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Global verfaßt

Die WTO garantiert den Bestand des hierarchischen Weltsystems

von Thomas Fritz

Es kommt selten vor, daß marxistische WissenschaftlerInnen mit den Eliten der Weltordnung übereinstimmen. In einem Punkt sind sie sich jedoch einig: "Wir schreiben die Verfassung einer vereinigten Weltwirtschaft", meinte etwa der ehemalige WTO-Generaldirektor Renato Ruggiero und trifft sich darin mit dem Politikwissenschaftler Stephen Gill, der die Organisation als "de facto Verfassung für den globalen Kapitalismus" betrachtet.

Tatsächlich kann es kaum verwundern, daß die internationale Expansion der kapitalistischen Produktionsweise auch die Globalisierung staatlicher Serviceleistungen mit sich bringt. Die WTO-Verträge stellen die transnationale Ergänzung des nationalstaatlich garantierten Vertrags- und Eigentumsrechts dar und tragen damit zur dauerhaften Absicherung der globalen Kapitalverwertung bei. Diese zentrale Funktion erfüllen sie trotz des Scheiterns der zwei WTO-Ministerkonferenzen 1999 in Seattle und 2003 in Cancún. Die WTO leistet damit einen erheblichen Beitrag zur Ausweitung und Festigung des hierarchischen Weltsystems. Wie konnte es dazu kommen?

Neoliberale Konterrevolution

Noch in den 1970er Jahren schien es, als würde die Dritte Welt zumindest an politischem Gewicht gewinnen: Die Niederlage der USA in Vietnam, die Ölpreiserhöhungen der OPEC oder die in der UN durchgesetzten Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung interpretierten viele Zeitgenossen als Hegemoniekrise des Westens zugunsten eines gestärkten Südens. Heute ist bekannt, daß sich diese Erwartung nicht erfüllte. Die entscheidende Wende leitete 1979 die US-Zentralbank ein. Sie verknappte das Geld, trieb die Zinsen hoch und setzte damit ein monetaristisches Strukturanpassungsprogramm für die Weltwirtschaft in Gang, das unter Präsident Reagan fortgesetzt wurde und seither Nachahmer in aller Welt findet. In den Ländern der Peripherie verwandelte sich die Kapital- und Kreditflut der 1970er Jahre zur Schuldenkrise der 1980er. Seither hängen viele Dritte-Welt-Länder am Tropf von Weltbank und IWF. Deren Rezepte - eiserne Sparpolitik, Marktöffnung und liberalisierter Kapitalverkehr - haben Sozialabbau, zerstörerische Konkurrenz und Währungscrashs zur Folge. All das sorgt dafür, daß die periodisch wiederkehrenden kapitalistischen Krisen seither bevorzugt an den Rändern des Weltsystems ausbrechen (Asien-, Argentinienkrise usw.).

Die WTO ist Teil dieser neoliberalen ‚Konterrevolution'. Unmittelbar nach Ausbruch der Schuldenkrise begannen Anfang/Mitte der 1980er Jahre im Rahmen des Welthandelsabkommens GATT die Vorbereitungen zum Start der so genannten Uruguay-Runde. Zu dieser Zeit hatte das neoliberale Denken längst die Eliten der Dritten Welt erfaßt. Unter dem Verschuldungsdruck vollzogen sie den Übergang von binnenorientierter Importsubstitution, mit der die wirtschaftliche Unabhängigkeit von den Industrieländern erreicht werden sollte, hin zu exportorientierter Weltmarktintegration. Willig unterwarfen sich viele Eliten den Anforderungen des globalen Standortwettbewerbs, womit sich auch ihre Haltung zum multilateralen Handelssystem wandelte. Angesichts des erstarkten Interesses an exportgetriebenem Wachstum erachteten sie es als wichtiger, den Protektionismus des Westens durch multilaterale Regeln zu bändigen, als für ihre Länder eine schonende Sonderbehandlung zu reklamieren.

