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Seid umschlungen, Millionen

Die indische Frauenbewegung zwischen Lobbypolitik und Identitätskonflikten

von Urvashi Butalia

Seit einiger Zeit führen vornehmlich männliche Politiker eine heftige Debatte um eine Frauenquote von 33 Prozent im indischen Parlament. Frauengruppen haben diese Forderung schon seit langer Zeit mit breiter Unterstützung durch weibliche Abgeordnete erhoben. Theoretisch kann sich dieser Forderung in einem Land, das sich damit rühmt, die "größte Demokratie" der Welt zu sein, in dem eine starke Frauenbewegung existiert und Frauen gesellschaftliche Führungspositionen innehaben, niemand entgegenstellen. In der Praxis aber versuchen männliche Politiker die Quoteninitiative zu verhindern. Sie wenden ein, daß Frauen nicht auf Führungsposten vorbereitet seien oder prognostizieren, daß mächtige Männer ihre Ehefrauen, Schwestern oder Töchter ins Parlament hieven würden. Einige benennen ihre Vorbehalte auch direkter: Diese Forderungen würden von FeministInnen gestellt, seien stark von westlichem Gedankengut beeinflußt und weit von der indischen Realität entfernt.

Daß es sich bei diesen Einwänden nur um Ausreden handelt, zeigen die Erfahrungen mit dem Verfassungszusatz von 1992. In ihm wurde festgeschrieben, daß ein Drittel der Gremiensitze auf Gemeinde- und Dorfebene Frauen vorbehalten wird. Unter der rund einer Million ländlicher Frauen, die durch dieses Gesetz auf lokaler Ebene in Machtpositionen gelangten, befanden sich ebenso Angehörige von Politikern, die nur als Marionetten agierten, wie Frauen, die selbstständig für ihre politischen Vorstellungen eintraten. Insgesamt aber bleibt festzustellen, daß sie weniger korruptionsanfällig sind als ihre männlichen Kollegen.

Politische Macht ist nur eines der Themen, die für die heutige indische Frauenbewegung von Bedeutung sind. Seit ihren Anfängen in den späten 1960er Jahren hat sie sich zu einer vielschichtigen und dynamischen Bewegung entwickelt, die Bündnisse mit anderen Kampagnen eingegangen ist, ohne dabei die eigene Richtung und Identität zu verlieren. Viele der Aktivistinnen kommen aus dem breiten linken Spektrum oder aus Bürgerrechtsbewegungen, in die sie Fragen des Patriarchats und männlicher Übermacht einbrachten. Sie verknüpften ihre feministischen Forderungen mit allgemeinen politischen Problemen wie der Landfrage, ArbeiterInnenrechten, Gewerkschaften, Hausarbeit und anderen.

Gegen Gewalt, für Gleichheit

Ausschlaggebend für die heutige Gestalt der Bewegung waren vor allem die 1970er Jahre. In dieser Zeit wurden zum ersten Mal Themen als spezifische "Frauenthemen" betrachtet - auch wenn diese Sicht sich mittlerweile wieder geändert hat. Eines der ersten dieser Themen war die öffentliche Debatte um Vergewaltigungen. Vor allem der Fall von Rameeza Bee, einer Frau aus der armen Bevölkerungsschicht von Hyderabad, die auf einer Polizeiwache vergewaltigt und deren Mann bald darauf ermordet wurde, war Auftakt für eine landesweite Kampagne, an der sich viele tausend Menschen beteiligten. Die Proteste gingen so weit, daß in Hyderabad der Ausnahmezustand verhängt werden mußte. Ein Brief von vier bekannten Rechtsanwälten, die gegen den Freispruch von zwei Polizisten in einem anderen Vergewaltigungsfall protestierten, wurde zur Grundlage der landesweiten Kampagne gegen Vergewaltigung, die schließlich weitreichende Gesetzesänderungen erreichte.

Ungefähr zur gleichen Zeit lancierten Aktivistinnen eine Kampagne gegen Mitgift[1]. Wie im Fall der Vergewaltigungen schlossen sich, je mehr Fälle zu Tage kamen, immer mehr Gruppen der Bewegung an. Sie nahm ihren Ausgangspunkt in den großen Städten, vor allem in Delhi, und griff dann rasch aufs ganze Land über. Auch die Protestformen weiteten sich aus: Zunächst begann die Kampagne mit Plakaten, Straßentheater und Protestsongs, dann kamen Rechtshilfe, Beratungszentren, Notunterkünfte und Lobbyarbeit für Gesetzesänderungen dazu. Die Medien übermittelten öffentliche Versprechen, keine Mitgift zu geben oder anzunehmen. Es sah so aus, als erzielte die Frauenbewegung nachhaltige Erfolge.

