von Sven Oliveira Cavalcanti (sopos)
Wenn von kritischer Theorie die Rede ist, so muß nach den Namen, die sich hinter diesem Begriff verbergen, gefragt werden. Wer gehört zur „Kritischen Theorie“ und wer nicht? Ist kritische Theorie auch identisch mit der Frankfurter Schule? Die jeweilige Antwort wird sich vom politischen Standpunkt des Befürworters oder Gegners ergeben. Wenn man um 1968 einen Konservativen gefragt hätte, wie er die Unterschiede zwischen Bloch und Adorno einschätzen würde, so hätte man wohl die Antwort erhalten: „Welche Unterschiede?“. Umgekehrt wären Adorno- oder Bloch-Schüler wohl um eine Antwort nicht verlegen gewesen. Wenn heute hier von kritischer Theorie die Rede sein soll, so wird in erster Linie von Adorno, Horkheimer und Marcuse die Rede sein, also vom harten Kern der Frankfurter Schule. Dabei wären noch weitere Namen zu nennen: Walter Benjamin, Ernst Bloch, Erich Fromm, Friedrich Pollock oder Franz Neumann. Ganz zu schweigen von den zahlreichen kritischen Theoretikern der zweiten Generation: Habermas, Negt, Brückner, etc.
Der Begriff der kritischen Theorie selbst rekurriert auf Marx, der mit dem Begriff der Kritik „die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden“[1] bezeichnete. Im Gegensatz zu sich objektiv gerierender Wissenschaft, sollte kritische Theorie sich einmischen. Marx schrieb: „Es hindert und also nichts, unsere Kritik der Politik, an die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren. Wir treten dann der Welt nicht doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier Knie nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Laß ab von deinem Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen Dir die wahre Parole des Kampfes zuschreien. […] Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch die Analysierung des mythischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.“[2]
Der Verweis auf Marx liegt nicht fern, lieferte er doch die Grundlage der kritischen Theorie. Seine Kritik der politischen Ökonomie galt ihr als „Theorie auf Abruf“, womit erklärt werden kann, warum aus den Reihen der Kritischen Theorie keine eigene ökonomische Theorie verfaßt wurde. Viele Begriffe der kritischen Theorie verstanden sich selbst als „Sklavensprache“. Sklavensprache deshalb, weil die Sprache „sklavisch“ sich duckt, um den Zensoren der herrschenden Öffentlichkeit zu entgehen, die bei bestimmtem marxistischen Vokabular wie Pavlowsche Hunde Alarm schlagen würden. Der Gedanke war, daß die Herrschenden nicht unbedingt die Texte lesen würden, aber signalforsches Vokabular würde sie aufmerksam machen. So wurde aus dem „Kapitalismus“ das „Bestehende“ und aus der „Revolution“ die „Veränderung der materiellen Daseinsverhältnisse“ oder die „radikale Umwälzung des Bestehenden“.
Das Festhalten an den Grundmomenten marxscher Theorie sollten das Institut für Sozialforschung zum Vorreiter eines undogmatischen und kritischen Marxismus werden lassen, der 30 Jahre später für einen Teil einer neuen Generation zum Schlüsselverständnis der gesellschaftlichen Situation beitragen sollte. Im Jahre 1937, als in Deutschland weit und breit kein politisches Subjekt in Sicht war, das zur gesellschaftlichen Veränderung im Sinne einer freieren Gesellschaft fähig war, bei marxistischen Positionen zu bleiben und die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufzugeben, war eine Position, die nicht viele wagten: „Daß der Mensch mehr sein kann als ein verwertbares Subjekt im Produktionsprozeß der Klassengesellschaft, durch diese Überzeugung ist die kritische Theorie am tiefsten der Philosophie verbunden.“[3]
Auch die Gründungsgeschichte des Frankfurter Institutes verweist darauf: Ursprünglich sollte es „Institut für Marxismus“ heißen und einer siegreichen Arbeiterrevolution übergeben werden. Diese blieb in Deutschland aus, statt dessen siegte das Schattenreich schwarzer Utopie. So entstand die wichtigste Phase der Theoriebildung der Kritischen Theorie während des Aufkommens des Faschismus und in der Emigration.
So wird verständlich, warum kritische Theorie, die marxistisch bleiben wollte, aber eben nicht stalinistisch, sich stets in Distanz zur politischen Herrschaft aufhielt. Die kritische Theorie war externe Theorie, die sich der Herrschaft verweigerte, in ihr sollten Schutzscharniere gegenüber der Herrschaft eingebaut sein, die noch bei Marx fehlten, wo vieles unausgefüllt, undurchdacht blieb. Wie Bloch es einmal ausdrückte: Die UDSSR hat Marx nicht nur zur Unkenntlichkeit verändert, sondern auch zur Kenntlichkeit.