Bei der sechsten UNCTAD-Konferenz, die 1983 in Vorbereitung auf die Uruguay-Runde abgehalten wurde, fand die Forderung nach unkonditionierter "Gleichbehandlung" der Entwicklungsländer in Form des Meistbegünstigungsprinzips breite Unterstützung. Die trügerische Hoffnung war, daß ein gleiches Niveau der Marktöffnung im Süden wie im Norden den Protektionismus der Industrieländer aufbrechen und zu erweiterten Exporten von Süd nach Nord führen könne. Viele Regierungen der Peripherie beteiligten sich folglich selbst an der Zerstörung des flexibleren Nachkriegssystems, in dem durch Schutzmechanismen wie z.B. Importquoten die fragilen Wirtschaften der Dritte-Welt-Länder geschützt werden konnten.

Der Umschwung zu Exportorientierung und Standortpolitik prägte die Verhandlungsführung in der Uruguay-Runde. Anders als in früheren GATT-Runden traten Süd-Regierungen weniger als Block auf, sondern verfolgten weit stärker nationale, teils erheblich divergierende Interessen. Dies wurde besonders deutlich bei den Verhandlungen über das künftige Agrarabkommen. Große Agrarexporteure wie Argentinien, Brasilien oder Thailand schlossen sich der so genannten "Cairns-Gruppe" an und forderten die Liberalisierung des Welthandels mit landwirtschaftlichen Produkten. Dagegen befürchteten jene Entwicklungsländer, die auf Lebensmittelimporte angewiesen sind, steigende Einfuhrpreise durch den Wegfall von Subventionen in Exportländern. Andere Staaten wiederum bangten um den Bestand kleinbetrieblicher Produktionsstrukturen. Entlang der gleichen Fragestellung nahmen Entwicklungsländer also konträre Positionen ein. Diese Anordnung hat sich bis heute erhalten. Es ist daher verfehlt, die neu formierten Ländergruppen (vor allem G20 und G33) als Ausdruck einer erneuerten Einheit der Dritten Welt zu interpretieren (siehe iz3w 287). Vielmehr spiegeln sich auch in ihnen Interessengegensätze wider.

Die WTO ist ein institutioneller Ausdruck der veränderten weltwirtschaftlichen Integration. Die ökonomische Verflechtung stellt sich nicht nur über die Zirkulation von Waren und Geld her, sondern in weit stärkerem Maße durch international vernetzte Produktion. Die seit den 1980er Jahren verstärkte Reorganisation transnationaler Konzerne in grenzüberschreitende Wertschöpfungsketten erforderte, daß sich produktionsspezifische Staatsfunktionen wie z.B. Patentschutz globalisierten. Aus diesem Grunde drängten die Industrieverbände während der acht Jahre andauernden Uruguay-Runde, deren Ergebnis 1995 die WTO-Gründung war, unermüdlich auf globalen Patentschutz, deregulierte Investitionen, liberalisierte Dienstleistungen und harmonisierte Produktnormen. Am Ende bekamen sie WTO-Verträge wie TRIPS, TRIMS, GATS und TBT sowie ein mächtiges WTO-Schiedsgericht.

Diese WTO-Verträge unterstützen insbesondere die führenden Unternehmen moderner Produktionsnetzwerke bei der Verteidigung und Vergrößerung ihrer Wertschöpfungsmonopole. So legt beispielsweise das TRIMS-Abkommen (Trade-Related Investment Measures) den WTO-Mitgliedern erhebliche Hürden in den Weg, wenn sie Direktinvestitionen an Bedingungen wie Beteiligung einheimischer Unternehmen, Technologie-Transfer oder die Verwendung inländischer Vorprodukte koppeln wollen. Das TRIPS-Abkommen (Trade-Related Intellectual Property Rights) wiederum unterstützt Herrschaftsbeziehungen, die auf modernes Produktionswissen aufbauen. Es verlangt die Einführung oder "Harmonisierung" geistiger Eigentumsrechte, seien dies Urheberrechte, Markenzeichen, technische Designs oder Patente. Auch das Dienstleistungsabkommen GATS (General Agreement on Trade in Services) erleichtert das globale Netzwerk-Management. Dessen Deregulierungen zielen auf die möglichst billige Verfügbarkeit sämtlicher produktionsnaher Dienstleistungen wie z.B. Verkehr oder Versicherungen ab. Bei Gesamtbetrachtung der WTO-Leistungen für die kapitalistische Produktion stellt sich die Frage, warum diese Institution nicht "World Manufacturing Organisation" getauft wurde. Die Auswirkungen der WTO reichen jedenfalls weit über den Handel hinaus.

