Zur normalen Fassung

Von der Hysterie zur Depression. Über den Wandel psychologischer Krankheiten.

Bemerkungen zu Alain Ehrenbergs "Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart."

von Sven Oliveira Cavalcanti (sopos)

 

Narrenschiff
Hieronymus Bosch:
Das Narrenschiff

Ein altes Bild der Renaissance legt Zeugnis ab von der Entstehung psychischer Dispositive: Das Narrenschiff. Es nimmt im 15.Jahrhundert fahrt auf. Wahr an diesem Bild ist die erzwungene Wanderschaft jener, die aus den Städten gejagt wurden, weil ihr psychischer Zustand nicht dem der Anderen entsprach – tatsächlich existierte eine geisteskranke Fracht, die von einer Stadt zur nächsten transportiert wurde. Abgelöst wurde diese Praxis durch die Errichtung des Narrenturms und später der Irrenanstalten[1], begleitet von der Ausbildung der Normalität und den sie flankierenden Begriffen, die auch jenseits der klinischen Psychiatrie Karriere machten: Wahnsinns und Hysterie.

Die Entstehung der psychoanalytischen Bewegung um die Jahrhundertwende ist an ihrem Anfang untrennbar mit dem Begriff der Hysterie verbunden. Auch ein Teil des Freudschen Werks behandelte in der Welt des untergehenden Wiener Bürgertums nach der Jahrhundertwende die Möglichkeiten der Behandlung und Heilung von Hysterie. Vor allem Frauen litten – weniger als schwarzer Kontinent – denn als reale Subjekte an der disziplinierenden Autorität tradierter Familienstrukturen, deren Wirkmächtigkeit sich in einem mittlerweile klinischen Vokabular niedergeschlagen hat. Als Furien der Autodestruktion schilderte sie eine Literatur, die nur selten über das hinausblickte, was die armen Seelen zu dem werden ließ, als das sie typisiert wurden: Opfer ihrer Vergangenheit. Eine Psychiatrie theoretisch zerschlagen zu haben, deren Empathie gegenüber den von ihr pathologisierten Subjekten darin bestand, sie wie in der Kälte ihrer Analysen mit Eisbädern und Elektroschocks zu therapieren, war nicht das geringste Verdienst Freuds. Als vorläufiges Resultat seiner Arbeiten faßte er 1895 zusammen: „Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer größten Überraschung, daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab.“[2]

Das einfachste Mittel – zuzuhören – erschien einer Zeit zu abstrakt, deren Konkretion nach bürgerlichem Taktmaß darin bestand, kollektiv in einen Weltkriegstaumel zu verfallen. Gegenwehr war nur klassenspezifisch organisiert, wenn sie sich überhaupt artikulieren konnte. Die einst kranke bürgerliche Welt wehrte sich nach Kräften gegen das Traumbild einer freien, so wie sich die emanzipatorischen Inhalte einer jungen Revolution später invertierten und sich zum Fraß gegen ihre einstigen Protagonisten anschickten. Zu bedeutend und hermetisch schien die Kultur jener Welt in den Köpfen bürgerlicher Mediziner, als daß sie erkannten, was Freuds elementares Verdienst war, nämlich „die Idee gesellschaftsfähig [zu machen], daß der Geist krank sein kann, ohne daß es dafür einer organischen Ursache bedürfe.“[3] Mehr noch: „Freud deckte in der Psyche des Individuums die Verbrechen der Menschheit auf, in der individuellen Krankheitsgeschichte die Geschichte des Ganzen.“[4] Dieser Zusammenhang geriet nach dem Ende der 68er Bewegung und dem damit verbundenen Abschwächen der Kritik an der Gesellschaft zunehmend verloren; statt dessen übernimmt gegenwärtig der Versuch technischer Beherrschung der Psyche die führende Rolle im öffentlichen Diskurs.

Fast unbemerkt hat sich dabei das Bild der großen Krankheiten schlagartig gewandelt: Die Hysterie hat ihren Zenit überschritten, an ihre Stelle tritt die Depression. Es ist nicht der geringste Verdienst Alain Ehrenbergs den Diskurs der Sozialpsychologie an dieser Stelle wiederaufgenommen zu haben.

Gegenwärtig erkranken nach den Daten des Max-Planck-Institutes für Psychiatrie in Deutschland jährlich

