"Wir müssen uns davon verabschieden, daß man das Leben garantiert bekommt." Mit dieser programmatischen Aussage reagierte Carl-Peter Forster, Präsident von General Motors Europa (GM), auf die Forderung des Bochumer Opel-Betriebsrats nach einem Standortsicherungsvertrag, der betriebsbedingte Kündigungen bis zum Jahr 2010 ausschließt. Statt dessen plant GM kurzfristig allein am Standort Bochum die Entlassung von über 4.000 Arbeiter. Die Restbelegschaft kann sich bis zur drohenden Werksschließung im Jahr 2009 auf eine weitreichende Flexibilisierung der Arbeitszeit und deutliche Lohnsenkungen gefaßt machen. An dieser Ausgangslage hat auch der einwöchige 'wilde Streik' bei Opel Bochum nichts geändert.
Bei der Opel-Konkurrenz Daimler-Chrysler und VW wurden Beschäftigungsgarantien mit einer Aufweichung von Tarifstandards, Lohnverzicht und weiterer Flexibilisierung der Arbeitszeiten teuer erkauft. Doch nicht nur die Automobilbranche ist betroffen. Zur Rettung des maroden Kaufhauskonzerns Karstadt hat die Gewerkschaft Verdi einem Sanierungsplan zugestimmt, der Verzicht auf Tariferhöhungen sowie Urlaubs- und Weihnachtsgeld vorsieht.
Diese aktuellen Beispiele zeigen, daß typische Momente prekärer Arbeit mittlerweile bis in die früheren Domänen tarifvertraglich gesicherter und arbeits- und sozialrechtlich normierter Beschäftigung vorgedrungen sind. Ungesicherte, schlecht bezahlte und zeitlich befristete Arbeitsverhältnisse werden nun auch in den kapitalistischen Kernstaaten für immer mehr Menschen zu jenem Normalzustand, der in den Ländern der Peripherie schon lange herrscht.
Ursache dieser Entwicklung ist eine strukturelle Krise des fordistischen Modells kapitalistischer Akkumulation. Die auf verallgemeinerten Wohlstand und einen begrenzten materiellen Ausgleich zielende keynesianische Variante des Sozialstaates - der institutionalisierte Klassenkompromiß - fällt dieser Krise zum Opfer. Mit der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen vollzieht nun auch die Bundesregierung nachholend einen Dammbruch, der in den angelsächsischen Ländern bereits in den 80er Jahren eingeleitet wurde. Längere Arbeitszeiten und sinkende Einkommen sollen im Standortwettbewerb die Verwertungsbedingungen für das hiesige Kapital deutlich verbessern.
Im Gegensatz zum Normalarbeitsverhältnis zeichnet sich prekäre Beschäftigung in der Regel durch zeitliche Befristung, einen nicht existenzsichernden Lohn und die Einschränkung sozialer und tariflicher Schutz- und Sicherungsrechte aus. Prekäre Erwerbstätigkeit unterläuft also die gesellschaftlich gültigen Einkommens- und Schutzstandards und senkt dadurch das Niveau sozialer Integration.
Prekarität ist allerdings keineswegs automatisch identisch mit vollständiger Ausgrenzung und absoluter Verarmung, sondern als relationale Kategorie abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Standards. Prekäre Arbeitsverhältnisse bedeuten also für den Industriearbeiter in den kapitalistischen Kernstaaten etwas völlig anderes als für die Arbeiterinnen in den lateinamerikanischen Maquiladoras. Die Existenzbedingungen einer deutschen Ich-AG unterscheiden sich grundlegend von den informellen Elendssektoren in weiten Teilen Afrikas oder Zentralasiens. Und die Arbeitsbedingungen und Löhne in den privatisierten früheren Staatsbetrieben in Osteuropa sind mit den westeuropäischen Standards nicht vergleichbar.
Der soziale Prozeß der Prekarisierung zielt jedoch jenseits aller regionalen Unterschiede auf eine generelle Erosion von Normalarbeitsverhältnissen und gesellschaftlichen Integrationsstandards. In der Peripherie des Weltmarktes führt dieser Prozeß geradewegs in die absolute Verelendung (sofern fordistische Verhältnisse jemals dort angekommen waren), während in den kapitalistischen Metropolen die Mehrwertabschöpfung auf dem Rücken einer breiten Schicht von arbeitenden Armen ('working poor') intensiviert wird.