Die WTO-Verträge erweisen sich vor diesem Hintergrund als Instrument zur Peripherisierung ganzer Regionen. Exemplarisch ist dies an den für moderne Produktion bedeutsamen Patenten und Marken ablesbar. Da in vielen Ländern Marken- oder patentierte Produkte oftmals nur von einem einzigen Konzern angeboten werden, verbleiben die Hersteller in der Peripherie auf dem Status abhängiger Lizenznehmer der Multis, die das Produktionswissen monopolisieren. Allein durch die Umsetzung des TRIPS-Abkommens ist laut Weltbank zu erwarten, daß in die USA jährlich zusätzlich 19 Mrd. US-Dollar an Patentgebühren fließen, nach Deutschland sieben Mrd. und nach Japan sechs Mrd. Die Länder der Peripherie hingegen sind durchweg Nettozahler.

Ähnlich stabilisiert die WTO die Profitratenhierarchie im Bereich der Marken. In dem jährlich von der Unternehmensberatung Interbrand durchgeführten Ranking der wertvollsten internationalen Titel rangiert an der Spitze Coca-Cola mit einem Markenwert von 67,5 Mrd. US-Dollar, gefolgt von Microsoft (59,9 Mrd.) und IBM (53,3 Mrd.). US-Konzerne dominieren die diesjährige Hitliste, gefolgt von europäischen und japanischen Firmen. Lediglich drei Marken unter den Top 100 stammen aus der (ehemaligen) Peripherie und gehören den südkoreanischen Unternehmen Samsung, Hyundai und LG.

Da der Schutz von Patenten und Marken durch das TRIPS erfaßt ist, können Verstöße nach dessen Umsetzung in nationales Recht mit Handelssanktionen belegt werden. Auch das WTO-Schiedsgericht hat sich dabei als Peripherisierungsinstrument bewährt. Nahmen schon den GATT-Streitschlichtungsmechanismus hauptsächlich USA und EU in Anspruch, ist deren Dominanz beim WTO-Gericht noch gestiegen. Bei 88 % der Streitfälle sind die USA als Kläger oder Beklagte vertreten, bei 67 % die EU. Während die von Entwicklungsländern eingereichten Klagen sanken, wurden sie zugleich häufiger beklagt. Unter dem GATT waren sie in nur 8 % der Streitfälle Beklagte, unter dem WTO-System in 37 %. Selbst Klagen einzureichen, lohnt sich für sie kaum. Einerseits sind die Verfahrenskosten viel zu hoch, andererseits können sie aufgrund ihrer kleinen Märkte kaum wirksame Strafzölle erheben. Anhand der WTO zeigt sich: Bürgerliches Recht ist immer das Recht der Stärkeren.

Schmerzhafte Scheinlösungen

Die WTO löst auch die Agrarfrage auf die ihr eigene Weise, wie der Direktor des Third World Forum in Dakar (Senegal), Samir Amin, erläutert. Die Wettbewerbslogik des Agrarabkommens beruhe auf der Vorstellung einer industrialisierten Landwirtschaft. Dies beinhalte, "daß die heute von drei Milliarden Kleinbauern produzierten Nahrungsmittel künftig von 20 Millionen moderner ‚Farmer' hergestellt werden können".[1] Die WTO-Liberalisierung sei somit einem überaus schlichten Modernisierungsmodell verhaftet, das sich an der historischen Entwicklung westlicher Industriegesellschaften orientiere. Unausgesprochen werde angenommen, ein Gutteil der Landbevölkerung könne neue Beschäftigung in den wachsenden urban-industriellen Zentren finden.

