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Das Subjekt im Marxismus – Berührungen zwischen kritischer Theorie und Sartres Existentialismus

Zum 100. Geburtstag von Jean-Paul Sartre

von Sven Oliveira Cavalcanti (sopos)

 

"Was sich nie und nirgends hat begeben,
Das allein veraltet nie!"

Friedrich Schiller

 

 

 

Mit geducktem Körper in schwarzer Kleidung durch die Wüste gehend: Dieses Bild von Jean-Paul Sartre ging als Gleichnis des Intellektuellen um die Welt: in Einsamkeit denkend, die Last der Ungerechtigkeit der Welt auf den Schultern.

Das Bild des kleinen Mannes mit der dicken Brille, dem häßlichen Gesicht und der knarrenden Stimme ist unabdingbar mit einer ganzen Epoche des vergangenen Jahrhunderts verknüpft. Vom Ende der deutschen Besatzung bis zur den Nachwehen der 68'er Bewegung hat kein anderer Mensch das Bild des engagierten Intellektuellen stärker geprägt als Jean-Paul Sartre. Am 21. Juni 2005 wäre er 100 Jahre alt geworden.

Sartres Aktualität erneuert sich weit ebenso durch sein unbeirrbares Engagement für die Freiheit – in seiner vierjährigen Wirkungsgeschichte manchmal mehr über das, was er für Freiheit hielt, denn das was sie war – wie über die Doppelstrategie der Vermittlung seiner Philosophie. Er sprach zwei Sprachen – zweimal französisch – das eine für das philosophische Denken, das Andere zur Vermittlung in Theaterstücken, Romanen, Essays und Aufsätzen für den abstrakten Jedermann. Stets folgte dem tiefen philosophischen Denken die offene Sprache, nicht die verborgene, obwohl er sie schätzte, doch Sartres Feuer bestand in seinen Interventionen. Das Knacken des Knochens der Vernunft bringt den Kantianer Sartre in die Nähe Hegels: Was steht bei nicht Hegel, um widerlegt zu werden?

Das Manko des frühen Heideggerianers haftet ihm bis heute an: Zu wenig ist verstanden, wo Sartre Heidegger laß und welche Bedeutung ihm daraus erwuchs: Gefangen im deutschen Lager, schmuggelte ein Priester „Sein und Zeit“ in die Baracken aus dem ein goldener Satz Sartres Philosophie erhellen sollte: „Das Sein geht dem Wesen voraus“. Dieses bißchen an Philosophie oppositionierte Sartres Denken im Lager gegen seine Epoche: Der Einzelne, das Subjekt zählt mehr als der Glaube an die große Sache. Während Heidegger auf seine braunen Füße fiel, stand Sartre auf den roten. Ans Stammhaus der politischen Ökonomie gebunden, suchte er nach Verbindungen: Den lebendigen Gehalt Marxens mit dem elaboriertesten, was die Philosophie zu bieten hatte, dem deutschen Idealismus, zusammenzubringen: Die Dialektik von Subjekt und Objekt in die Gegenwart zu übertragen.

Ungefähr vier Jahre nach seinem Bruch mit der KPF mündeten Sartres theoretische Bemühungen in der Einnahme eines eigenen Standpunktes zum Marxismus, ausgedrückt in seinem zweiten Hauptwerk, der „Kritik der dialektischen Vernunft“. Bereits 1957 wurde sein Text „Marxismus und Existentialismus“ in „Les Temps Modernes“ und in der polnischen Zeitschrift Twórczosc veröffentlicht, in der französischen Ausgabe der „Kritik der dialektischen Vernunft“ war der Aufsatz als Einleitung vorangestellt.