Anhand dieser beiden großen Kampagnen wird oft behauptet, daß die indische Frauenbewegung auf die Städte und die Mittelschichten beschränkt gewesen sei. Zur gleichen Zeit aber bewahrten Frauen in den nördlichen Bergregionen Indiens Bäume vor dem Abholzen. Diese sogenannte Chipko-Bewegung ging vom Land aus und führte zur Verbreitung von Umweltbewußtsein in den Städten. Ebenso begannen in verschiedenen Teilen des Landes Gruppen gegen Zwangsinstrumente bei der Familienplanung und die Bewerbung von invasiven Verhütungsmethoden zu protestieren und sich für bessere Gesundheitsversorgung von Frauen und Frauenrechte auf Ernährung und Hygiene einzusetzen.

Im Lauf der Jahre hat sich die Frauenbewegung in Indien so ausdifferenziert, daß unklar ist, ob man von einer einheitlichen Bewegung sprechen kann. Obwohl sie sicherlich aus einer Vielzahl kleiner, oft auf spezifische Fragen ausgerichtete Bewegungen besteht, gibt es aber einige Themen, die Frauen bundesweit mobilisieren.

Die 1970er und 80er Jahre waren eine Zeit enormer Aktivität und großer Sichtbarkeit von Bewegungen im ganzen Land. Fast jeden Tag fanden Demonstrationen, Proteste, Treffen und Straßentheater statt. Die Euphorie der Bewegung, das Gefühl, daß Veränderungen nicht nur nötig, sondern auch möglich waren, steckte viele Frauen an. Zu dieser Zeit hatte Indien sich der Globalisierung und dem ausländischen Kapital noch nicht geöffnet. Gesetzesänderungen zum Beispiel waren möglich, weil der Staat Bereitschaft zeigte, Frauengruppen in die Diskussion über die Gesetzgebung einzubinden. Mitte der 70er Jahre legte die von der Regierung eingesetzte Kommission über die Stellung der Frauen eine bahnbrechende Studie mit dem Titel "Towards Equality" vor. Dieser 1974 veröffentlichte Bericht rüttelte die Gesellschaft auf, da er offen legte, daß sich die Situation der Frauen in vielen gesellschaftlichen Bereichen in den vorigen Jahrzehnten verschlechtert hatte. Er wurde zu einem gewichtigen Instrument für die Lobbyarbeit.

Ernüchterung nach der Euphorie

Doch auch wenn die Bewegung weiter wuchs, änderten sich die Bedingungen. In den späten 1980ern zeigte sich, daß die Gewalt gegen Frauen nicht abnahm. Die Euphorie über die erreichten Gesetzesänderungen verflog. Im nordindischen Rajasthan verdeutlichte eine Witwenverbrennung[2], daß Staatsvertreter, wie beispielsweise Polizisten, Mittäter bei der Unterdrückung von Frauen waren.

Hinzu kam der Fall Shahbano, der die Frauenbewegung vor viele neue Herausforderungen stellte. Er begann wie viele alltägliche Verstöße gegen Frauenrechte weltweit: Die über siebzigjährige muslimische Frau Shahbano wurde von ihrem Ehemann, einem Rechtsanwalt, geschieden. Nachdem dieser widerrechtlich die gesetzlichen Unterhaltszahlungen einstellte, klagte Shahbano bei einem Gericht den Unterhalt ein und erhielt eine sehr geringfügige Summe zugestanden. Dieser Fall hätte weiter kaum Bedeutung gehabt, wenn nicht der Vorsitzende Richter des Obersten indischen Gerichtshof in seiner Urteilsverkündung das muslimische Recht kritisiert hätte und muslimische Bürger daran Anstoß genommen hätten. Selbsternannte Repräsentanten der muslimischen Gemeinden vertraten die Ansicht, daß die Gerichte sich nicht in ihre Bräuche und ihren Glauben einmischen dürften. Eine breite Protestwelle rollte über das Land. Die Kontroverse wuchs sich zu einem Streit um die Stellung der Minderheiten in Indien aus. Die Forderungen der Muslime auf der einen und der konservativen Hindus auf der anderen Seite schaukelten sich immer weiter hoch. Die Regierung, die von den Stimmen beider Gruppen abhängig war, konnte es sich nicht leisten, eine der beiden zu verprellen. Und so war es schließlich die alte Frau, deren Interessen - außer von einigen Frauengruppen - mißachtet wurden und in Vergessenheit gerieten.