Die Zerstörung des sozialstaatlichen Klassenkompromisses und die "reelle Subsumtion der Gesellschaft unter das Kapital"[1] bilden die Basis für ein neues flexibles Akkumulationsregime und eine durchgreifende Verbesserung der Verwertungsbedingungen. Doch die neoliberale Deregulierung an sich bringt noch kein neues hegemoniales Projekt hervor. Im Gegenteil: Durch den verschärften 'Klassenkampf von oben' und die Aufkündigung des sozialen Konsens droht ein gefährlicher Kontrollverlust gegenüber der größer werdenden kritischen Masse der Deklassierten und Marginalisierten. Als Folge der sozialen Polarisierung und Re-Proletarisierung vermutet Karl-Heinz Roth bereits eine "Rückkehr der gefährlichen Klassen"[2] (die nichts zu verlieren habenden Eigentumslosen) auf die Bühne der Weltgeschichte. Durch die Ausweitung eines Niedriglohnsektors, prekärer Beschäftigungsverhältnisse und einer neuen Massenarmut würde nun auch in den kapitalistischen Kernstaaten die historische Klassenspaltung zwischen garantierter (Industrie-) Arbeiterschaft und Subproletariat obsolet.
Die "Wiederkehr der Proletarität" im Weltmaßstab ist auch der Ausgangspunkt für Roths Vision eines breiten sozialen Bündnisses, welches alle Verlierer des Umbruchprozesses umfaßt: von den prekär Beschäftigten über die Kerne der industriellen Arbeiterklasse bis hin zu den neuen Selbständigen. Grundlage eines solchen Bündnisses ist der Abschied von der Zentralität der industriellen Arbeiterklasse, welche die Perspektive der historischen Arbeiterbewegung bestimmt und eingeengt hat, und die Anerkennung der nicht zu hintergehenden Heterogenität der sozialen Akteure.
Die Organisierung von sozialen Kämpfen und die Suche nach Gemeinsamkeiten in der Prekarisierung gestalten sich unter hiesigen Verhältnissen allerdings recht schwierig. Dies zeigte sich zuletzt im Juni 2004 in Dortmund auf der von LabourNet und anderen linken und antirassistischen Gruppen veranstalteten Internationalen Versammlung zu Prekarisierung und Migration. Dort war man sich allenfalls in der Beschreibung des vielschichtigen Panoramas prekärer Beschäftigung einig. "Ob Briefträger, LKW-Fahrer, Lagerarbeiter, McDonalds-Servicekräfte oder Call Center Agents für Niedrigstlöhne arbeiten, Ich-AG's sich für ihre Existenz abstrampeln, Leiharbeiter bei obskuren Vermittlungsagenturen um ihre Entlohnung kämpfen müssen, eine kasachische Ärztin bundesdeutsche Wohnungen putzt, kurdische Flüchtlinge im Imbiß oder Polen, Rumänen, Portugiesen und Deutsche auf Baustellen arbeiten; Heimarbeiter auf Abruf arbeiten und Studenten Kinokarten abreißen oder später Hilfsjobs im Ausbildungssektor haben - die angebliche Wissens- und Informationsgesellschaft basiert auf Zeitarbeit und Niedriglohn," heißt es hierzu im Aufruf zur Konferenz.[3]
Doch so vielfältig wie Jobs und Arbeitsbedingungen, so verschieden sind auch Selbstverständnis, Perspektiven und Ziele der Beschäftigten. Während Migranten mit oder ohne Papiere durch Arbeitsmarkt- und Zuwanderungspolitik, Arbeitsverbote und Sondergesetze in die schlechtesten Jobs gezwungen werden, begreifen andere Menschen prekäre Beschäftigungsformen als Ausweg aus Fabrikdisziplin und lebenslanger Fremdbestimmung. Für wieder andere handelt es sich nur um ein Zwischenspiel bei der Finanzierung der Ausbildung oder auf dem Weg in eine ‚normale' Berufslaufbahn. Die großen Unterschiede zwischen frei gewählter und erzwungener Prekarisierung, zwischen tarifvertraglich geregelter befristeter Beschäftigung und arbeitsrechtlich völlig ungeschützter illegaler Arbeit, verbieten eine vorschnelle Homogenisierung der höchst unterschiedlichen Lebens- und Interessenslagen. Ein neues kollektives - gar revolutionäres - Subjekt ist also nicht in Sicht.