Aus zweierlei Gründen ist dieses Modell laut Amin für die heutige Peripherie untauglich: "Der erste ist, daß sich das europäische Modell über eineinhalb Jahrhunderte mit arbeitsintensiven industriellen Technologien entwickelte. Moderne Technologien jedoch verwenden weit weniger Arbeitskraft und die Newcomer der Dritten Welt müssen diese übernehmen, wenn ihre Industrieexporte auf den globalen Märkten wettbewerbsfähig sein sollen. Der zweite Grund ist, daß Europa während dieses langen Übergangs von der massenhaften Migration seiner Überschußbevölkerung nach Amerika profitierte". Worauf Amin damit hinweist, ist der Beitrag der WTO zur Durchsetzung eines globalen Arbeitsmarkts mitsamt einer gigantisch wachsenden industriellen Reservearmee. Beim Abschluß der Verhandlungen über den WTO-Beitritt Chinas im September 2001 räumte der chinesische Verhandlungsführer Long Yongtu denn auch ein, daß die Marktöffnung das Wohlstandsgefälle zwischen den Küstenregionen und dem verarmten Hinterland verstärken werde. Yongtu stimmte seine Landsleute vorsorglich auf "viele schmerzhafte Umstrukturierungen" ein.

Die vor allem mit dem China-Beitritt ins öffentliche Bewußtsein getretene wachsende Mitgliederzahl verweist zudem auf eine weltweite, nicht mehr umkehrbare Veränderung der Klassenbeziehungen. Die Globalisierung von Handel und Produktion macht die Annahme verschiedener "nationaler Bourgeoisien" zunehmend anachronistisch. Geißelten die lateinamerikanischen Dependenztheoretiker noch in den 1970er Jahren die mit dem internationalen Kapital verflochtenen "Compradora"-Klassen, so sind diese transnationalen Allianzen heutzutage zu einem unhintergehbaren Faktum geworden. Das schließt nicht aus, daß es immer wieder zu Konflikten zwischen national und international orientierten Unternehmen kommt. Die Tendenz zum weltweit wachsenden und zunehmend enger verflochtenen Produktivvermögen ist aber ebenso unabweisbar wie die Existenz grenzüberschreitend agierender Interessengruppen, die diesen Prozeß auch in der WTO vorantreiben.

Angesichts der Transnationalisierung des Kapitals erscheint es unzeitgemäß, wenn Globalisierungskritiker nach einem WTO-Treffen titeln: "Norden zieht Süden erneut über den Tisch."[2] Zwar unterstützt die WTO unzweifelhaft moderne Wertschöpfungshierarchien zwischen Nord und Süd, jedoch sind alle Mitgliedsstaaten durch Klasseninteressen geprägt, die nicht selten grenzüberschreitend konvergieren. Die Rolle der Eliten bei der marktgerechten Zurichtung ihrer Länder wird durch schlichte Nord-Süd-Dichotomien nur verdeckt. Werden die gesellschaftlichen Antagonismen ignoriert, besteht die Gefahr eines kritiklosen Schulterschlusses mit Regierungen oder herrschenden Klassen. So meint etwa eine britische NGO, die über die Folgen von Zollsenkungen in Dritte-Welt-Ländern aufzuklären versucht, daß "sich lokale Unternehmen beim Versuch, mit Billigimporten zu konkurrieren, oft zu Lohnsenkungen und Lockerungen von Arbeitsstandards gezwungen sehen".[3] Dabei unterschlägt sie, daß Unternehmer in aller Welt derartige Argumente gegenüber ihren Lohnabhängigen ins Feld führen: Die WTO, die Globalisierung, der Wettbewerb oder das "ausländische" Kapital ließen keine andere Wahl, als Löhne und Sozialstandards zu senken.

Es sind immer wieder lokale Unternehmer selbst, die das berüchtigte "race to the bottom", den Wettbewerb zur Unterbietung sozialer und ökologischer Standards starten, wie Rohini Hensman am Beispiel Indiens zeigt.[4] Der zivilgesellschaftliche Globalisierungsdiskurs unterstütze dort nicht nur die Ausflüchte von Arbeitgeber, sondern nähre die Illusion, "der Kapitalismus könne die Probleme von Armut und Arbeitslosigkeit lösen, solange er national bleibe". Die fatale Folge dieses Diskurses sei, daß Arbeiter ihr Heil in nationalen Allianzen mit rückständigen Teilen der Unternehmerschaft und der Politik suchen und sich damit ihrer schärfsten Waffe berauben - der Erarbeitung internationaler Widerstandsstrategien, die der Realität der kapitalistischen Globalisierung Rechnung tragen.