Ähnlich wie die kritische Theorie insistierte auch Sartre auf einem „Zeitkern der Wahrheit“ (Horkheimer). Der Geltungsanspruch seiner Philosophie war ihm ein zeitlich gebundener: “Philosophie bleibt […] nur so lange wirksam, wie die Praxis, der sie entstammt, vorhanden ist und sie trägt und erhellt. Sie wandelt sich jedoch, sie verliert ihre Einzigartigkeit, sie entäußert sich ihres ursprünglichen und epochemachenden Gehalts in dem Maße, in dem sie nach und nach die Massen durchdringt, um in ihnen und durch sie ein allgemeines Emanzipationsmittel zu werden”[1] Konkret bezog Sartre dies auf die Hegelsche Philosophie, die für ihn in der Marxschen seine Aufhebung erfuhr. Philosophie, so Sartre, sei an den sie produzierenden kollektiven Akteur gebunden: „Eine Philosophie tritt nämlich, wenn sie in voller Wirklichkeit steht, niemals als träge, unveränderliche Sache, als passive und bereits vollendete Einheit des Wissens auf; aus der gesellschaftlichen Bewegung hervorgegangen, ist sie Antrieb für sich selbst und frißt sich in die Zukunft hinein [Herv. v. m., S.O.C.]; denn diese konkrete Totalisierung ist zugleich abstrakter Entwurf für den Vollzug absolut endgültiger Vereinigung; demgemäß ist die Philosophie als Untersuchungs- und Erklärungsmethode zu bestimmen; das Vertrauen, das sie in sich selbst und ihre künftige Entwicklung setzt, spiegelt nur die Überzeugung der sie tragenden Klasse wieder.”[2] Damit besitze die Wahrheit ein Art Trägerschicht, in der konkreten Geschichte sei dies die Klasse. Doch Philosophie sei nicht gleichzeitig Kritik. Die kritische Philosophie entstamme einer Situation der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung, denn „die unmittelbare Reaktion der Unterdrückten auf die Unterdrückung ist die Kritik.”[3]

Hegel, so Sartre, verkörpere die höchste Dignität des Wissens. In der hegelschen Philosophie steige der Geist stetig auf, er objektiviere, entfremde und gewinne sich unaufhörlich zurück. Doch je höher die hegelsche Objektivierung des Geistes voranschreite, desto weiter entferne sie sich vom tatsächlichen, realen Leben der Subjekte.

Sartre insistierte hier – genau wie Marcuse – auf das wahre Moment Kierkegaards für den „Schmerz, das Bedürfnis, die Leidenschaft, die menschliche Mühsal durch Erkenntnis weder überschreitbare noch abwandelbare Realitäten“[4] waren. Auch die Aufhebung Kierkegaards sah Sartre in der kritischen Theorie Marxens verwirklicht, die die objektiven Bedingungen im Subjekt widerspiegelte. “Folglich hat Marx zugleich Kierkegaard und Hegel gegenüber recht, weil er mit ersterem die Spezifität der menschlichen Existenz behauptet und mit letzterem die konkreten Menschen in seiner objektiven Realität erfaßt.”[5]

Doch vor allem ging es Sartre – genauso wie der kritischen Theorie – darum den Marxismus als lebendige Theorie zu bewahren. Das bedeutete zwangsläufig, ihn dem orthodoxen Marxismus-Leninismus und seiner stalinschen Transformation zu entreißen. Ein Projekt, mit dem Sartre keinesfalls allein war. In Deutschland war das ganze Projekt des Institutes für Sozialforschung, das unter Grünberg ursprünglich „Institut für Marxismus“ geheißen hatte und einer siegreichen Arbeiterrevolution übergeben werden sollte, als eine Revision des Marxismus angelegt, wobei diese Revision gerade die kritischen Momente Marxens herausarbeiten wollte. Die daraus resultierende „Kritische Theorie“ stand genauso wie die des späten Bloch im Zeichen des Unterfangens, den Marxismus als lebendige, die Gegenwart erklärende und verändernde Theorie zu begreifen und zu modifizieren.

Eben gegen jenen offiziellen Parteimarxismus der UdSSR zog Sartre in der französischen Form der Revision, dem Existentialismus zu Felde. Sowohl die Kritische Theorie, als auch Sartres Existentialismus nach 1956, sahen sich einem Marxismus verpflichtet, in dem die Befreiung und der Glücksanspruch des Subjekts das zentrale Telos waren. Konkret warf Sartre dem Parteimarxismus „östlicher“ Prägung vor: Die „Trennung von Theorie und Praxis führte zu einer Umformung der Praxis in einen prinzipienlosen Empirismus und einer Umwandlung der Theorie in ein reines und starres Wissen. Andererseits wurde die – von einer für ihre eigenen Irrtümer blinden Bürokratie – durchgeführte Planwirtschaft eben dadurch zu einer die Realität vergewaltigenden Willkür , und weil man die zukünftige Produktion einer Nation in Büros – oftmals außerhalb ihres Hoheitsgebietes – festlegte, hatte diese Gewalt einen absoluten Idealismus zum Komplement: man unterwarf a priori Menschen und Dinge den Ideen; widersprach die Erfahrung dann den Voraussetzungen, so konnte sie nur Unrecht haben. Die Budapester Untergrundbahn war in der Vorstellung von Rakosi bereits verwirklicht; wenn die Bodenbeschaffenheit von Budapest nicht erlaubte, sie zu bauen, dann war eben der Boden konterrevolutionär.”[6]

