Zur normalen Fassung

"Wen von uns quält nicht der Schmerz..."

In den arabischen Medien wird intensiv über gesellschaftliche Veränderungen diskutiert

von Jochen Müller (MEMRI-Berlin)

Wenn arabische Monarchen oder Staatspräsidenten auf Reisen gingen, sah das im jeweiligen Staatsfernsehen lange Jahre ungefähr so aus: Der Präsident schreitet am Flughafen seine dort angetretene Ministerriege ab, schüttelt Hände, steigt die Gangway empor, dreht sich lächelnd um, winkt und verschwindet in der Maschine. Die hebt ab und entschwindet in der Ferne, wo dann die hohen Herren untermalt von klassischer Musik beim Smalltalk abgelichtet wurden. Am folgenden Tag lief der Film dann rückwärts: Die Präsidentenmaschine landet auf dem heimatlichen Flughafen, ER steigt aus der Maschine, lächelt, winkt, steigt die Gangway hinab und schüttelt die Hände der zu seiner Begrüßung wieder aufmarschierten Minister.

Diese Form der Hofberichterstattung mit ihrem gegen Null tendierenden Informationsgehalt prägte jahrzehntelang die arabischen Medien.[1] Diese waren und sind in großen Teilen von undemokratischen Regimen kontrolliert, welche die freie Meinungsäußerung immer wieder willkürlich und gewaltsam oder per Gesetz unterdrücken. Bis vor kurzem galten die Medien vor allem als Instrument zur Mobilisierung der Massen für politische Programme - für Propaganda also.

Eine neue Vielfalt von ...

Trotz der von Zeit zu Zeit und von Staat zu Staat unterschiedlich scharfen Zensur und Repression ist die Medienlandschaft im Nahen und Mittleren Osten sowie im Maghreb aber durchaus von einer gewissen Vielfältigkeit geprägt. Dazu tragen unter anderem die pluralistische Presse im Libanon, die Zeitungen oppositioneller Parteien wie in Ägypten, vor allem aber die "Londoner Presse" bei. Denn die drei großen überregionalen - sprich: transarabischen - Zeitungen Al-Hayat, Al-Quds Al-Arabi sowie Al-Sharq Al-Awsat werden zwar in London produziert, aber überall in der arabischen Welt verkauft. Aus unterschiedlichen Perspektiven erscheinen hier im Feuilleton und vor allem auf den Kommentarseiten immer wieder Artikel, in denen in teils scharfer Form Menschenrechtsverletzungen, herrschende Ideologien, Wahlmanipulationen oder Korruption angegriffen werden. Auch minoritäre Meinungen finden in den drei Blättern ihren Raum - wenn etwa schmerzliche Kompromisse im Palästinakonflikt gefordert oder der Sturz Saddam Husseins durch den Einmarsch der USA im Irak begrüßt werden. Die Rolle der Londoner Presse, aber auch des Satellitenkanals Al-Jazeera (s.u.) ließe sich unter dem Begriff "outsourcing democracy" zusammenfassen - kann hier doch über alles kritisch berichtet werden, außer über die Geldgeber aus Saudi-Arabien und Qatar.[2]

Ganz entscheidend zur entstehenden Meinungsvielfalt haben in den vergangenen Jahren auch Internet und Satellitenfernsehen beigetragen. Mit Vorsicht zu genießende Schätzungen gehen davon aus, dass mittlerweile immerhin fünf Prozent der Menschen in der Region Zugang zum Internet haben. In den Vereinigten Arabischen Emiraten ist es beinahe die gesamte einheimische - also nichtmigrantische - Bevölkerung, die sich das Internet leisten kann und die infrastrukturellen Voraussetzungen dazu vorfindet. In den palästinensischen Gebieten sollen es immerhin schon zehn Prozent der Bevölkerung sein, die mehr oder weniger regelmäßig surfen. Solche Zahlen klingen nicht bedeutungsvoll, aber der Einfluss dieses Mediums ist gerade in rigiden Gesellschaftsordnungen nicht zu unterschätzen.