Widerstand im Netzwerkkapitalismus

Zur Geschichte der durch die WTO forcierten kapitalistischen Expansion gehören aber auch die weltweit angeregten Organisierungsprozesse der Lohnabhängigen. Regelmäßig gehen gerade die Beschäftigten der internationalisierten Sektoren zum Widerstand über, sei es in den Maquiladoras der Textilindustrie, den Subunternehmen der Elektrokonzerne oder in der Massenproduktion der Sonderwirtschaftszonen. Häufig beschränken sich ihre Forderungen nicht nur auf Organisationsfreiheit, bessere Arbeitsbedingungen oder höhere Löhne, sondern sie gehen weit über die betriebliche Ebene hinaus. Viele der in den transnationalen Konzernen entstandenen Basisgewerkschaften erklären den Kampf gegen repressive Regierungen zu einem ihrer wichtigsten Ziele und gehen dazu Bündnisse mit Widerstandsgruppen außerhalb der Betriebe ein.

Demgegenüber dominiert in den Mobilisierungen rund um die WTO-Konferenzen vor allem bei entwicklungspolitischen NGOs der Versuch, den Verhandlern des Südens den Rücken zu stärken, damit sie nicht "über den Tisch gezogen werden". Das Risiko dieser Praxis ist, daß in den Genuß solcher Unterstützung auch Regierungen kommen, die sie nicht verdienen, etwa weil sie repressiv gegen oppositionelle Kräfte im eigenen Land vorgehen, wie beispielsweise einige G33-Mitgliedsländer. Bedenklich stimmt auch, daß sich die Forderungskataloge mancher NGOs mittlerweile wie die Wunschzettel idealtypischer Entwicklungsstaaten lesen und sie jeglichen Bezug auf Bewegungen vor Ort vermissen lassen. Allein aus diesem Grund erscheint es immer wichtiger, die Mobilisierungspraxis zu reflektieren, die Vernetzung von unten zu betreiben und erst auf dieser Basis eine gemeinsame Handlungsorientierung zu entwickeln.

Diese Anforderung gilt auch für jene, die meinen, Bewegungen sollten symbolische Politik machen und für die Auflösung der WTO mobilisieren. Es ist nicht auszuschließen, daß beispielsweise Maquiladora-Arbeiter zu dem Schluß kämen, eine Sozialklausel in der WTO könnte ihre Lebenslage verbessern. Womöglich kämen sie auch zum Schluß, die WTO müsse zerschlagen werden. Die viel wesentlichere Frage ist jedoch, ob ihnen überhaupt eine grenzüberschreitende Organisierung gelingt.

Anmerkungen:

[1] Samir Amin: World Poverty, Pauperization, and Capital Accumulation. In: Monthly Review, Vol. 55, No. 5, 2003.

[2] Attac Deutschland/ Weed: Pressemitteilung, 1.8.2004.

[3] John Hilary: The Doha Deindustrialisation Agenda, War on Want, April 2005, London.

[4] Rohini Hensman: The Impact of Globalisation on Employment in India and Responses from the Formal and Informal Sectors', IIAS/IISG, CLARA Working Papers No. 15, 2001, Amsterdam.

Thomas Fritz ist Mitarbeiter der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Umwelt und Entwicklung (BLUE 21).
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 289.

Geplatzt und entfesselt

Wenn vom 13.-18. Dezember 2005 die sechste Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO in Hongkong stattfindet, feiern auch die GlobalisierungskritikerInnen Jubiläum. "10 Jahre sind genug - Stoppt die Welthandelsorganisation!" fordern sie. Ihre Rhetorik hat sich offenbar nicht wesentlich geändert in den letzten Jahren: "Hongkong platzen lassen!" wünscht sich Attac, die "Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen im Interesse der BürgerInnen", in ihrem Aufruf zum bevorstehenden Gipfel. Walden Bello, der Direktor der Organisation Focus on the Global South, sieht das nicht anders: "Die Länder des Südens haben von der WTO-Politik nichts zu erwarten, darum muss auch der nächste WTO-Gipfel scheitern."