Der Marxismus verkam im Osten, so Sartre, zur blanken Legitimationsideologie. Die offenen Begriffe wurden zu geschlossenen Phrasen, die nichts mehr erklärten, sondern nur noch der Aufrechterhaltung des status quo dienten: “Sie sind nicht länger Schlüssel, Interpretationsschemata: sie geben sich selbst den Anschein eines schon totalisierten Wissens. Der Marxismus erhebt, um mit Kant zu sprechen, diese singularisierten und fetischisierten Begriffe zu konstitutiven Begriffen der Erfahrung. Der eigentliche Inhalt dieser Typbegriffe besteht stets aus vergangenem Wissen ; der heutige Marxist macht daraus ein ewiges Wissen. Seine einzige Sorge bei der Analyse ist es, diese »Abstraktionen« unterzubringen.”[7] Anders ausgedrückt: Der sowjetische Marxismus bestand nur noch aus Zuordnungsritualen. Die Erfahrung des Besonderen, oder um mit Adorno zu sprechen, das Nicht-Identische wurde liquidiert. In Sartres Worten ausgedrückt: “Die totalisierende Untersuchung ist der Scholastik der Totalität gewichen. Das heuristische Prinzip »das Ganze vermittels der Teile zu suchen« ist zu dem terroristischen Verfahren geworden, »die Besonderheit zu liquidieren«.”[8]

Demgegenüber gelte es einen Marxismus zu stellen, der sich des Subjektes wieder annehme und das subjektive Leben der Einzelnen zum Ausgangspunkt der Theorie mache. Dies sei, so Sartre, der Existentialismus. Seine historische Grenze liege an der Stelle, da der Marxismus zur Theorie des Subjektes zurückkehre.

Auch dieser Gedanke war der Kritischen Theorie nicht fern. Wie sonst sollte das Unterfangen verstanden werden, Marx und Freud zu verbinden? Warum Freud, wenn nicht um die Theorie des Subjekts mit der Marxschen Theorie des Objekts zu verbinden?

Sartre schrieb, der Existentialismus suche den Menschen „wo er geht und steht, bei seiner Arbeit, zu Hause und auf der Straße.”[9] Dabei gehe es keinesfalls darum in einen kantschen Idealismus zurückzufallen. “Man kann auf zwei Arten in den Idealismus geraten: die eine besteht darin, daß man das Wirkliche in der Subjektivität auflöst, die andere besteht darin, daß man alle eigentliche Subjektivität zugunsten der Objektivität leugnet. Die Wahrheit ist aber die, daß die Subjektivität weder alles noch nichts ist; sie bildet nur einen Moment des objektiven Prozesses (der Verinnerlichung der Äußerlichkeit), und zwar ein Moment, das sich unaufhörlich aufhebt, um ebenso unaufhörlich immer wieder ins Spiel zu treten.”[10] Mit anderen Worten: Subjekt und Objekt waren für Sartre, ebenso wie für Marcuse dialektisch in einem historischen Prozeß vermittelt. “Für uns [die Existentialisten, S.O.C.] wird die Wahrheit, ist sie geworden und wird sie geworden sein .”[11]