Auch für eine Vernetzung der Heterogenität und die von Roth geforderte basisdemokratische Organisierung auf der Grundlage von Vielfalt und Individualität gibt es kaum funktionierende Modelle und praktische Erfahrungen. Die meisten Gewerkschaften und ein Großteil der Betriebsräte sind mit ihrer anachronistischen Orientierung auf Standortsicherung, Normalarbeitsverhältnisse und Kernbelegschaften kein Bündnispartner. In anderen Ländern erfolgreiche Ansätze von Basisgewerkschaften und bewegungsorientiertem Social Movement Unionism finden in der Bundesrepublik bisher wenig Resonanz.
In Berlin setzten sich zwar schwarze irreguläre Bauarbeiter mit Unterstützung antirassistischer Gruppen erfolgreich gegen Lohnraub zur Wehr (siehe Kasten) und die Gesellschaft für Legalisierung brachte die Funktionäre beim Berliner Verdi-Bundeskongreß mit ihrer Forderung nach einer gewerkschaftlichen Vertretung von Arbeitskräften mit prekärem Aufenthaltsstatus in Bedrängnis. Doch die wenigen positiven Ansätze bleiben isoliert und werden weder von den Gewerkschaften noch von der ‚deutschen' Protestbewegung gegen Hartz IV aufgegriffen.
Trotzdem ist die linke Auseinandersetzung mit prekären Arbeitsverhältnissen und Lebensformen unabdingbar. Eine Rückkehr zu den 'goldenen Zeiten' des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses wird es nicht geben. In einer historischen Sicht könnte sich das fordistische Lohnregime sogar als Ausnahmefall erweisen. Wie die Hamburger Gruppe Blauer Montag bereits 1998 feststellte, definiert die umfassende Prekarisierung die neue Norm für Arbeitsverhältnisse und wird so zum "Normalarbeitsverhältnis des 21. Jahrhunderts", denn schließlich "gibt es im Kapitalismus prinzipiell keine garantierten Beschäftigungsverhältnisse"[4].
Die politischen Folgen fortschreitender Prekarisierung sind schwer vorhersehbar. Prekarität beinhaltet ein enormes Potential für neue soziale Spaltungen und Hierarchisierungen. Die allgemeine Verunsicherung der Lebensverhältnisse fördert aber nicht automatisch emanzipatorisches Denken und Handeln. Eine diffuse Wut auf die gesamte politische Klasse kann zum Einfallstor für rechtspopulistische Anrufungen werden. Die fortgesetzte Orientierung an Arbeitsfetisch und Leistungsideologie geht häufig mit der wohlstandschauvinistischen Ausgrenzung von Migranten und der sozialdarwinistischen Abgrenzung gegenüber den Unproduktiven und Nicht-Verwertbaren einher.
Zusätzlich kompliziert wird die Lage dadurch, daß Prekarisierung keineswegs nur ein auf Repression und Manipulation beruhendes Herrschaftsprojekt des Kapitals darstellt, sondern auch an konkrete Bedürfnisse von unten anknüpft. Der utopische Überschuß der Revolten und Bewegungen im Gefolge von 1968 liegt gerade in der Ablehnung der Fabrikdisziplin und der geschlossenen Institutionen des Fordismus begründet. Gegen die Tendenz zu einer neuen repressiven Vergemeinschaftung in einem 'autoritären Sozialstaat' kann sich nur dann eine soziale und politische Gegenmacht konstituieren, wenn sie offensiv die Frage nach gesellschaftlichen Voraussetzungen für ein gutes Leben stellt. Das 'Reich der Freiheit' meinte schließlich immer schon etwas anderes als Vollbeschäftigung und lebenslange Fabrikarbeit.
[1] Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M. 2000.
[2] Karl-Heinz Roth: Der Sozialkahlschlag. Manuskript für die Aktionskonferenz des Bremer Sozialforums, Feb. 2004 Siehe Internet.
[3] Nähere Infos zum Kongreß unter www.labournet.de.
[4] Gruppe Blauer Montag: Gegen die Hierarchisierung des Elends, Analyse und Kritik Nr. 418/1998.
Tom Binger arbeitet im Stadtteilbüro des soziokulturellen Zentrums "Zeche Carl" in Essen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 182.
Der Streik der prekär Beschäftigten im französischen Kultursektor, der Streik der afrikanischen Putzfrauen in Paris, der Arbeitskampf von migrantischen Landarbeitern in Spanien um Entlohnung und Aufenthaltsstatus - all diese Beispiele belegen, daß prekär Beschäftigte eigene Strategien der Gegenwehr entwickeln. Vor allem die Migranten unter ihnen haben sich seit je her aus der Not geboren in netzwerkartigen Communities und stadtteilorientiert organisiert, unterstützt von anderen sozialen Gruppen.
