. Anfang Februar 2006 betrug das Minimum 28.400 und das Maximum 32.000 zivile Tote. Das Body Count Team selbst sieht keinen Widerspruch zwischen seinen Zahlen und denen der Lancet -Studie: »Unser Maximum bezieht sich auf Todesfälle, über die berichtet wurde und die daher nur ein Teil der tatsächlichen Todesfälle sein können, es sei denn, man nimmt an, daß jeder Tod gemeldet worden ist. Es ist wahrscheinlich, daß über viele, wenn nicht über die meisten zivilen Opfer in den Medien nicht berichtet wird.« Vor allem in den heißen Kampfzonen gehen die meisten Todesfälle unter, da unter dem Feuer der Besatzungstruppen die wenigsten Opfer in Krankenhäuser oder Leichenhallen gebracht werden können und die Angehörigen oft gezwungen sind, ihre Toten in nächster Nähe zu bestatten. Eine wesentliche Tatsache wird von IBC ebenso eindeutig wie von der Lancet -Studie belegt: Nicht Terroristen und Widerstandsgruppen, sondern die Besatzungsgtruppen sind für den größten Teil der gewaltsamen Todesfälle verantwortlich. Obwohl Les Roberts und viele seiner Kollegen die Zweifel der Redakteure des Independent und anderer Zeitungen geduldig widerlegten, blieben diese bei ihrer Ablehnung. Indepedent -Redakteurin Mary Dejevsky antwortete Roberts, sie verstehe seine Argumente, halte aber an ihrer Position fest, »daß Extrapolation, auch wenn wissenschaftlich und gut durchdacht, kein Ersatz für reale Zahlen« sei. Ihr sei bewußt, daß es solche »realen« Zahlen nicht gebe. Doch Schätzwerte durch Extrapolation ließen zu viel Raum für Zweifel und seien daher »angreifbar durch Regierungssprecher, die versuchen, sie zu diskreditieren«. Sie hätte besser auf den berühmten Nahostkorrespondenten des Blattes, Robert Fisk, gehört, der regelmäßig über die Zunahme der Opfer von Gewalt berichtete. Im September 2005 besuchte er zum wiederholten Male das städtischen Leichenschauhaus von Bagdad und sah dort schon nach wenigen Vormittagsstunden die Leichen von mehr Gewaltopfern, als dort vor der Invasion innerhalb eines ganzen Monats eingeliefert worden waren. Fisk erhielt auch Zugang zum Computer der Leichenhalle und kam durch Hochrechnung der dort gespeicherten Zahlen auf den ganzen Irak zu dem Schluß: »Die Zahlen, die von 100.000 zivilen Opfern sprechen, sind nicht gerade übertrieben. Aber niemand will darüber berichten.« Ein Menschheitsverbrechen. Doch der Internationale Strafgerichtshof hat es abgelehnt, sich mit Verbrechen der Besatzungstruppen im Irak zu befassen. Sein Chefankläger Luis Moreno-Ocampo gab dafür am 9. Februar 2006 unter anderem die Begründung, im Irak handele es sich um wenige Fälle im Vergleich zu Hunderttausenden Opfern anderer Konflikte, um die er sich kümmern müsse.
Erschienen in Ossietzky 5/2006 |
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