Doch wo sollte der Existentialismus konkret ansetzen? Was war sein spezifisches Erkenntnismoment? Sartre schrieb: Der Existentialismus „beabsichtigt, ohne den marxistischen Thesen untreu zu werden, diejenigen Vermittlungen zu finden, die es erlauben, das Konkrete in seiner jeweiligen Besonderheit, das Leben, den wirklichen und ausgestandenen Kampf und die Personen aus den allgemeinen Widersprüchen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen hervorgehen zu lassen.”[12] Das bedeutete, daß der sartresche Existentialismus für sich beanspruchte, eine Art marxsche Theorie des Subjekts zu sein. Hierzu führte kein Weg an der Psychoanalyse vorbei. Um zu begreifen, warum die Einzelnen zu dem geworden waren, was sie sind, bedurfte es der Psychoanalyse: „Allein die Psychoanalyse ermöglicht heute ein eingehendes Studium der ersten Versuche, in denen ein Kind noch ganz im Dunkeln tappend – ohne es zu begreifen – die ihm von den Erwachsenen auferlegte gesellschaftliche Rolle spielen sucht; nur die Psychoanalyse kann uns zeigen, wie es an dieser Rolle erstickt, wie es sie abzustreifen versucht oder wie es gänzlich in sie hineinwächst. Und nur sie allein ermöglicht, den ganzen Menschen im Erwachsenen zu finden, d.h., über seine jeweiligen momentanen Bestimmungen hinaus, auch das Gewicht seiner Geschichte. Und es ist völlig abwegig zu glauben, diese Disziplin sei mit dem dialektischen Materialismus unverträglich.”[13] Diese Sätze hätte ebensogut Herbert Marcuse schreiben können. Ihm und Sartre ging es darum, die Schnittstellen zwischen Individuum und Gesellschaft zu verstehen, um sie der Veränderung zugänglich zu machen.

An diesem Relais zwischen Subjekt und Objekt, am Moment der gesellschaftlichen Vermittlung plazierten sich sowohl die kritische Theorie Marcuses, wie die existentialistische Sartres. Sowohl Sartres „Marxismus und Existentialismus“, bzw. die „Kritik der dialektischen Vernunft“ wie Marcuses „Eros and Civilisation“ und „Der eindimensionale Mensch“ suchten nach einer Erweiterung des Marxismus im Verstehen um das menschliche Geworden-Sein. Sartre argumentierte: “Die Marxisten von heute kümmern sich nur um die Erwachsenen: wenn man sie liest könnte man glauben, wir kämen an dem Tag zur Welt, an dem wir unser erstes eigenes Geld verdienen; sie haben ihre eigene Kindheit vergessen, und alles geschieht bei ihnen, als verspürten die Menschen ihre Selbstentfremdung und Versachlichung erstmalig bei ihrer eigentlichen Berufsarbeit , während sie doch jeder schon als Kind in der Arbeit seiner Eltern erlebt. [...] Der Existentialismus glaubt dagegen, diese Methode einbeziehen zu können, weil sie den Ansatzpunkt des Menschen in seiner Klasse, d.h. die jeweilige Einzelfamilie als Vermittlung zwischen der allgemeinen Klasse und dem Individuum entdeckt hat: die Familie wird wirklich im und durch den allgemeinen Geschichtsablauf konstituiert und doch als ein Absolutes in der Tiefe und Undurchschaubarkeit der Kindheit erlebt”[14]

Der Existentialismus sollte die Lücke schließen, die der offizielle Marxismus zwischen Subjekt und Objekt hinterlassen hatte, da er dazu tendierte die Subjektivität in einem solchen Maß unter die objektiven Verhältnisse zu subsumieren, daß der Einzelne kaum noch von Belang war. Sicherlich war dieses starke Hervorheben der Subjektivität gegenüber dem Marxismus in vielen Momenten der Epoche geschuldet: Der Marxismus vor der 68er Bewegung war starr geworden und viele Marxisten empfanden wie Sartre. Auch andere insistierten auf eine andere Marxrezeption: Verschiedentlich versuchten Theoretiker und Theoretikerinnen dem Marxismus das Subjekt im Sinne des Einzelnen wieder abzuringen. Bloch fragte beispielsweise, in welchen Bereichen die UdSSR den Marxismus nicht nur zur Unkenntlichkeit, sondern eben zur Kenntlichkeit gebracht habe. Die vielerorts versuchte Verbindung Freuds mit Marx stellte einen ähnlichen Versuch dar.

Sartre formulierte die Problemstellung des Existentialismus so: Der Existentialismus „lehnt es ab, das wirkliche Leben den unausdenkbaren Zufällen der Geburt zu überlassen, um über eine Allgemeinheit nachzudenken, die darauf beschränkt ist, sich unendlichfach in sich selbst widerzuspiegeln. Er beabsichtigt, ohne den marxistischen Thesen untreu zu werden, diejenigen Vermittlungen zu finden, die es erlauben, das Konkrete in seiner jeweiligen Besonderheit, das Leben, den wirklichen und ausgestandenen Kampf und die Personen aus den allgemeinen Widersprüchen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen hervorgehen zu lassen.”[15] Der gegenwärtige Marxismus, so Sartre, “gliedert ein, aber er entdeckt sonst weiter nichts [...]”[16]

