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Give a little piece of Heimat

Europäische Identität contra Globalisierung

von Gregor Kritidis (sopos)

In Zeiten, in denen kaum etwas sicher zu sein scheint und die Krise durch jeden von uns in dieser oder jener Form wie ein scharfes Messer hindurchgeht, wächst der Bedarf nach Sinn, nach Identifikation mit etwas Stabilem und Unkorrumpierbaren, das nicht beliebig verscherbelt oder wegrationalisiert werden kann. Angesichts der offensiven Demontage des Sozialstaats und der von zynischen Appellen begleiteten Ausgrenzung all derjenigen, die bei einem entfesselten Kapitalismus nicht bedingungslos mitmachen können oder wollen, zerbröselt der gesellschaftliche Zusammenhalt, wächst der soziale Sprengstoff. In den Diskursen über die angeblich naturnotwendigen "Reformen" im Zuge der "Globalisierung" ist der Mensch zu einem Marktteilnehmer reduziert worden, der sich den wechselnden Anforderungen des Marktes bedingungslos unterzuordnen habe. Wer aus den sozialen Zusammenhängen rausfällt, trage dafür selbst die Verantwortung. Verunsicherung und Selbstzweifel - das mag dem neokonservativen Marktsubjekt fremd sein; reale Menschen sind aber nicht derart eindimensional, das dämmert nun auch den Marktideologen. Wer wollte da mit einem großzügigen Integrationsangebot geizen? Ideologien und Mythen kosten nichts, halten aber die Leute bei der Stange, zumindest hoffen das die Propagandisten einer neuen Vaterlandsliebe.

Die inhaltliche Auszehrung der bisherigen Ideologien sperrt sich jedoch gegen ihre bloße Revitalisierung. Die von der CDU auf ihrem Parteitag zelebrierte Patriotismusdebatte verweist darauf genauso wie die mediale Kritik an der so unverhohlen parteipolitischen Instrumentalisierung so "heiliger" Ideen wie der der Nation. Der Debatte um einen neuen Patriotismus haftet etwas offensichtlich Verlogenes an. Der neuaufgegossene Nationalismus, selbst wenn er als "Patriotismus" scheinbar geläutert daherkommt, beinhaltet einen zentralen Widerspruch: Wenn Kanzler Schröder etwa die Manager von Großkonzernen des Vaterlandsverrats bezichtigt, weil diese Betriebe ins Ausland verlagern, liegt die Absurdität auf der Hand. Die Ideologie der Globalisierung verträgt sich nur schlecht mit der nicht einmal mit Inbrunst vorgetragenen Liebe zum Vaterland oder einem "unverkrampften" aber um so bornierteren Verhältnis zu "Deutschland".

Besonders greifbar wird dieses Problem bei der Debatte über den EU-Beitritt der Türkei: Es dürfte kaum ein Land geben, mit dessen projektierter Einverleibung in die EU derart viele Ressentiments verbunden sind; die Debatten, die in Deutschland nach dem Mord an dem niederländischen Regisseur Theo van Gogh und den anschleißenden antimoslemischen Pogromen losbrachen, lassen die Brisanz des Themas aufscheinen. Die Tatsache jedoch, daß von Seiten der CDU im Vorfeld des Brüsseler EU-Gipfels keine offensive Kampagne gegen einen jetzt wahrscheinlicher gewordenen Beitritt der Türkei gestartet wurde, läßt tief blicken: Angesichts der geostrategischen Bedeutung der Türkei, vom türkischen Ministerpräsidenten in einem offen Brief an "die Deutschen" in der Bild-Zeitung mit Nachdruck hervorgehoben, haben die deutschen Wirtschaftverbände offenbar wenig Neigung, sich ausgerechnet von der CDU ihre geschäftlichen Interessen gefährden zu lassen und entsprechend die Bremse gezogen.

Damit ist das Thema Türkei, daß für viele im Kern ein Thema "Islam" ist, jedoch nicht von Tisch, wie die in fast jeder Hinsicht interpretationsfähigen Beschlüsse von Brüssel, aber auch die Kommentare konservativer Zeitungen wie der FAZ zeigen. Die moslemischen Minderheiten in der EU - präziser: die Menschen mit islamisch geprägten Ländern als Migrationshintergrund - eignen sich ideal zur Konstruktion eines Gegenparts einer "christlich-abendländischen" EU-Identität. Gabriele Dietze hat in einem Beitrag im "Freitag" auf diese Tendenz hingewiesen:[1] Die Verfechter der These vom Ende der "Multikultur" gingen ebenso wie deren Gegner fehl. Angesichts der Tatsache, daß "Kultur" immer ein widersprüchlicher Prozeß mit wechselseitigen Beeinflussungen, mit progressiven wie reaktionären Tendenzen sei, könne kaum von feststehenden "authentischen" Kulturen die Rede sein.[2] Nun gehe es um die "Einkapselung des Fremden" zur Stabilisierung einer seit dem Fall der Mauer brüchig gewordenen antikommunistischen Identität. Eine derartige Identität, die den alten Nationalismus in sich aufnimmt, hätte gegenüber einem wiederbelebten Neonationalismus den entscheidenden Vorteil der europäischen Dimension. Die Funktion derartiger Konstruktionen - "ethnisch-religiöse" Minderheiten hier - christlich-aufgeklärte Abendländer da - liegen angesichts sozialer Desintegration auf der Hand: sie binden Menschen ein und wenden einen wachsenden Haß auf die sozialen Eliten gegen innere und äußere Feinde: gegen die seit je her kulturlosen Amerikaner ebenso wie gegen fanatische Moslems.