Eine solche Initiative ist beispielsweise das europäische RESPECT-Netzwerk (Rights, Equality, Solidarity, Power, Europe Cooperation Today). Es unterstützt Migrantinnen, die in privaten Haushalten arbeiten. Der deutsche Ableger wurde im Februar 2000 von Beratungsstellen, Migrantinnen-Organisationen und Unterstützerinnen in Berlin gegründet und widmet sich den Arbeitsbedingungen von Migrantinnen in privaten Haushalten und in der Reinigungsindustrie, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Denn viele Hausarbeiterinnen arbeiten ohne Arbeitsverträge, werden häufig um ihren Lohn betrogen und sind Gewalt und Mißbrauch ausgesetzt. Weitere Beispiele für die Organisierung von Prekären sind der Polnische Sozialrat in Berlin und sein Projekt ZAPO ("Zentrale Anlaufstelle für Pendler aus Osteuropa") oder die Flüchtlingsinitiative Brandenburg (FIB).
Doch auch legale Verträge schützen nicht vor Lohnbetrug, z.B. auf dem Bau. Mit ihrer Kampagne gegen Lohnbetrug versuchen die Flüchtlingsinitiative Brandenburg und die Gruppe Elexir-A, Menschen in ihrem Kampf um Lohnauszahlung zu unterstützen, etwa mittels Informationsveranstaltungen in Flüchtlingswohnheimen. Einen viel beachteten Erfolg hatte die Kampagne im Jahr 2003 auf einer Großbaustelle der Wohnungsbaugesellschaft Mitte Berlin. Über 20 Bauarbeiter afrikanischer Herkunft sollten von einem Subunternehmen zwei Monate lang keinen Lohn bekommen. Nach einer Protestkundgebung übernahm das Generalunternehmen die Verantwortung für die Auszahlung.
Zur Organisierung prekär arbeitender Menschen braucht es aber auch nicht-betriebliche Räume gegen die soziale Atomisierung, denn es handelt sich in der Regel um instabile Jobs mit ständigem Wechsel der Arbeitsstätte. In den USA gibt es hierfür den erfolgreichen Ansatz der gewerkschaftlichen Workers Center in den Stadtteilen. Dies sind spendenfinanzierte Räume für Kommunikation und Beratung über Arbeitsrechte. Solche Workers Center gibt es mittlerweile auch in Freihandelszonen, in denen Gewerkschaften in der Regel verboten sind, wie z.B. in Bangladesh, in Taiwan oder für arabische Arbeiter in Israel. Auf dem Dortmunder Prekarisierungskongreß "Die Kosten rebellieren" im Juni 2004 wurden konkrete Planungen für ein erstes Workers Center im Rhein-Main-Gebiet vorgestellt.
Nun kommt es darauf an, solche Initiativen zu verbreitern und international zu vernetzen. Eine solche Zusammenarbeit wurde z.B. beim Dortmunder Kongreß für den Bereich der Gastronomie vereinbart. Beim ESF in London wurde ein Euromayday in der Tradition kämpferischer Prekärer in Spanien oder Italien verabredet.
Die traditionellen Gewerkschaften bieten all dies nur sehr bedingt. Noch immer richten sie ihr Hauptaugenmerk auf die verbliebenen Stammbelegschaften und betriebliche Wettbewerbsfähigkeit. Doch in einigen besonders betroffenen Teilbereichen muß ein Umdenken konstatiert werden. So beschreiten etwa die NGG und ver.di in einigen Dienstleistungssparten neue Wege zur Organisierung prekär Beschäftigter. Und die IG BAU - die bislang eher durch eine Denunziations-Kampagne gegen Schwarzarbeiter auffiel - zeichnet verantwortlich für die Gründung des Europäischen Verbandes der Wanderarbeiter. Er hilft durch Beratung in der jeweiligen Muttersprache bei der Durchsetzung tariflicher und gesetzlicher Ansprüche. Der Verband befindet sich aber erst im Aufbau und ändert vorerst wenig daran, daß prekär Beschäftigte weiterhin auf Selbstorganisierung angewiesen sind.
Mag Wompel (LabourNet Germany)
https://sopos.org/aufsaetze/420fc053efc89/1.phtml
sopos 2/2005