So blieb die kritische Theorie nicht ökonomisch verwertbar. Neben der Sklavensprache, die sie in den USA aus Angst vor dem aufkommenden Antikommunismus kultivierte, war sie als Flaschenpost verkort. Flaschenpost weil sie auf einen zukünftigen Träger hoffte, einen kollektiven Akteur der gesellschaftlichen Veränderung, der im Nazideutschland weit und breit nicht zu sehen war. Wenn also von der Kritik der Kritischen Theorie am Kulturbetrieb die Rede ist, dann vor allem vor dem Hintergrund des Faschismus in der Zeit geronnener Dunkelheit.
Kritische Theorie stellte stets die Frage ums gesellschaftliche Ganze, um den Zusammenhang zwischen Barbarei und Zivilisation, zwischen möglichem Glück und tatsächlicher Herrschaft. Ihre zentrale Frage bestand in der Analyse des Zusammenhang zwischen Kultur und Barbarei und darin zu fragen warum die ausgebreitete Zivilisation so weit von der Verwirklichung dessen entfernt ist, was Kultur bis heute nur vergebens versprach, nämlich „das es keinen Hunger mehr auf der Welt gibt.“[4].
Die Frage hat an Aktualität nichts verloren: Vom heutigen Stand der Technik erscheint ein freies Leben so möglich wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte – sicher eine Feststellung die für fast alle historischen Epochen, verglichen mit der vorigen, gilt –, doch im selben Moment erscheint die Verwirklichung eben einer solchen Welt, die ihre technischen Möglichkeiten zugunsten Aller einsetzt, von ihrer Verwirklichung so weit entfernt wie selten zuvor in der Geschichte. Wenn ich also heute vor Ihnen von der Entstehungsgeschichte der Kulturtheorien der kritischen Theorie spreche, so geht es mir zuvorderst um eine Historisierung der Theorie, sowie der daraus möglichen Aktualisierung.
Wer also einen Vortrag erwartet, der die Machtkonzentration der Medien empirisch nachzeichnet, der wird enttäuscht werden. Vielmehr handelt der Vortrag von der Frage, warum Millionmassen ihre eigene Unterdrückung bejahen und welche Rolle der Kultur dabei zukommt. Dazu werde ich drei zentrale Schriften der Kritischen Theorie referieren, die als konstitutiv gelten können: Marcuses „Über den affirmativen Charakter der Kultur“, Adornos Kapital über „Kulturindustrie“ aus der Dialektik der Aufklärung von 1944 und Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ von 1964.
In seinen 1937 publizierten Aufsatz: „Über den Affirmativen Charakter der Kultur“ untersuchte Marcuse, welchen Beitrag die Kultur an der Schaffung einer „innerlichen“ bürgerlichen Freiheit hatte. Der Aufsatz hatte den Anspruch herauszuarbeiten, welchen Nährboden die bürgerliche Kultur dem Faschismus geliefert hatte.
Unter „Affirmativer Kultur“ verstand Marcuse, „jene bürgerlichen Epochen, welche im Laufe ihrer eigenen Entwicklung dazu geführt hat, die geistig-seelische Welt als ein selbstständiges Wertreich abzulösen und über sie zu erhöhen. Ihr entscheidender Zug ist die Bejahung einer allgemeinen verpflichtenden, unbedingt zu bejahenden, ewig besseren, wertvolleren Welt, welche von der tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes wesentlich verschieden ist. Die aber jedes Individuum »von innen her« ohne jede Tatsächlichkeit zu verändern, für sich realisieren kann.“[5] Es ging Marcuse also darum festzustellen, in welchem Maß Kultur sich von einer Rebellion gegen die ungerechten gesellschaftlichen Zustände wegentwickelte, um zu einer der Innerlichkeit und der Angepaßtheit ans Bestehende zu werden. Die bürgerliche Kultur hatte sich verändert – von den großen revolutionären Motiven von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu einer, die die Verwirklichung dieser Ideale ins Subjekt verlagerte. Kurz: Für die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist nun jeder selbst verantwortlich. Damit hatte die Kultur ihr rebellisches Potential eingebüßt, sie war nun für Marcuse mit ähnlichen Funktionen ausgestattet wie die Religion[6], die ebenfalls kritische Momente in sich barg – bei Marx wird sie als Quietiv und Protestation verstanden – , jedoch affirmativ wird, wenn sie diese in die Innerlichkeit des Subjekts verlagert, anstatt die Gesellschaft zum Ort der Kritik zu machen.