Doch obwohl viele Forderungen altbekannt klingen, hat sich die globalisierungskritische Bewegung seit der Millenniumsrunde der WTO in Seattle 1999 verändert. Sie hat sich verfestigt und institutionalisiert, und die Kritik an der Globalisierung wurde konkreter und ‚konstruktiver'. Innerhalb von Attac Deutschland gründeten sich etwa Arbeitsgruppen und Schwerpunkte zur Umwelt- und Steuerpolitik, zur Gesundheits- und Rentenreform. Inzwischen tritt Attac in vielerlei Hinsicht wie die Jugendorganisation der Linkspartei auf. Selbst Oskar Lafontaine fand über die organisierte Globalisierungskritik den Weg zurück in die große Politik: Im Jahr 2001 sprach er auf dem Attac-Kongress "Eine andere Welt ist möglich", vier Jahre später stellte er sich mit ähnlichen Parolen zur Wahl.

Die Institutionalisierung und die Hinwendung zur parlamentarischen Politik haben zum einen dazu geführt, dass die Kritik im Detail fundierter geworden ist. Dies war auch dringend notwendig, sind doch die Gegenstände der Kritik - Globalisierung, Welthandel, WTO - weitaus komplexer und widersprüchlicher als lange Zeit dargestellt. In wenigen Jahren sind Brasilien, Indien und vor allem China zu den am schnellsten wachsenden Ökonomien und damit zu wichtigen Trägern der Globalisierung geworden. Nicht mehr nur die Industriestaaten pochen auf offene Märkte und zollfreien Handel, sondern gerade auch die Schwellenländer mit ihrem Drang nach Export ihrer Waren. Der vermeintlich einheitliche Block der Industriestaaten dagegen übt sich in Konkurrenz, immer wieder kommt es zwischen den USA und der Europäischen Union zum Streit um genetisch manipulierte Produkte, Stahl oder Agrarprodukte. Die vereinfachende Analyse - "Die Entwicklungsländer sind die Verlierer der Globalisierung, während die Industriestaaten zu den Gewinnern gehören" -, wie sie die UN-Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD) noch vor Seattle formulierte, lässt sich kaum mehr aufrecht erhalten. Immer stärker gerät etwa China ins Zentrum der Kritik, weil der Export chinesischer Textilien, Spielwaren oder Elektrogeräte ganze Industrien in Zentralamerika, Südostasien und dem südlichen Afrika ruiniert (vgl. iz3w 287).

Die Veränderungen innerhalb der Bewegung haben aber auch zu einer noch stärkeren Diskrepanz zwischen Rhetorik und Inhalten geführt. Die nach außen demonstrierte strikte Opposition zur WTO ("Platzen lassen" oder "Stoppen") findet in der inhaltlichen Ausrichtung, vor allem in den Forderungen vieler NGOs, keine Fortsetzung. Politisch starken Parolen folgen häufig eher dürftige Vorschläge zur Lösung der festgestellten Probleme. Beispiel Agrarhandel: "Freihandel macht Hunger" heißt es dazu bei Attac, während Armin Paasch von der Menschenrechtsorganisation FIAN in derselben Kampagne differenziert: "Ein verbesserter Marktzugang im Norden ist nicht der Schlüssel zur Bekämpfung der globalen Armut", aber er könne einen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten, wenn er maßvoll, unter Berücksichtigung sozialer und ökologischer Kriterien und mit Handelspräferenzen gezielt für ärmere Länder ausgestaltet sei. Auch beim Thema Finanzmärkte lässt Attac der radikalen Parole vom "entfesselten Kapitalismus" eine biedere Politik folgen: Als Mittel zur Regulierung des angeblich außer Kontrolle geratenen Systems müssen nach wie vor die so genannte Tobin-Steuer auf Finanztransaktionen und bessere Kontrollen gegen Steuerflüchtlinge herhalten. Wie vor diesem Hintergrund nicht anders zu erwarten, bleibt auch die Strategie bezüglich der aktuellen WTO-Tagung unklar. Während Walden Bello als Alternative für einen neuen Liberalisierungsschub lediglich die Möglichkeit sieht, "dass die WTO als eine Maschine für die Globalisierung zerstört wird", reagiert Martin Khor, Leiter des Third World Network, sehr viel diplomatischer auf die Frage, ob das Ziel sei, die WTO in Hongkong aus der Spur zu bringen: "Was meinen wir denn mit Entgleisen? Die Entwicklungsländer brauchen ein gutes multilaterales Handelssystem, um sich zu schützen." Nicht gerade eine gemeinsame Linie für eine gemeinsame Kampagne gegen die WTO.

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sopos 2/2006