„etwa 4,4% der Männer bzw. 13,5% der Frauen an einer Depression. Das entspricht 7,8 Mio. Betroffenen (2,8 Mio. Männer und 5 Mio. Frauen).“[5] Der „Gesundheitsbericht für Deutschland“ aus dem Jahr 1998 nennt andere Zahlen: „Im Jahr 1993 wurden im Bereich der gesamten gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt ca. 282 000 Arbeitsunfähigkeitsfälle (AU-Fälle) mit ca. 10,9 Mio. AU-Tagen aufgrund depressiver Erkrankungen registriert (hierin einbezogen sind die ICD 9-Nr. 296, 301, 309, 311 und 40% der unter Nr. 300 registrierten Fälle). Das entspricht ungefähr 2,2% aller AU-Tage. Für Frauen wurden ca. doppelt so viele AU-Fälle je 100 000 Pflichtmitglieder ausgewiesen wie für Männer (1285 versus 592 Fälle je 100 000 Pflichtmitglieder). Die Statistik der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) weist für die o. g. ICD 9-Nummern für den Bereich der AOK West jeweils mehr als doppelt so viele AU-Fälle bezogen auf die Pflichtmitglieder aus wie für den Bereich der AOK Ost (AOK West: Männer 748, Frauen 1670; AOK Ost: Männer 314, Frauen 782 AU-Fälle je 100 000 Pflichtmitglieder). Depressionsbedingte AU dauert im Mittel deutlich länger (rund zweieinhalbmal) als AU aufgrund anderer Krankheiten. Depressive Erkrankungen haben einen erheblichen Anteil an den Gründen für eine vorzeitige Berentung. 1995 wurden 18 629 Frühberentungen (7 146 Männer, 11 483 Frauen) aufgrund depressiver Erkrankungen für die o.g. ICD 9-Nummern bewilligt. Das entspricht ca. 6,3% aller 297 164 Frühberentungen im Jahr 1995.“[6]

Dagegen steht die absolute Zahl jener, die in ihrem Leben an Depression erkranken. Ebenfalls aus dem Gesundheitsbericht: „Zur Häufigkeit von Depressionen im deutschsprachigen Raum liegen mehrere Studien vor. Die Punktprävalenz (Bestandshäufigkeit zu einem Zeitpunkt) der Major Depression wird in Deutschland auf ca. 3% geschätzt, die der Dysthymie auf ca. 2%. Bei den sog. Lebenszeitprävalenzen (Anteil derer, die jemals in ihrem Leben betroffen waren) werden ca. 10% für die Major Depression und ca. 3-4% für die Dysthymie angegeben.[7]

Tatsächlich erscheint es höchst problematisch die genaue Anzahl Depressiver sowie eine genaue Definition von Depression zu geben, doch mit Sicherheit ist festzustellen, daß die Depression zur wichtigsten psychischen Krankheit der Gegenwart aufgestiegen ist. Auch erscheint es unmöglich genau zu analysieren, warum Antidepressiva Wirkung zeigen.[8] Die Depression scheint also eine Zeitkrankheit darzustellen, die eine individuelle Reaktion der Subjekte auf eine sie kollektiv umgebende Welt darstellt und die dabei spezifischen temporären Veränderungen unterworfen ist.

Ehrenberg diagnostiziert die Entstehung der Depression mit dem Wertwandel, der in den 60er Jahren begann und die alte autoritäre Form der Gesellschaft abgelöst hat: „Die Depression zeigt uns die aktuelle Erfahrung der Person, denn sie ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative. Gestern verlangten die sozialen Regeln Konformismen im Denken, wenn nicht Automatismen im Verhalten; heute fordern sie Initiative und mentale Fähigkeiten. Die Depression ist eher eine Krankheit der Unzulänglichkeit als ein schuldhaftes Fehlverhalten, sie gehört mehr ins Reich der Dysfunktion als in das des Gesetzes: Der Depressive ist ein Mensch mit einem Defekt.“

Der Depressive erscheint Ehrenberg als ein an der modernen Freiheit Gescheiterter: „Die Karriere der Depression beginnt in dem Augenblick, in dem das disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung, das autoritär und verbietend den sozialen Klassen und den beiden Geschlechtern ihre Rolle zuwies, zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die jeden zu persönlicher Initiative auffordert: ihn dazu verpflichtet er selbst zu werden. […] Die Depression ist eine Krankheit der Verantwortlichkeit , in der das Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht. Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.“[9]

Im Gegensatz zur Neurose – dem Drama der Schuld – sieht Ehrenberg die Depression als Tragödie der Unzulänglichkeit: „Das ideale Individuum wird nicht mehr an seiner Gefügigkeit gemessen, sondern an seiner Initiative.“[10] Eben dieses Scheitern in der Ausbildung einer eigenen Persönlichkeit stellt nach Ehrenberg den Kern der Depression dar. Der Konflikt, Ausgangspunkt des modernen Subjekts, geht nach Ehrenberg verloren.

Doch dies ist nicht nachvollziehbar. Ehrenberg schließt sein Buch mit den Worten: „Die Emanzipation hat uns vielleicht von den Dramen der Schuld und des Gehorsams befreit, sie hat uns aber ganz sicher diejenigen der Verantwortung und des Handelns gebracht.“[11] Hat tatsächlich eine gelungene Emanzipation stattgefunden? Ist das moderne Subjekt wirklich von „Schuld und Gehorsam befreit“? Ist die Zeit des Gehorsams wirklich vorbei? Wo existieren jene Subjekte der Freiheit, von denen Ehrenberg spricht?