Marcuse attestierte der bürgerlichen Kultur, daß in ihr das abstrakte Individuum zum Träger einer neuen Glücksforderung wurde. Dies nicht mehr „als Vertreter oder Delegat höherer Allgemeinheit, sondern als einzelnes Individuum“, daß „die Besorgung seines Daseins, die Erfüllung seiner Bedürfnisse selbst in die Hand nehmen soll.“[7] Dies war insofern ein Novum, da die Vermittlungen zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft im Feudalismus anders funktionierten: Dort avancierte die Seele zum zentralen Begriff. Die Existenz des Weltlichen trat zurück gegenüber den Heilsversprechen des Himmelreichs. Daß das Bürgertum Pate stand für die Ermöglichung eines neuen Glücks war für Marcuse als historischer Fortschritt zu werten. Doch eben jenes Glücksverbrechen werde nunmehr „im hier und jetzt“ sofort zurückgenommen, „da die abstrakte Gleichheit der Individuen in der kapitalistischen Produktion sich als konkrete Ungleichheit realisiert, […] ja das Stehenbleiben bei der abstrakten Gleichheit gehörte selbst zu den Bedingungen der Herrschaft des Bürgertums“.[8]
Für den Glücksanspruch der Individuen sollte die Kultur die Sorge übernehmen, doch anstatt die reale Ungleichheit in der Welt zu dechiffrieren, überließ der Idealismus „die Erde der bürgerlichen Gesellschaft, indem er sich mit dem Himmel und der Seele begnügte.“[9] Die Kultur sollte „das Gegebene veredelnd durchdringen, nicht ein Neues an seine Seite setzen.“[10] Das Verhältnis der Kultur zu ihrem Subjekt war also keinesfalls ein rein Emanzipatorisches, vielmehr tat sich ein Spannungsfeld zwischen der Kultur als Disziplinierungsmechanismus und Kultur als Glücksversprechen auf. Disziplinierungssystem in dem Maße, da Kultur die Subjekte aufs Bestehende einschwört – darin besteht ihr affirmativer Charakter – und Glücksversprechen, da sie eine Wirklichkeit abbildet, die utopische und freiheitliche Momente in sich trägt. Marcuse konstatierte: „Nur in der Kunst hat die bürgerliche Gesellschaft die Verwirklichung ihrer eigenen Ideale geduldet und sie als allgemeine Forderung ernst genommen.“[11] Doch durch das Fehlen der Umsetzung der bürgerlichen Ideale – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – in der ökonomischen Wirklichkeit schlägt Kultur um in Scheinbefriedigung: „In der affirmativen Kultur wird sogar das Glück zu einem Mittel der Einordnung und Beschneidung. Wie die Kunst das Schöne als gegenwärtig zeigt, bringt sie die revoltierende Sehnsucht zur Ruhe. Zusammen mit anderen Kulturgebieten hat sie zu der großen erzieherischen Leistung dieser Kultur beigetragen: das befreite Individuum, für das die neue Freiheit eine neue Form der Knechtschaft gebracht hatte, so zu disziplinieren, daß es die Unfreiheit des gesellschaftlichen Daseins ertrage.“[12] Durch das Fehlen realer Gesellschaftskritik sei die Kultur, so Marcuse, dahin gekommen, daß das Individuum gelernt habe, alle Forderungen zunächst an sich selbst zu stellen.
Damit kam der Kultur in Marcuses Theorie eine Schlüsselrolle zur Vermittlung notwendig falschen Bewußtseins, aber auch zur Möglichkeit auf Befreiung zu. Im Gegensatz zur bürgerlichen Kultur, die noch immer das Glücksversprechen in sich aufrecht erhielte, tat dies die Kultur im autoritären Staat nicht mehr. Doch freizusprechen war die bürgerliche Kultur deshalb trotzdem nicht. Der Realisierung des autoritären Staates habe sie den Weg bereitet: „Hatte die Kultur früher den Glücksanspruch im realen Schein zur Ruhe gebracht, soll sie jetzt das Individuum lehren, daß es eine Glücksanforderung für sich überhaupt nicht stellen darf.“[13] Der Einzelne, das Subjekt werde komplett unter die „große Sache“, unter das Führerprinzip und unter die „Volksgemeinschaft“ gestellt; die erlaubte Freude organisiert. „Die idyllische Landschaft, der Ort des Sonntagsglücks, verwandelt sich in ein Übungsgelände, die kleinbürgerliche Landpartie in Geländesport.“[14] Der Glücksanspruch, den bürgerliche Kultur einmal in sich trug, werde begraben. Zurück bleibt ein Subjekt, das, wie schon zur Zeit des ersten Weltkrieges, gegenüber dem „hehren Ziel“ zur Nichtigkeit verkam.