Die Ähnlichkeiten zu Marcuse waren erstaunlich: Sartre und Marcuse gingen beide den Weg vom Heideggerschüler zum Marxisten und beide kamen – unabhängig voneinander – an den Punkt der Erweiterung des Marxismus durch die Psychoanalyse. Man könnte sagen, daß bei beiden ihr heideggersches Erbe Früchte trug. Wenn es stimmte, daß der Existentialismus Heideggers von „Sein und Zeit“ dem Individuum „zu Hilfe eilte“, dann fanden sich beide in derselben Funktion, diesmal gegenüber dem Marxismus, wieder. Auch hier drohte der praktische Marxismus Moskaus das Individuum zu erdrücken und zur bloßen Manövriermasse zu degradieren, wogegen Sartre wie Marcuse ihm zu Hilfe eilten und die Subjektivität des Einzelnen adäquat verorten wollten. Sie wollten den Einzelnen gerade nicht als Zuordnungsritual begriffen wissen, es ging darum, „dem Menschen innerhalb des Marxismus wieder seinen Platz zurückzuerobern.”[17]

Beide suchten danach die Frage zu beantworten wie der Mensch zu dem, was er geworden war, wurde. Man könnte auch sagen, daß beide am Punkt der Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt mit ihren Theorien ansetzten. „Diese verschiedenen Realitäten deren Sein dem Nichtsein der Menschheit direkt proportional ist, stehen zueinander dank der Vermittlungen [Herv. v. m., S.O.C.] durch menschliche Beziehungen und zu uns in manigfaltigen Verhältnissen, die an sich untersucht werden können und müssen. Geprägt von seiner Arbeit und den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen, existiert der Mensch als Produkt seines Produktes zugleich in Mitten seiner Produkte und bildet die Substanz der ihn zersetzenden <Kollektive>; auf jeder Lebensebene erfolgt ein Kurzschluß, eine horizontale Erfahrung, die dazu beiträgt, ihn auf der Grundlage seiner materiellen Ausgangsbedingungen zu ändern: das Kind erlebt nicht nur seine Familie, es erlebt auch – teilweise durch sie, teilweise selbständig - die kollektive Umwelt; und es ist wiederum die Allgemeinheit seiner Klasse, die sich ihm in dieser besonderen Erfahrung enthüllt.”[18]

Die Grenzen dieser Theorie der Vermittlung bestanden für Sartre darin, weder in Objektivismus, d.h. ein völlig determiniertes Individuum vorauszusetzen, noch in Subjektivismus, im Sinne des jederzeit mündigen sich seiner selbst und die Welt verstehenden Subjekts auszugehen, zu enden. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt stellte sich für Sartre als dialektisches dar: „gewiß ist das Individuum durch das gesellschaftliche Milieu bedingt, und gewiß wendet es sich darauf zurück, um es seinerseits zu bedingen; das – und nichts anderes – macht ja gerade seine Realität aus.”[19] Doch die Realität sei eine, die nicht ständig bewußt sei und die die hintergründige, verborgene Geschichte der Produktionszusammenhänge ausblenden konnte: “Die Realität des Marktes, wie unerbittlich auch immer seine Gesetze sein mögen, beruht samt allen Einzelheiten seiner konkreten Erscheinung auf der Realität selbstentfremdeter Individuen und auf deren Trennung.”[20]

Auch in dieser Frage waren sich Marcuse und Sartre einig, doch dieses Mal war es Marcuse, der mit dem Zugeständnis der „rebellischen Subjektivität“ vom präformierten Subjekt - zumindest teilweise - abrückte. Für Sartre war die Vorstellung eines gänzlich präformierten Subjektes sowieso unannehmbar, da mit einem solchen keine historische Veränderung möglich gewesen wäre. Dennoch gab es auch für ihn das Moment der gesellschaftlichen Verselbstständigung: “Der Mensch macht also seine Geschichte, daß besagt, er objektiviert und entfremdet sich darin; in diesem Sinne erscheint die Geschichte, die das reine Werk der Gesamt tätigkeit aller Menschen ist, ihnen als fremde Macht, und zwar in dem Maße, in dem sie den Sinn ihrer (selbst örtlich glücklich verlaufenen) Unternehmungen im gegenständlichen Gesamtergebnis nicht wiedererkennen.”[21] In gewisser Weise befand sich Sartre mit dieser These in größter Nähe zur Position Adornos und Horkheimers aus der „Dialektik der Aufklärung“. Auch dort suchten die Menschen zur Besiegung der Angst nach Systemen, die in letzter Konsequenz noch mehr Angst produzierten und nicht mehr kontrollierbar waren.