Mit dem Fall Shahbano gerieten Identitätskonflikte in den Mittelpunkt indischer Politik. Auch Frauengruppen, die ihre Arbeit bislang ausschließlich auf Frauenrechte konzentriert hatten, wurden in diese Konflikte hineingezogen: So begannen Feministinnen, denen man immer ihre "Westlichkeit" vorgeworfen hatte, verschleierte oder die Burka tragende Musliminnen in vorderster Reihe auf Demonstrationen zu plazieren, um ihre "Authentizität" zu beweisen, obwohl sie diese immer kritisiert hatten. Auf einmal spielte die Selbstdefinition als Hindu, Muslimin oder Christin eine Rolle in der Bewegung und polarisierte sie.

Der Aufstieg der religiösen Fundamentalismen im Indien der 1990er Jahre wurde zur größten Herausforderung für die Frauenbewegung. Fundamentalistische Hindus und Muslime erstarkten. Die Konflikte begannen 1992 in der Zerstörung der dreihundert Jahre alten Moschee in Ayodhya durch hinduistische Horden die behaupteten, die Moschee sei an der Geburtsstätte des Gottes Ram erbaut worden. Frauengruppen mußten in dieser Zeit und während der Welle von Gewalt, die im Anschluß über das Land rollte, zum ersten Mal realisieren, daß sich auch Frauen an Gewalt und Zerstörung beteiligten. Die Zerstörung der Moschee war von Sadhvi Rithambara angestachelt worden, die dem rechten Flügel der Hindus angehörte.

Differenzen auf dem Vormarsch

Im Jahr 2002 kam es im westindischen Staat Gujarat, wo die inzwischen regierende hindufundamentalistische BJP Pogrome gegen die muslimische Bevölkerung organisierte, zu einem neuen Höhepunkt der Gewalt gegen Frauen. Massenvergewaltigungen fanden statt und tausende Häuser und Unterkünfte wurden zerstört. In diesen zehn Jahren zwischen der Zerstörung der Moschee und den Pogromen in Gujarat waren Frauen zu einem aktiven Part innerhalb der Rechten geworden. Frauengruppen, die bislang davon ausgegangen waren, daß es Gemeinsamkeiten zwischen Frauen gäbe, die über alle Unterschiede hinweg bestünden, stellten auf einmal fest, daß Kasten-, Klassen- und Religionszugehörigkeit zu bestimmenden Momenten werden und soweit gehen konnten, Interessen von Frauen dafür zu vernachlässigen und das Patriarchat zu unterstützen. Das Neue war, daß diese Frauen die Sprache der Bewegung sprachen und von dieser lernten, zugleich aber ihre Grundlagen ablehnten.

Die Frauengruppen mußten daher lang gehegte Annahmen wie die grundsätzliche Solidarität zwischen Frauen und die rückhaltlose Befürwortung weiblicher Aktivitäten hinterfragen und Differenzen zwischen Frauen anerkennen. Dieser Prozeß hält bis heute an: Er betrifft ebenso das Problem, religiöse Minderheiten innerhalb der Frauenbewegung zu marginalisieren, wie sexuelle Minderheiten zu ignorieren. Darüber hinaus gehen Frauengruppen sehr unterschiedlich mit dem Vorwurf um, eine rein städtische Mittelschichtsbewegung zu sein: Einige versuchen, ihre "authentische" Klassen- und Kulturzugehörigkeit zu unterstreichen. Andere vertreten, daß es darauf ankomme, sich mit den Problemen von Frauen zu befassen und es keine Bedeutung habe, von welchem Sprechort aus dies geschehe.

Die größte Herausforderung für die Frauenbewegung stellte der Dalit-Feminismus dar: Obwohl die Dalits immer eine straff organisierte, in der indischen Öffentlichkeit sehr präsente Gruppe waren, hatte die Frauenbewegung Probleme, Solidarität mit ihnen zu entwickeln. Erst die Forderungen der Dalit-Feministinnen führten in der Frauenbewegung zu Selbstkritik. Ein herausragendes Charakteristikum der indischen (Frauen)-Bewegungen ist, daß sie sich neuen Diskussionen und Ansätzen immer wieder öffnet. Dabei bestand aber immer ein prekäres Gleichgewicht, einerseits Bewegungen wie die der Dalits zu unterstützen und zugleich die patriarchalen Strukturen in ihnen zu kritisieren. Dalit-Frauen verfügen heute über eigene Organisationen wie die National Federation of Dalits Women's Organisation, aber sie sind gleichzeitig auch Teil der Gesamt(frauen)bewegung.