Dennoch ist die politische Bedeutung des Internets ambivalent: Zwar sind mittlerweile eine ganze Reihe unterschiedlicher Informations- und Diskussionsforen online, auf denen man sich unabhängig von staatlich kontrollierten Medien informieren und austauschen kann. Zu nennen sind etwa www.elaph.com, www.metransparent.com oder auch http://beirut.indymedia.org. Auf der anderen Seite bietet das Internet aber auch radikalen Positionen einen relativ geschützten Raum für ihre teils bluttriefende Hasspropaganda. Das Spektrum reicht hier von der vergleichsweise moderaten Seite www.islamonline.net bis zu verschiedensten Websites, die Al-Qaida nahe stehen und ihre Internetadresse häufig wechseln.

Noch größeren Einfluss als das Internet hat in den arabischen Ländern das Satellitenfernsehen. Mittlerweile sind es um die 140 staatliche oder private Kanäle, die in der Region auf Sendung gehen. Auch hier dürfen die Versuche einzelner Regime, diese Entwicklung zu stoppen oder zu kanalisieren, als gescheitert betrachtet werden - was sich an den Schüssellandschaften auf den Dächern der arabischen Großstädte gut erkennen lässt. So haben auch in einem noch immer stark repressiven System wie Syrien mittlerweile mehr als ein Drittel der Bevölkerung Zugang zum Satellitenfernsehen.[3]

Wie überall auf der Welt gibt es dabei auch im arabischen Fernsehen vor allem seichtes Entertainment zu sehen. Im Libanon beispielsweise werden Unterhaltungsformate wie die arabischen Ausgaben von Big Brother oder Star Academy produziert und vermarktet, worüber nicht anders als in Europa heftige Debatten geführt werden. Andere Sender konzentrieren sich auf politische und religiöse Agitation. Bestens ausgestattet und auf hohem technischen Niveau strahlt vor allem der der libanesischen Hizbullah nahe stehende Sender Al-Manar neben Debattenbeiträgen auch radikale islamistische und antisemitische Propaganda aus.[4]

... Meinung und Gegenmeinung

Eine neue Qualität und neue Impulse ins arabische Fernsehen haben aber vor allem die Nachrichtenkanäle gebracht. Sie haben inhaltlich und formal die bisherige Vorherrschaft von CNN und arabischem Staatsfernsehen gebrochen. Zuallererst ist hier natürlich Al-Jazeera zu nennen, das allein in den arabischen Ländern von zig-Millionen Zuschauern gesehen wird.

Die neue Qualität besteht indes nicht unbedingt in den politischen Inhalten der Sendungen. Wie die Zeitungen geben diese - etwa im Rahmen der Berichterstattung über den Irakkrieg oder den Palästinakonflikt - die teilweise extrem arabisch-nationalistische und antiisraelische sowie antiamerikanische Haltung eines Teils ihrer Konsumenten wider. Schließlich müssen auch diese Sender Quoten bringen. Insbesondere Al-Jazeera ist für seine politische Positionierung und seinen großen Einfluss stark kritisiert worden, auch von arabischer Seite. So bezeichnete ein führender Journalist der Londoner Al-Hayat, Hazem Saghieh, Al-Jazeera als "bedeutendste politische Partei in der arabischen Welt". Neue Kanäle wie Al-Achbariya aus Saudi-Arabien oder Al-Arabiya (Dubai) versuchen sich ausdrücklich in Abgrenzung zu Al-Jazeeras "populistischem Kurs" (so der Nachrichtenchef von Al-Arabiya in einem FR-Interview am 4.1. 2005) zu profilieren.[5]