Die Grenze der Entfremdung lag für Sartre in der Möglichkeit auf eine veränderte Geschichte, die sich auf eine andere Zukunft hin entwarf. Sartre zufolge stecke in jeder Handlung, jeder Tat gleichzeitig ein Entwurf auf den hin das Individuum sich totalisiere. „Selbst das rudimentärste Verhalten muß sich zugleich mit Bezug auf reale, vorliegende Faktoren, die es bedingen, und mit Bezug auf ein bestimmtes zukünftiges Objekt, das es entstehen zu lassen sucht, bestimmen. Das aber nennen wir Entwurf .”[22] Die Kategorie des Entwurfs – auch eine Analogie zu „Das Sein und das Nichts“ – lag für Sartre direkt in der Dialektik der Zeit begründet. Dialektik selbst falle in sich zusammen, so Sartre, wenn „die Zeit nicht dialektisch ist, d.h. wenn man so etwas wie ein Wirken der Zukunft als solcher ablehnt.”[23]

Von diesem theoretischen Ausgangspunkt ausgehend, sei der Mensch grundsätzlich als Negation bestimmt. Darunter verstand er das „Insgesamt des Möglichen“ des Individuums, „das ihm verschlossen bleibt“ – genau jenes Moment, an dem die Kritik an der Situation der bestehenden Gesellschaft beginne: “Für die benachteiligten Klassen stellt jeder kulturelle, technische und materielle Aufschwung der Gesellschaft eine Minderung, eine Verarmung dar; die Zukunft ist beinahe gänzlich verriegelt. So werden die sozialen Möglichkeiten, positiv oder negativ, als Determinationsschema der persönlichen Zukunft erlebt. Und selbst das höchstindividuell Mögliche ist nur die Verinnerlichung und Ausgestaltung eines gesellschaftlich Möglichen.”[24]

Man könnte sagen, daß Sartre von zwei Subjekten ausging: Ein onthologisches Subjekt, daß als Träger von Wahrheit auftrat und in dem qua des Menschseins, also über die Vernunft, sämtliche Potentiale angelegt waren, die es zu einem wirklich freien Subjekt hätten machen können und ein real existierendes, gesellschaftliches Subjekt, das den Verhältnissen entfremdet gegenüberstand – ebenfalls eine Gemeinsamkeit zu Marcuse.

Durch diese Konzeption des Subjekt zwischen Möglichem und Versperrtem bekam seine Dialektik von Subjekt und Objekt ihren Sinn: „Man müßte dazu [zur Beschreibung der vollen Dialektik von Subjektivem und Objektivem, S.O.C.] die notwenige Verknüpfung der <Verinnerlichung des Äußerlichen> und der <Veräußerung des Innerlichen> aufweisen. Die Praxis ist nämlich ein Übergang des Objektiven zum Objektiven durch Verinnerlichung; der Entwurf, der sich als subjektive Überschreitung der Objektivität auf Objektivität hin zwischen den objektiven Verhältnissen des Milieus und den objektiven des Möglichkeitsbereiches erstreckt, stellt an sich die bewegende Einheit der Subjektivität und Objektivität, dieser Grundmomente der Aktivität, dar . Die Subjektive erscheint mithin als notwendiges Moment des objektiven Geschehens.”[25]

Durch den „Überhang des Objekts“ (Adorno) lief der Mensch für Sartre Gefahr, in eindimensionales Denken zu geraten: „All diese Mauern sind ein einziges Gefängnis , und dieses Gefängnis ist ein einziges Leben, ein einziger Akt : jede Bedeutung ändert sich, formt sich unaufhörlich um, und ihre Umformung strahlt auf den anderen aus. Die Totalisierung muß also die mehrdimensionale Einheit des Aktes entdecken; unsere alten Denkgewohnheiten laufen Gefahr, diese Einheit, die die Bedingungen der wechselseitigen Durchdringung sowie der relativen Autonomie der Bedeutung bildet, ungebührlich zu vereinfachen; [...]”[26] Philosophie, die sich als Theorie totalisiere, müsse, so Sartre, „die Mehrdimensionalität entdecken“ – eine These, die Marcuse sofort unterschrieben hätte. Bei Sartre hieß dies „progressiv-regressive Methode“.