Eher scheint das Gegenteil am Wirken zu sein. Gegenwärtig durchzieht eine erneute technologische Revolution die Distributions- und Produktionsstrukturen des modernen Kapitalismus: Lebendige Arbeit wird immer weniger gebraucht, während der Anteil maschineller Tätigkeit stetig zunimmt. Doch statt der sinnvollen Veränderung der Industriegesellschaften auf Grundlage der neuen technologischen Entwicklungen, nämlich der Reduzierung der Arbeitszeit, erlebt der kulturelle Wert der lebendigen Arbeit eine Aufwertung und Verherrlichung. Während Ehrenbergs Grundannahme von der Depression als gesellschaftlicher Krankheit nur zuzustimmen ist, bleibt seine Schlußfolgerung des verlorenen Konfliktes grotesk.

Das „Wörterbuch Psychologie“ definiert Depression wie folgt:

„Das depressive Syndrom (depressive syndrome) umfaßt Gefühle der Niedergeschlagenheit und Trauer, der Hilflosigkeit, Angst, Besorgtheit, Teilnahmslosigkeit und Melancholie, gelegentlich auch des Mißtrauens und der Feindseligkeit, negativ-kritische Einstellungen gegenüber der eigenen Person, dem äußeren Erscheinungsbild und der eigenen Leistungsfähigkeit; hinzu treten oftmals Zukunftsängste, Hypochondrien, Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen wie z.B. Mühen bei Denkoperationen, Konzentrationsschwierigkeiten, die Vorstellung der Ausweglosigkeit und Zwecklosigkeit, die in Selbstmordgedanken einmünden können, gelegentlich auch wahnartige Vorstellungen der Verfehlung, Versündigung oder Verarmung. Die Motivationslage ist vielfach beherrscht von Mißerfolgsorientierung, Rückzugs-, Flucht- und Vermeidungstendenzen, von der Überzeugung der Hilflosigkeit und mangelnden Kontrollierbarkeit der eigenen Situation, von Interessenverlust, Antriebslosigkeit, von der Überzeugung, überfordert zu werden und abhängig zu sein.“[12]

Wo ist der Mangel an Konflikten? Und: Sind all dies nicht Symptome von mißglückter Emanzipation? Der moderne Kapitalismus in den Industrieländern hat die Zügel der autoritären Familie gelockert, doch er hat im selben Moment durch seine Massenkultur mit ihren Ver- und Geboten eine neue Struktur des Über-Ich in den Subjekten implementiert. Die Formen der Gegenwehr sind nach dem Ende der Arbeiterbewegung im institutionalisierten Maßstab geringer geworden und so ist zu erklären, daß gegen den bürokratischen Niemand keine hysterische Reaktion mehr das taugt, was sie gegen die autoritäre Familie leistete.

So reüssiert Elisabeth von Thadden denn auch in der ZEIT: „Ehrenbergs Sympathie gilt, wenngleich ohne traurige Sentimentalität, diesem alten Europa und der Zivilisationstheorie Sigmund Freuds. Denn erst sie hat das Subjekt zum Akteur seiner Heilung erhoben, der durch seine Biografie klug genug werden kann, um Krankheit in »gemeines Unglück« zu verwandeln. Nicht durch mechanische Reparatur der Krankheit, sondern – den seelischen Konflikt verstehend – durch dessen Integration in ein Leben.“[13] Doch welch merkwürdige Integration war dies in eine Gesellschaft über die der alte Freud schrieb: „Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.“[14] Der größte Schritt der menschlichen Kulturentwicklung wäre sicherlich die Freiheit vom Erwerb statt der Freiheit des Erwerbs – dies wäre die größte Errungenschaft der Zivilisation. Wenn Depressionen eine Krankheit an der Gesellschaft darstellen, - so wie der Wahnsinn und die Hysterie -, dann kann nur eine andere Gesellschaft die Depression heilen. Ihr spezifischer Ausdruck als verlorener Kampf des vergesellschafteten Subjekts gegen sich selbst ist objektiver Ausdruck des Leids an der gegenwärtigen Gesellschaft.

Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst,Frankfurt, New York, 2004, Campus-Verlag, 24,90 €

 

Anmerkungen

[1] Vgl: Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt /M, 1969, S. 25ff

[2] Freud, Sigmund / Breuer, Stefan: Studien über Hysterie, Frankfurt /M, 1970, S. 204

[3] Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt /M, 2004, S. 12

[4] Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Hamburg, 1988, S. 102

[5] http://www.neuro24.de/depression.htm , Stand: März 2005, siehe auch: http://freenet.meome.de/app/fn/artcont_portal_news_article.jsp?catId=89187 , Stand: März 2005.

[6] http://www.gbe-bund.de/pls/gbe/isgbe.prc_isgbe, Stand: März 2005

[7] Ebd.

[8] Vgl. das sehr detaillierte Kapitel Ehrenbergs: „Die medizinische Front: die neuen Wege der Depression“, S. 161-193

[9] Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt /M, 2004, S. 5

[10] Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt /M, 2004, S. 9

[11] Ebd., S. 273

[12] Wörterbuch Psychologie. Von Werner D. Fröhlich. 24. durchgesehene Auflage, München, 2002., S. 121-122

[13] http://www.zeit.de/2004/42/st-ehrenberg , Stand: März 2005

[14] Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: Freud, Sigmund: Studienausgabe, Band IX, Frankfurt /M, 2000, S. 270

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/425d7a73e47a6/1.phtml

sopos 4/2005