von Sven Oliveira Cavalcanti (sopos)
Frankreichs Innenminister Sarkozy hat sie als „Abschaum und Gesindel“ bezeichnet und genauso reagieren die Jugendlichen der Pariser Vorstädte, wenn sie Schulen, Kindertagesstätten und Autos in Brand stecken – der geballte Hass gegen eben jene Institutionen und Symbole, die sie domestizieren und mundtot machen wollen. Sie erfüllen jetzt auf tragische Weise, wofür sie die französischen konservativen Eliten immer gehalten haben. Ihr Beitrag dazu war der Aufschrei der Gewalt, der sagte: Nun sind wir tatsächlich das, wozu ihr uns gemacht habt.
Dabei kommt das Wort Gesindel von Gesinde. Meiers Konversationslexikon von 1895 definiert Gesinde, als „diejenigen Personen, welche sich gegenüber einem bestimmten Dienstherrn zur Leistung häuslicher oder wirtschaftlicher Dienste niederer Art gegen Lohn, Wohnung und Kost vertragsmäßig verpflichtet haben.“ – nichts anderes markiert die Existenz jener Dropouts in den trostlosen Betonansammlungen der Pariser Vororte, die ihr Dasein als sans papiers fristen oder einfach als Randerscheinung des modernen Kapitalismus geduldet sind. Doch so unpolitisch, wie das bürgerliche Feuilleton die Revolte gerne hätte, ist sie nicht: Bereits Sartre schrieb 1964: „Wer von der Jugend sagt, sie sei entpolitisiert, wünscht, daß sie es ist, und trägt dazu bei, daß sie es mehr und mehr wird.“ [1] In Paris ist vorbewußtes ausgebrochen, gleichsam perennierendes Leid – es ist eine vorbewußte Revolte, die geschlagen und besiegt werden wird. Bald wird aufgeräumt und die aufgeschreckten Konservativen werden ihre Sozialdemokratie damit beauftragen, sie ruhig zu halten.
„Man wird revolutionär, wenn einem die Luft zum Atmen genommen wird“ [2] – so bezeichnete Sartre die Motivation des Pariser Mai 1968. Die Revolte von Paris im November 2005 atmet dieselbe Luft, jedoch nicht denselben Geist von einst. Erstickt vom Zwang der Integration in Arbeit, eben jener, die Pasolini als die gleiche, welche auf dem Eingangstor von Auschwitz verherrlicht wurde, identifizierte. Arbeit macht nicht frei. Der Pantheon des bürgerlichen Feuilletons wirft ein Bild des eigenen Entwurfs auf die Jugendlichen der Pariser Randbezirke: Ohne Perspektive auf Arbeit, ohne Integration und voller Frustration, aufgeladen von der Ödnis der Langeweile der Pariser Vororte; nicht Perspektive im bürgerlichen Sinn fehlt – der Sinn der Existenz selbst ist ohne Atemluft: es ist die Inversfolie des bürgerlichen Entwurfs.
Der Beginn der Revolte ist banal: „Der Auslöser kam […] als eine Gruppe von 10 Oberschüler im Vorort Clichy-sous-Bois Fußball spielten. Als die Polizei vorfuhr um Identitätsüberprüfungen durchzuführen, rannten die Jugendlichen davon und versteckten sich, da einige von ihnen keine Ausweise hatten. Drei der Jugendlichen versteckten sich vor der Polizei in einem Transformator-Häuschen der EDF. Zwei von ihnen, Ziad Benn (17) und Bnou Traoré (15) starben; der Dritte, Metin (21), wurde schwer verletzt.“ [3]
Die Parallelen zur Vorgeschichte der 68´er Revolte ist ebenso die Geschichte der Separation und Marginalisierung des Subjekts in der bürgerlichen Gesellschaft der Industrienationen: 1955 wurde die schwarze Rosa Parks verhaftet, weil sie sich in Montgomery weigerte, ihren Platz im Bus für einen weißen Mann zu räumen. Gegenwehr zum rassistischen Alltag markierte den Übergang zur Politisierung einer Generation – bis elaborierte Theorien Wirkmacht an den Universitäten und mancherorts in den Gewerkschaften erreichten, vergingen mehr als 10 Jahre. Erst dann hatte die Kulturindustrie einen Gegner. So ist es gut möglich, daß die Pariser riots die Vorboten einer größeren sozialen Bewegung sein könnten. Das Wesentliche daran ist, daß die Aktionen stattgefunden haben, obwohl sie ohne kollektiven Entwurf, ohne gesellschaftliche Utopie und spontan entstanden. Ihr gemeinsames Telos lautete: Das Bestehende darf nicht weiter in gewohnter Form herrschen. Es geht nicht um den einzelnen Polizisten, nicht um den einzelnen Jugendlichen – es geht um ein Unbehagen an dem Zustand der Welt, dem Versuch eines Ausbruchs aus der täglichen vita violenta – wobei sei sich anreichert mit dem unangenehmen Beigeschmack aus Protestation und Quietiv, der Religion ausmacht. Die Protestation in Paris ist nur Vorgeschmack, ihr Bitterstoff ist das Quietiv; die geistige Begrenztheit des Milieus.