Die neue Qualität entsteht vielmehr durch die neuen Sendeformate, die Al-Jazeera in der arabischen Medienwelt etabliert hat. In ihnen geht es unter häufig starker Einbindung der Zuschauer explizit um "Meinung und Gegenmeinung" - so der Name eines dieser Formate. Derlei kontroverse Debatten sind etwas grundlegend Neues für die meisten der zwar modernisierten, in weiten Teilen aber traditional und/oder hierarchisch strukturierten Gesellschaften in der Region. Wenn also der in der arabischen Welt nicht eben beliebte New York Times-Kolumnist Thomas Friedman oder der MEMRI-Direktor Yigal Carmon aus Israel bereits mehrfach in Streitgesprächen zum Palästinakonflikt bei Al-Jazeera aufgetreten sind, dann ist das ein Zeichen dafür, dass eine in der arabischen Fernsehlandschaft in dieser Form bislang unbekannte Diskussionskultur entsteht. Vor dem Hintergrund einer Analphabetenquote von bis zu 40 Prozent hat diese zudem den Vorteil, auch denjenigen zugänglich zu sein, die nicht lesen oder den oft schwer verständlichen Zeitungskommentaren kaum folgen können.

Es ist also wieder Bewegung in die Blätter und Kanäle des Mittleren Ostens gekommen, die nach einer kurzen Blütezeit in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem unter den Monarchien sowie den Militär- und Einparteienherrschaften zu Sprachrohren der Macht degradiert worden waren. Insgesamt betrachtet ist die Medienlandschaft in der Region mittlerweile von einer größeren Pluralität geprägt als sich das viele im Westen vorstellen.

Zwar ist die Zugänglichkeit von Medienprodukten für einen Großteil der Menschen in den arabischen Ländern mit ihrer durchschnittlich sehr jungen Bevölkerung auch weiterhin durch Armut und mangelnde Bildung stark eingeschränkt. Die Breitenwirkung der in den Medien geäußerten Gesellschaftskritik sollte daher nicht allzu hoch eingeschätzt werden: "Wir Intellektuelle diskutieren doch nur unter uns, da braucht es gar keine Zensur", kritisierte jüngst etwa der Chefredakteur der ägyptischen Al-Ahram Weekly, Hani Shukrallah.

Dennoch können die Medieninhalte in ihrer sehr widersprüchlichen Gesamtheit als Abbild der in den arabischen Gesellschaften vorherrschenden Diskurse und Formen des politischen Denkens gelten. Sie geben Hörern, Lesern und Zuschauern prinzipiell die Möglichkeit, unterschiedliche Meinungen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch zu eigenen Urteilen zu gelangen - eine wichtige Voraussetzung für kontroverse gesellschaftliche Auseinandersetzungen um konkrete Sachfragen.

Grundfragen der Reformdebatte

Um solche Sachfragen geht es in der Reformdebatte, die in den arabischen Medien intensiv geführt wird. Ohne Zweifel hat auch der politische Druck, der nach dem 11.9. auf den arabischen Staaten lastet, erheblich zu einer Intensivierung dieser Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Veränderungen beigetragen. Noch einmal verstärkte sich dies im Zuge der Besetzung des Irak durch die USA und deren Verbündete - ging diese doch einher mit der Greater Middle East Initiative und dem erklärten Ziel, nicht nur den Irak, sondern gleich die ganze Region "demokratisieren" zu wollen.[6]

Wie immer man zum Irakkrieg sowie zur Greater Middle East Initiative und ihren Motiven stehen mag - eines lässt sich kaum in Abrede stellen: Nie zuvor sind die Defizite der arabischen Regime und der gesellschaftlichen Systeme innerhalb der arabischen Öffentlichkeiten so offen beim Namen genannt worden. Die Verletzung von Menschenrechten, die untergeordnete Stellung der Frauen, die fehlenden demokratischen Institutionen, die Schwäche der demokratischen Kultur, die Dominanz von Gemeinschaftsideologien wie dem Arabischen Nationalismus oder die ökonomische Krise - all das wird seit etwa zwei Jahren in bisher nicht gekanntem Ausmaß thematisiert. Gleiches gilt für die Mängel der Bildungseinrichtungen und ihrer Unterrichtsmethoden, wozu die katastrophalen Ergebnisse des UN-Entwicklungsberichts über die arabische Welt beigetragen haben. Und nicht zuletzt wird auch die Frage aller Fragen gestellt: Wie kommt es, dass die arabischen Gesellschaften jene islamistischen Terroristen hervorbringen, die weltweit das Bild von der Region und vom Islam dominieren?