Auch das Engagement der Frauenbewegung in politischen Konflikten wie in Kaschmir und dem Nordosten Indiens stellt eine neue Entwicklung dar. Zunächst hatten Frauen in den dortigen Sezessionsbewegungen ihre Männer unterstützt. Mittlerweile arbeiten sie eigenständig zu den Auswirkungen der Gewalt auf die Situation von Frauen. Zugleich ist die Bewegung nicht auf Indien beschränkt geblieben. Themen wie Menschenhandel, Prostitution und Migration betreffen auch die Nachbarländer Pakistan, Sri Lanka, Bangladesh, Nepal und Bhutan. Grenzüberschreitend arbeiten Frauengruppen zu Gewalt gegen politisch aktive Frauen, engagieren sich in den Bemühungen um Frieden zwischen Pakistan und Indien und vertreten die Notwendigkeit solidarischer Organisation über die südasiatischen Grenzen hinweg.

Die dynamischste der Welt

Die indische Frauenbewegung ist kein Abklatsch westlicher Bewegungen. Aktivistinnen aus anderen Ländern beklagen häufig, wie rückständig Indien sei und wie schwierig es sein müsse, hier eine Bewegung zu organisieren, oder sie führen die Entstehung der Frauenbewegung auf externe Faktoren wie die UN-Frauendekade zurück. Solche Annahmen gehen jedoch an den indischen Realitäten vorbei. Sie ignorieren darüber hinaus, daß politische Bewegungen nicht entstehen, weil irgend jemand irgendwo im reicheren Teil der Welt verkündet, daß sie zu entstehen hätten.

Die indische Frauenbewegung ist vielleicht die dynamischste in der ganzen Welt. Von einer aus den täglichen Realitäten hervorgegangenen Straßenbewegung entwickelte sie sich zu einer stärker institutionalisierten Bewegung. Dies beruht auf den Organisationserfordernissen der Basis, der Notwendigkeit der Geldbeschaffung und der wachsenden Bedeutung der NGOs. Die Erfolge der Bewegung sind schwer zu bemessen, da die Situation in den einzelnen Bundesstaaten stark divergiert. Gerade die große Heterogenität der indischen Frauenbewegung macht sie jedoch heute zur einzigen Kraft, der es gelingt, eine so große Bandbreite von Problemen wie Klasse, Kaste, Religion und Ethnizität aufzugreifen und dabei Aspekte wie Empowerment, Handlungsfähigkeit, Opferrollen, Staat und Autonomie einzubeziehen.

Anmerkungen der Redaktion (iz3w):

[1] Bei einer Heirat müssen Frauen umfangreiche "Geschenke" an den Bräutigam, dessen Eltern und manchmal weitere Familienmitglieder leisten. Die Kosten dieser Mitgift übersteigen oft das Jahreseinkommen der Brautfamilie. Folge davon sind Repressalien vieler Familien gegen ihre Töchter (z.B. massive Ausbeutung). Druck wird aber auch von Seiten der Ehemänner ausgeübt, die ihre Frauen nach der Heirat oft zu weiteren Zahlungen anhalten. Bleiben diese aus, kommt es häufig zu so genannten Mitgiftmorden - jährlich mehr als 5.000. Ein weiter Effekt ist, daß weibliche Föten nicht selten gezielt abgetrieben werden, um spätere Mitgiftzahlungen zu vermeiden (Femizid). Die Mitgift ist in Indien zwar wegen dieser Folgen gesetzlich verboten, die Praxis besteht jedoch weiterhin fort.

[2] In der hinduistischen Tradition galt die Selbstverbrennung von Witwen beim Begräbnis ihres Mannes (Sati) als tugendhaft. Der Frau wurde unabhängig von ihrem Mann keine eigene soziale Existenz zuerkannt. Frauen höherer Kasten, die nicht verbrannt wurden, mußten asketisch leben und wurden sozial geächtet. Bereits seit 1829 sind Witwenverbrennungen formell verboten. Dennoch kommen sie bis heute vor.

Urvashi Butalia ist Verlegerin und Schriftstellerin in Delhi. Sie ist Mitgründerin von Kali For Women, Indiens erstem feministischen Verlagshaus, und Direktorin von Zubaan, ebenfalls ein Frauenverlag. Momentan arbeitet sie an einem Buch zu Sexualität und Identität. Übersetzung: Lotte Arndt
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 288.

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sopos 10/2005