„Unsere Gesellschaft“ – so Sartre einst – „ist auf einer Lüge aufgebaut, und die Aufgabe des Staates ist es, mit Hilfe der Massenmedien diese Lüge untilgbar in jedes französische Eßzimmer zu bringen.“ [4] Die Anpassung ans Bestehende wird, wo sie nicht sowieso schon unterschwelliger Logos war, zur Formel des Glücks erkoren. Der gegenwärtige Bruch innerhalb der französischen Gesellschaft fußt auf dem zwischen kommerziellem Wunschbild und objektiver Wirklichkeit, zwischen der großen Erzählung der Kulturindustrie und dem objektiven Elend der Trabantenstädte. Dem Fehlen der Repräsentanz der subproletarischen Jugend im politischen Allgemeinen entspricht die reale Tristesse ihrer Behausungen an der Peripherie: Gebaut als Unterkunft der industriellen Reservearmee, nicht nur perspektivlos, sondern abgeschoben in jenes architektonische Verbrechen, was eine jede Trabantenstadt ausmacht – verwaltetes Leben ohne Utopie. Wer darin aufwächst, ist bereits beraubt: nämlich der Verwirklichung jener Phantasie, die die Reklame alltäglich in die Vegetationsmechanismen der Hochhäuser trägt. Ihre Existenz verdanken sie dem Trabantenwesen – noch nie war hier Platz für freies Leben; schon die Architektur zeigt an, welcher Platz dem Subjekt darin zugedacht ist. Einem Wort Heiner Müllers folgend: Fickzellen mit Fernwärme.
Die Revolte der Jugendlichen drückt den Wunsch aus, daß da noch mehr sei, als Langeweile und Unterdrückung, noch mehr im Leben bereitsteht, als den Mehrwert ausgepreßt zu bekommen, mehr als nur der von den Herrschenden bereitgestellte Entwurf auf ein kleines Leben voller Arbeit und Demütigung. Noch hat die herrschende Klasse keine Kultur im Gepäck um die Beleidigten und Marginalisierten der Vorstädte zu integrieren. Der kulturindustrielle Schund, der für sie produziert wird, reicht nicht aus, um ihnen ihre Unterdrückung schmackhaft zu machen. Arbeit und Massenkultur – diese beiden Votivbilder des angepaßten Lebens, die Insignien der überwachten Freiheit – fußen nicht in den Regionen, die als Arbeitsrefugien zunehmend überflüssiger werden. Wenn eben diese Menschen sich erheben und ihre Viertel in Brand setzen, dann ganz einfach deshalb, weil sie nichts darin sehen, was aufzuheben sich lohnt. Ihre Revolte ist vorbewußt, sie zerschlagen die institutionellen Arme einer Gesellschaft, die ihnen ihre Anerkennung verweigert. Ihre Forderungen? Zunächst ganz einfache: Respekt.
[1] Sartre, Jean-Paul: Das Alibi, in: Sartre, Jean-Paul: Mai `68 und die Folgen. Reden Interviews Aufsätze 1, Reinbeck bei Hamburg, 1974, S. 19
[2] Sartre, Jean-Paul: Die geprellte Jugend, in: Sartre, Jean-Paul: Mai `68 und die Folgen. Reden Interviews Aufsätze 1, Reinbeck bei Hamburg, 1974, S. 78
[3] http://germany.indymedia.org/2005/11/131526.shtml
[4] Sartre, Jean-Paul: Es gibt keinen guten Gaullismus in: Sartre, Jean-Paul: Mai `68 und die Folgen. Reden Interviews Aufsätze 1, Reinbeck bei Hamburg, 1974, S. 70
https://sopos.org/aufsaetze/43fd0f09891bb/1.phtml
sopos 2/2006