Vor dem Hintergrund der Terror-Hysterie läßt das wenig Gutes erwarten: Der politische Islamismus ist seit dem 11. September 2003 herangezogen worden, eine Politik des permanenten Ausnahmezustandes zu legitimieren. Die Forderung an alle Migranten kann im Kontext dieses antizipierten Bürgerkrieges nur lauten, sich in die europäischen "Leitkulturen" zu integrieren, d.h. sich anzupassen und unterzuordnen; jeder, der da nicht mitmacht, ist entweder ein naiver Querulant oder ein fellow-traveller der Terroristen. Menschen- und Bürgerrechte werden in einer Gesellschaft des formierten Abendlandes dann nur noch eine zweitrangige Rolle spielen.

Mit welchem Eifer die demokratischen Grundrechte geschleift werden, wird an den nach dem 11. September durchgepeitschten "Otto-Katalogen" deutlich, mit welchen Bewußtsein das geschieht, an der Daschner-Debatte: Da hält der Frankfurter Vize-Polizeipräsident Folter für ein legitimes Mittel, das Leben eines entführten Bankierssohnes zu retten, und gerichtlich werden ihm zwar ein Verstoß gegen das Grundgesetz, immerhin aber "ehrenwerte Motive" bescheinigt.[3] Hätten die Beteiligten ebenso gehandelt, wenn es sich um das Kind von Arbeitslosengeldempfängern gehandelt hätte? Eine hypothetische Frage, gewiß, aber sie öffnet doch die Frage nach der hier zugrunde liegenden Klassenmoral. Hinter den "ehrenwerten Motiven", die Herr Daschner für sich reklamiert, verbirgt sich die Fratze eines autoritären Maßnahmestaates, der Verdächtige jeglicher Couleur ohne gesetzliche Grundlage einsperren, bei Bedarf foltern oder gar umbringen läßt - selbstverständlich um Leben zu retten und anständige Bürger vor Terrorattentaten zu schützen. Das mag für viele eine überzogene Vision sein; in Guantanamo-Bay ist sie jedoch schon Realität, und die Zustände in "deutschen" Abschiebeknästen lassen kaum annehmen, daß wir davon sehr weit entfernt sind.

Es wird dennoch schwer werden, gleichzeitig die Türkei in die EU einzuverleiben und den ideologischen Kitt einer christlich-abendländischen Kulturgemeinschaft zu propagieren. Aber Ideologie muß nicht logisch, sondern plausibel sein. Die Türkei ist ein laizistischer Staat, in dem die Trennung von Religion und Staat historisch fester verankert ist als in manchem EU-Land, Deutschland insbesondere. Als Partner im "Kampf gegen den Terrorismus" ist sie verläßlich, und mit Tausenden politischen Gefangenen und begrenzten demokratischen Rechten könnte die Türkei sogar eine "Vorbildfunktion" als "wehrhafte Demokratie" erfüllen.

Die Linke sollte angesichts derartiger Identitätsdiskurse prinzipielle Antworten geben; es liegt zwar Nahe, sich aus Abgrenzung gegen alte und neue Nationalisten für einen EU-Beitritt der Türkei auszusprechen und damit an rot-grüne Positionen anzuhängen. Gegen einen Beitritt der Türkei sprechen aber gute Gründe, die nicht allein in der politischen Struktur der Türkei zu suchen sind, sondern im Projekt EU selbst. Sozialer Fortschritt ist nur gegen die EU erkämpfbar, und zwar mit all den Menschen, die aus ihrer Erfahrung mit dieser besten aller Welten die Konsequenz ziehen, sich eine bessere Heimat in der Zukunft zu suchen. Die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus, die Diskussionen über praktikable Gegenmodelle hat bereits begonnen. Mythen und Ideologien sind zwar äußerst mobilisierungsfähig, utopische Gegenentwürfe aber auch; der Slogan "Eine andere Welt ist möglich" ist ein Ausdruck für ein alternatives Zukunftsversprechen, das um so schlagkräftiger wird, je realitätshaltiger die dahinterstehenden Konzeptionen und je zahlreicher ihre Verfechter sind. Im utopischen Denken verbindet sich beides: Zukunftshoffnung und auf praktische Aktion orientierte Arbeit am Begriff. Es ist eine zentrale Aufgabe, in das ideologische Vakuum, das die europäische Sozialdemokratie hinterläßt, hineinzustoßen.

Anmerkungen:

[1] Kollektivkörper im Schüttelfrost. Post-Territorial denken. Die Debatte um das Scheitern von Multikulti hat nichts mit den realen Verhältnissen zu tun. Plädoyer für einen kritischen Okzidentalismus. Freitag vom 3.12.2004.

[2] Der Imperativ: Integriert Euch, lernt deutsch! läßt sich daher auch nur mit Fragen beantworten: Alte oder neue Rechtschreibung? Reicht es, die Bild-Zeitung lesen zu können, oder ist ein Abitur an einem humanistischen Gymnasium notwendig? Muß man Bratwurst essen oder ist auch das erlaubt, was der Kanzler isst, wenn keine Kamera auf ihn gerichtet ist? What the fuck is deutsch? Die Forderung, sich zu integrieren sollte als das beantwortet werden, was sie ist: eine Zumutung.

[3] Deutschlandfunk vom 20.12.2004. Die Kommentare in den Gazetten lassen wenig Zweifel, daß die herrschende Meinung mit Folter mittlerweile kein prinzipielles Problem mehr hat, wenn sie nur für einen guten Zweck praktiziert wird.

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https://sopos.org/aufsaetze/41f15111bd506/1.phtml

sopos 1/2005