Doch wie konnte eine nicht-affirmative Kultur aussehen? Marcuse gab nur vage Antworten. Ähnlich wie Trotzki, der sagte, daß die Tragödie unmittelbar zum menschlichen Leben gehöre, rechnete auch Marcuse mit einer Kultur, die mit „Vergänglichkeit“ und mit „Notwendigkeit“ belastet sein würde: „ein Tanz auf dem Vulkan, ein Lachen unter Trauer, ein Spiel mit dem Tod.“[15]
Problematisch bleibt Marcuses reduktiver Kulturbegriff: Kultur umfaßte in seiner Schrift eigentlich nur den Weimarer Klassizismus. Adorno warf ihm in einem Brief an Horkheimer nicht zu Unrecht vor, daß Baudelaire, Kafka oder Schönberg völlig fehlen würden,[16] später jedoch hielt er Marcuses Aufsatz für „eine der besten Früchte unserer Frankfurter Schule.“[17] Wobei der reduktive Kulturbegriff nicht minder für Adorno selbst gilt. Man könnte sagen, daß Marcuse ein Bild von Cezannes bereits für gewagt hielt. Dennoch sollte Marcuse seinen Kulturbegriff zur Zeit der 68’er Bewegung öffnen und wenn auch nicht lang -, sich gegenüber der neuen Kultur der 68er-Bewegung zugänglicher zeigen, als Adorno dies je war.
Was Marcuse 1937 noch mit dem „affirmativen Charakter der Kultur“ beschrieb, war eine Analyse, die zwar erklärte, warum mit der bisherigen Kultur das Aufkommen des Faschismus möglich war, der zweite Weltkrieg und Auschwitz hatten jedoch noch nicht stattgefunden. Die Frage nach der Kultur stellte sich jetzt noch schärfer: Welchen Anteil an der staatlich organisierten Barbarei hat Kultur? Wie ist es zu erklären, daß in den Subjekten nicht genügend Renitenz gegenüber dem Faschismus existiert?
Adornos Beschreibungen der Totalität mit der die Kulturindustrie des Jahres 1944 auftrat, erscheint 60 Jahre nach der Entstehung des Kapitels fast lächerlich, gegenüber der Monstrosität der Heutigen. Doch Kulturindustrie war in Deutschland zu erst das Propagandawerkzeug des Faschismus: In jedem Haushalt wollten die Nazis einen Volksempfänger wissen. Die Ausstattung der deutschen Haushalte mit Radiogeräten zwischen 1933 und 1941 stieg von 25 auf 65 Prozent[18]. "Ganz Deutschland hört den Führer mit dem Volksempfänger" war der werbewirksame Slogan der Nazis. Um den Volksempfänger zu bewerben ließen sie eigens einen Zeichentrickfilm produzieren. In „Die Schlacht von Miggershausen“[19] wird ein elend herunter gekommenes Dorf dank des Volkempfängers zu einem glücklichen und reichen Dorf. Sogar die Typenbezeichnung VE 301 erinnerte an das Datum der Machtergreifung der Nazis, den 30.01.1933. Weiterhin war auf jedem Gerät ein Zettel angebracht mit den Worten: “Das Abhören ausländischer Sender ist ein Verbrechen gegen die nationale Sicherheit unseres Volkes. Es wird auf Befehl unseres Führers mit schweren Zuchthausstrafen geahndet.”[20] Dies also war in Deutschland die eigentliche Geburtsstunde der Kulturindustrie.
Filmindustrie und Radio waren also keinesfalls etwas rein Amerikanisches, vielmehr gab es Gemeinsamkeiten: Sogar Hitler hatte großes Interesse an Disneys Micky Maus Filmen. Zum Weihnachtsfest 1937 schenkte Goebbels ihm 18 Mickey-Maus-Filme. Hitler reagierte darauf, so Goebbels in seinem Tagebuch, "ganz glücklich"[21].