So sehr die Invasion im Irak aber zur Intensivierung der Debatte über gesellschaftliche Veränderungen und Reformen beigetragen hat, so stark hat sie auch zu deren Polarisierung geführt. Das macht sich vor allem an der Rolle der USA fest. Da danken auf der einen Seite verschiedene Kolumnisten den USA dafür, dass sie den Irak von Saddam Hussein befreit haben. Sie proklamieren die Befreiung des Irak als Chance für die ganze arabische Welt - so etwa der international bekannte ägyptische Soziologe Saad Eddin Ibrahim. Oder sie erinnern daran, dass die USA auch Deutschland und Japan die Freiheit gebracht hätten und kritisieren jene Stimmen, die nicht über die irakischen Massengräber sprechen wollen und statt dessen allein über die US-Politik herziehen.[7]

Auf der anderen Seite galten die Folterungen durch US-Militärs im irakischen Gefängnis Abu Ghraib etwa der ägyptischen national-liberalen Oppositionszeitung Al-Wafd als Beleg für die wahre Natur der US-Invasion und als neuerliches Beispiel für eine lange Geschichte der Demütigung. Sie titelte: "Ein Schandfleck auf der Stirn aller Araber". In der gleichen Zeitung hieß es: "Wen von uns quält nicht der Schmerz über die Besetzung des Irak? Wen von uns belastet nicht, dass die Stadt von Abu Jaffar Al-Mansur [Bagdad in der Blütezeit der Abbasiden unter dem Kalifat von Al Mansur 754-775] von den Marines besetzt und beschmutzt wird? Wer von uns weint nicht bittere Tränen, (...) wenn im Irak hunderte Mädchen der Vergewaltigung durch die Barbaren des Jahrhunderts zum Opfer fallen (...) und niemand kommt, um sie zu schützen." Und der Jordanier Arafat Hijazi, einer der renommiertesten und in der Tradition des Arabischen Nationalismus stehenden Journalisten, notierte in der jordanischen Al-Dustour, dass nun "das Zweistromland und das Erbe der abbasidischen Hochkultur mit dem Reich von Harun Al-Rashid [Kalif von 786-809] in Stücke gerissen und damit eine der wichtigsten Säulen der Araber und Muslime" zerstört werde.

Dabei besteht über die Notwendigkeit von Reformen weitgehende Einigkeit - zivilgesellschaftliche Organisationen und Intellektuelle setzen sich dafür ebenso ein wie die nationalistische und die moderate islamistische Opposition. Selbst die meisten Regierungen geloben Bereitschaft zur Veränderung. Streit entzündet sich daher vor allem bezüglich der Geschwindigkeit der Umsetzung von Reformen sowie an der Frage, welche Rolle der politische, ökonomische oder gar militärische Druck von außen dabei spielen dürfe. Vor dem Hintergrund eines weitgehend ungebrochenen arabischen Einheits- und Zusammengehörigkeitsgefühls wiederholt sich hier die Konstellation aus der Zeit der ausgehenden europäischen Kolonialherrschaft in der Region: Die Befreiung von der äußeren Fremdherrschaft - heute werden meist Israel und die USA in der Rolle der Kolonialmächte wahrgenommen - wird von vielen Arabern als Voraussetzung dafür gesehen, um mit inneren Reformen überhaupt erst beginnen zu können.

Vor allem den USA wird vorgeworfen, im Namen von Demokratie und Menschenrechten bloße Macht- und Interessenpolitik zu betreiben. Der Begriff von den "double standards" ist hier zum geflügelten Wort geworden. Mehr noch als der Irak stehen dabei der für die Konstitution der kollektiven arabisch-islamischen Identität so zentrale Palästina-Konflikt und die israelische Besatzungs- und Besiedlungspolitik im Mittelpunkt der Kritik. Wenn gegen Terror vorgegangen werden sollte, dann - so ist immer wieder zu lesen - müsste doch der "israelische Terror" ganz oben auf der Liste stehen.