Sartres definierte die theoretische Methode des Existentialismus als ein Zusammentreffen von Materialismus und Idealismus. Materialismus in dem Sinne, daß die bearbeitete Materie eine elementare Vermittlungsinstanz darstelle, idealistisch in dem Maße, da es ein erkennendes Subjekt benötige. Anders ausgedrückt: Vernunft und Geschichte standen bei Sartre in einer dialektischen Beziehung. „Wenn die dialektische Vernunft die Vernunft der Geschichte sein soll, muß dieser Widerspruch selbst dialektisch erlebt werden. Das heißt: der Mensch erleidet die Dialektik, indem er sie schafft, und er schafft sie, indem er sie erleidet. [...] Die Dialektik ist das Totalisierungsgesetz, was bewirkt, daß es Kollektive, Gesellschaften, aber nur eine Geschichte gibt, das heißt Realitäten, die sich dem Individuum aufzwingen. Gleichzeitig muß es aus Millionen Individuen gewoben sein.“[27] Oder an anderer Stelle: „[...] die Vertiefung der individuellen Praxis wird uns zeigen, daß sie das äußere Feld verinnert (indem sie eben durch die Aktion ein praktisches Feld absteckt); umgekehrt jedoch werden wir im Werkzeug und in der Objektivierung durch die Arbeit eine intentionale Entäußerung der Interiorität erkennen.“[28]

Ebenso stehe der Philosoph in diesem Zusammenhang. Sartre schrieb über die Verortung des Wissenschaftlers bzw. des Philosophen – und jeder der Protagonisten der kritischen Theorie hätte das unterschrieben: „Unser Problem ist ein kritisches und zweifellos ist dieses Problem selbst von der Geschichte aufgeworfen worden. Aber es geht eben gerade darum, in der Geschichte und in diesem Augenblick der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften die Instrumente des Denkens, durch die die Geschichte sich denkt, als gleichzeitig praktische Instrumente, durch die sie sich schafft, zu prüfen, zu kritisieren und zu begründen.“[29]

Die Kritische Theorie und der französische Existentialismus waren Kinder ihrer Zeit und Orte. Wären sie bei einer anderen historischen Entwicklung zu solch bedeutenden Theorien aufgestiegen? Hätten sie einen ähnlichen Wirkungskreis erlangt, wenn die russische Revolution nicht gescheitert wäre und sich um jene Freiheit des Subjekts gekümmert hätte, die Sartre und Marcuse so vehement einforderten? Oder wären sie überflüssig gewesen? Sehr weise schrieb Sartre über die historische Schranke des Existentialismus: „Von dem Tage an, da der Marxismus sich der Untersuchung der menschlichen Dimension, d.h. der Untersuchung des existentialistischen Entwurfes zuwendet und die Grundlegung des anthropologischen Wissens aufnehmen wird, hat der Existentialismus keine Existenzberechtigung mehr.” [30]

Sartres Werk weißt theologische Momente auf: Ein Schrei nach Erlösung vom Bösen auf Erden. Er selbst als personifizierte Unruhe eines gegenwärtigen Wachtraums einer besseren Welt, das Segel gehißt bei der Reise auf dem Weg der Utopie.

 

Anmerkungen

[1] Sartre, Jean-Paul: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik, Reinbek bei Hamburg, 1964, S. 8

[2] Ebd.

[3] Ebd., S. 9

[4] Ebd., S. 13

[5] Ebd., S. 15

[6] Ebd., S. 22

[7] Ebd., S. 25

[8] Ebd., S. 26

[9] Ebd.

[10] Ebd., S. 31

[11] Ebd., S. 28

[12] Ebd., S. 49

[13] Ebd., S. 51

[14] Ebd., S. 52f

[15] Ebd., S. 49

[16] Ebd.

[17] Ebd., S. 69

[18] Ebd., S. 66

[19] Ebd., S. 59

[20] Ebd., S. 65

[21] Ebd., S. 73

[22] Ebd., S. 75

[23] Ebd.

[24] Ebd., S. 78

[25] Ebd., S. 79

[26] Ebd., S. 90

[27] Sartre, Jean-Paul: Kritik der dialektischen Vernunft, Reinbek bei Hamburg, 1967, S. 37

[28] Ebd., S. 74

[29] Ebd., S. 42

[30] Sartre, Jean-Paul: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik, a.a.O. , S. 143

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sopos 7/2005