Andere halten dem entgegen, dass mit dieser Prioritätensetzung die notwendigen Reformen in den arabischen Gesellschaften auf den St. Nimmerleinstag verschoben würden: Warum, fragt etwa Abd Al-Monem Al-Sa'id vom Ahram Center für Political and Strategic Studies in der Zeitung Ahram Al-Arabi, sollte man Reformen und Menschenrechte für die Bewohner anderer arabischer Staaten davon abhängig machen, dass zunächst einmal die Palästinenser diese erhalten sollten?

"Warum sollten also irgendwelchen Arabern ihre Rechte vorenthalten werden, nur weil irgendein anderes arabisches Land besetzt ist?" Ähnlich kritisierte ein Jura-Professor aus Kuwait in der Zeitung Sharq Al-Awsat, dass "die Ideen von Befreiung und Einheit sowie die Betonung der arabischen Identität (...) auf Kosten von Demokratie, Entwicklung, Bürger- und Menschenrechten Priorität genießen."

Notwendige Nestbeschmutzer

Trotz aller aufkommenden Diskussionsfreude sind solche Stimmen weiterhin in der Minderheit. Und sie laufen Gefahr, als Nestbeschmutzer diskreditiert und in ihren eigenen Gesellschaften abgelehnt zu werden. Schließlich vertreten sie Positionen, die bei vielen ihrer Landsleute im Ruf stehen, von außen und im Interesse äußerer Mächte an die arabische Welt nicht nur herangetragen, sondern ihr geradezu aufgezwungen zu werden. So versuchten gerade 300 ägyptische Anwälte Saad Eddin Ibrahim mit der Forderung vor Gericht zu zerren, dass ihm wegen "Beleidigung" Ägyptens und Kooperation mit den USA die Staatsbürgerschaft entzogen werden solle. Außerdem stellen Kritiker wie Ibrahim für viele Menschen eine intellektuelle und soziale Elite dar, die weder die Sprache der so genannten "arabischen Straße" spricht, noch ihre Sorgen und Nöte oder ihre Bindung an kulturelle Traditionen teilt. So schreibt etwa der saudische Autor Raid Qusti, dass es wohl nicht Gesetze, sondern Generationen brauchen würde, bis die Masse der Bevölkerung im traditionalistischen Saudi-Arabien Frauen am Steuer akzeptiere (siehe Kasten). Vor diesem Hintergrund besteht auch die Gefahr, dass westliche Unterstützung für einzelne Vertreter emanzipatorischer oder liberaler Standpunkte deren Position untergräbt.

Nicht nur wegen dieser Vorbehalte müssen die Auseinandersetzungen um Veränderungen in den arabischen Gesellschaften selbst geführt werden. Die Debatten müssen in Reformen "von innen" münden, die von einer breiten Masse der Bevölkerung getragen werden. Und sie müssten soziale Fragen weit mehr als bisher einschließen. Die Entwicklungen in Algerien oder dem Iran haben nachdrücklich demonstriert, welche Gefahren dirigierte Modernisierungsprozesse mit sich bringen können. Die dortigen Reformen kamen von oben, wurden nur partiell durchgeführt und verschafften nur einem Teil der Bevölkerung materielle und politische Vorteile.

Trotzdem ist es Zeit, die unterschiedlichen, widersprüchlichen und manchmal auch modernisierungsgläubigen Stimmen von arabischen Intellektuellen, JournalistInnen, PolitikerInnen oder Angehörigen der Zivilgesellschaft auch hierzulande wahrzunehmen. Zum einen, weil sie das im ‚Westen' vorherrschende Bild von den homogenen, vom Islam geprägten, traditionalistischen und reaktionären Gesellschaften im Mittleren und Nahen Osten in Frage stellen. Und zum anderen, weil nur sie die für die Zukunft so dringend erforderlichen Denk- und Veränderungsanstöße geben können.

Anmerkungen:

[1] Die Begriffe "arabische Medien", "arabische Welt" oder "arabische Intellektuelle" werden hier in dem Wissen verwendet, dass es eine homogene "arabische Welt" nicht gibt. Das Attribut "arabisch" soll vor allem auf den für die genannten Medien oder Personen gemeinsamen Sprachraum hinweisen. Auf diesem beruht im wesentlichen auch die staatenübergreifende Gemeinschaftsideologie des Arabischen Nationalismus. Als Projekt zur arabischen Einheit politisch gescheitert, prägt dieser noch immer weite Teile von Staatsideologien und Massenbewusstsein. Zentrales Motiv ist dabei die Konstituierung der Gemeinschaft der Araber (incl. Christen) und Muslime als Opfer von Kolonialismus und Imperialismus.

[2] Die offensten Debatten finden dabei sicherlich in Al-Sharq Al-Awsat statt, während Al-Quds Al-Arabi eher arabisch-nationalistischen Positionen nahe steht und bis zuletzt das irakische Regime verteidigte. Finanziert werden Al-Sharq Al-Awsat und Al-Hayat von Geschäftsleuten aus Saudi-Arabien. Nur Al-Quds Al-Arabi ist ohne Werbung.

[3] Vor diesem Hintergrund könnte auch ein Staat wie Syrien seinen bisher streng kontrollierten und zensierten Medien ein wenig mehr Spielraum lassen (siehe dazu das Interview mit dem neuen syrischen Informationsminister Mahdi Dakhlallah in: FAZ, 17.12.2004)

[4] Dem Satellitenbetreiber Eutelsat wurde von den französischen Behörden daher Ende 2004 die Übertragung von Al-Manar für den europäischen Raum untersagt. In den USA wurde der Sender als "terroristische Organisation" eingestuft. Insbesondere im Iran, der die Hizbullah unterstützt, hat das für Proteste gesorgt. Über andere Anbieter ist Al-Manar aber auch in Europa weiterhin zu sehen.

[5] Ebenso wie die Zeitungen werden viele Satellitenkanäle von saudi-arabischen Privatpersonen aus geschäftlichen Gründen finanziert, wie z.B. der zur MBC-Gruppe gehörende Al-Arabiya. Der 1996 gegründete und seitdem vom Staat Qatar mit dem Ziel der Kommerzialisierung des Betriebs finanzierte Sender Al-Jazeera hat der Regierung von Qatar zudem zu einer bis dahin ungekannten weltpolitischen Rolle verholfen.

[6] Die Initiative für einen Greater Middle East (GME) der USA, die später von den G8-Staaten als "Partnerschaft für Fortschritt und eine gemeinsame Zukunft mit der Region des erweiterten Nahen Ostens und Nordafrikas" aufgegriffen wurde, sieht u.a. finanzielle Hilfen für Reform- und Demokratisierungsprozesse etwa in den Bereichen Bildung, Medien, Zivilgesellschaft, Finanzwesen oder Frauenpolitik vor. Von arabischer Seite wurde kritisiert, dass die USA dabei vor allem eigene sicherheitspolitische Ziele verfolgten, den Palästinakonflikt nicht und Unterschiede zwischen einzelnen Ländern der Region zu wenig berücksichtigen würden. "Die Araber werden niemandem zuhören, der ihnen nicht zuhört" zitierte etwa die ägyptische Al-Ahram den Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Musa, zu der Initiative (zur Debatte um die GME-Initiative siehe auch die Debatte in Al-Hayat /engl. Ausgabe ab 1.8.2003 sowie www.memri.org, Inquiry and Analysis No.115, Dez. 2002).

[7] Zu letzterem vgl. etwa den jemenitischen Autor Munir Al-Marawi in der kuwaitischen Al-Siyassa vom 3.10.2003; oder Abd Al-Hamid Al-Ansari, früherer Dekan der Fakultät für islamisches Recht an der Universität Qatar, in Al-Sharq Al-Awsat vom 4.2.2004. Aus Platzgründen wird auf vollständige Belege für die im Folgenden skizzierten Grundpositionen verzichtet. Sie finden sich in ausführlicher Form in den von MEMRI dokumentierten Texten und TV-Ausschnitten (www.memri.de oder www.memri.org).

Jochen Müller ist Islamwissenschaftler und Leiter des Berliner Büros von MEMRI.

Das Middle East Media Research Institute (MEMRI) untersucht aktuelle Ereignisse und Entwicklungen im Nahen Osten. Die Aufgabe des Institutes, welches 1998 in den USA gegründet wurde, besteht darin, über Geschehnisse und öffentliche Kontroversen in der Region zu informieren und zu der hiesigen Berichterstattung über die Hintergründe und Zusammenhänge der Entwicklungen beizutragen.

Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 283.



Nach einer Umfrage der saudischen Zeitung Al-Riyadh, der zufolge sich 90% der Befragten in Saudi-Arabien gegen saudische Frauen am Steuer aussprachen, schrieb Raid Qusti:

"In den 60er Jahren war es die Regierung, die sich für Mädchenbildung einsetzte - gegen massive Kritik in der Bevölkerung und von religiösen Gelehrten, die meinten, dies widerspreche den Islam. Aber hier liegt die Sache anders. Zum einen ist es die Haltung der Männer, die Frauen am Autofahren hindert: Viele von ihnen glauben, dass Frauen weniger intelligent sind und weniger Fähigkeiten haben. Andere meinen, dass die Enthüllung des Gesichts der Frau in der Öffentlichkeit nicht nur ein gesellschaftliches Tabu verletzen würde, sondern eine Sünde ist. Selbst wenn also ein Gesetz Frauen das Autofahren erlaubte - kulturelle Barrieren würden es auf der Stelle zunichte machen. (...) [Wir müssten] tief verwurzelte Überzeugungen verändern und eine klare Linie zwischen Sitten und Traditionen auf der einen und Religion auf der anderen Seite ziehen. Das wird Generationen dauern - vorausgesetzt, dass es überhaupt genug Saudis gibt, die so etwas wirklich wollen."

Aus: Arab News, Saudi-Arabien, 10.9.2003

Literaturtipps

Literatur über arabische Medien und Internetseiten gibt es mittlerweile in Hülle und Fülle. Gerade erschienen ist eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung: Layla Al-Zubaidi (Hg.), Walking a Tightrope - News Media & Freedom of Expression in the Arab Middle East (www.boell-meo.org/download_en /media_study.pdf), die mit einem ausführlichen aktuellen Literaturverzeichnis zum Thema versehen ist. Eine ausführliche Bibliographie bis 2002 bietet auch: Gerda Hansen, Medien und Informationstechnologie in der Arabischen Welt, DÜI 2002.

Weiter zu nennen die Hamburger Beiträge: Medien und politische Kommunikation - Naher Osten und islamische Welt des Deutschen Orient-Institutes (insbes. Bd. 3: Rüdiger Lohlker, Islam im Internet, und Bd. 6: Muhammad I. Ayish, Arab World Television in the Age of Globalisation).

Weitere lesenswerte AutorInnen sind u.a.: Hazem Saghieh (über Al-Jazeera: www.opendemocracy.net/themes/article-8-1958.jsp); Naomi Sakr (u.a.: Satellite Realms); Walter Armbrust (u.a.: Mass Mediations); van der Plas (Culture in Defiance); Ami Ayalon (The Press in the Arab East); Amin Hussein (zum Satelliten-TV); Kai Hafez (über Medien und Demokratisierung), Henner Kirchner (zu Internet und Neue Medien); Albrecht Hofheinz (Internet).

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https://sopos.org/aufsaetze/4248c52eacece/1.phtml

sopos 3/2005