Das provokanteste an Adornos Aufsatz über die Kulturindustrie lag also vor allem darin begründet, daß er die propagandistischen Mittel des deutschen Faschismus in die Nähe der amerikanischen Kulturindustrie setzte. Über „den großen Diktator“ von Chaplin urteilte er beispielsweise: „Die wogenden Ährenfelder am Ende von Chaplins Hitlerfilm desavouieren die antifaschistische Freiheitsrede. Sie gleichen der blonden Haarsträhne des deutschen Mädels, dessen Lagerleben im Sommerwind von der Ufa photographiert wird.“[22] Mit der Kulturindustrie war also ein Herrschaftsmechanismus erfunden worden, der für Adorno - sowohl im deutschen Faschismus als auch im Amerika der 30er und 40er Jahre - im Mittel der Beherrschbarkeit von Menschen, in der Präformierung des Bewußtseins, nicht jedoch in der Zielsetzung der politischen Regime, Gemeinsamkeiten aufwies.
Die Kulturindustrie markierte einen sichtbaren Übergang von aller bisherigen Kultur zur Massenkultur, wobei das Fernsehen erst im Entstehen war. Schon 1944 äußerte Adorno eine düstere Vorahnung: „Das Fernsehen deutet den Weg einer Entwicklung an, die leicht genug die Gebrüder Warner in die ihnen gewiß unwillkommene Position von Kammerspielern und Kulturkonservativen drängen könnte.“[23]
Mit dem Begriff der Massenkultur bezeichnete Adorno jenes Phänomen, daß die einst elitäre bürgerliche Kultur nunmehr bei gleichzeitiger Entschärfung ihres revolutionären Impetus einer Masse zugänglich gemacht wurde, ohne den künstlerischen Gehalt des Kunstwerks zu vermitteln. Massenkultur war für Adorno nicht ohne den Preis des Verlustes der Substanz des Kunstwerkes zu haben. Das einstige Versprechen der Kunst durch ihre befreienden Elemente konnte damit genauso wenig gehalten werden, wie das der Gesellschaft der Gegenwart als der Besten aller möglichen. Damit kulminiert der Betrug am Kunstwerk und an der Masse gleichermaßen im Begriff des Massenbetruges. Kulturindustrie bedeutet die Vorherrschaft der Industrie, der Monopole oder „rackets“ wie sie bei Adorno/Horkheimer genannt wurden und ein Denken, das von technischer Rationalität gekennzeichnet ist. Nicht Wahrheit, sondern Technik ist das Wesen dieses kulturindustriellen Wissens.
Kulturindustrie markierte also einen sichtbaren Übergang an dem der reine Profit dem Kunstwerk übergeordnet ist – Kultur wird industriell produziert und erhält somit einen Umschlag von der Qualität vergangener Kunst in die Quantität der Serienproduktion. Mit Adornos Worten ausgedrückt: „Die Wahrheit, daß sie nichts sind als Geschäft, verwenden sie als Ideologie, die den Schund legitimieren soll, den sie vorsätzlich herstellen.“[24]
“Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit” lautete der zweite Satz der Einleitung des Kulturindustriekapitels. Sie tritt als System auf, das nur noch eine rudimentäre Verschiedenheit, in einem System das durch Einheitlichkeit gekennzeichnet ist, an den Tag legt. “Jede Sparte ist einstimmig in sich und alle zusammen”[25] Die falsche Identität von Nicht-Identischem steht als große These dem Kapitel voran. Nicht-Identisches wird dem Besonderen im Identischen beraubt: „Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet”[26] Für Adorno bestand also in der Analyse der Kulturindustrie ein Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum Millionenmassen ihre eigene Unterdrückung bejahen. Oder wie Herbert Marcuse es später Ausdrückte: “Wenn der Arbeiter und sein Chef sich am selben Fernsehprogramm vergnügen und die selben Erholungsorte besuchen, wenn die Stenotypistin ebenso attraktiv hergerichtet ist wie die Tochter ihres Arbeitgebers, wenn der Neger einen Cadillac besitzt, wenn sie alle die gleiche Zeitung lesen, dann deutet diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen hin, sondern auf das Ausmaß, in dem die unterworfene Bevölkerung an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, die der Erhaltung des Bestehenden dienen”[27]
Kulturindustrie hat also ein scheinbar gleichmachendes, nivellierendes Moment an sich und gleichzeitig ein verschleierndes. Das Bestehende wird durch sie verdoppelt und damit immanent der Erfahrung des Wirklichen angegliedert, so daß Wirkliches durch ihren Filter vermittelt wird. Der Gehorsam der Kulturindustrie zur bestehenden Ordnung steht, einer Konstituente gleich, in jedem ihrer Produkte. “Indem sie alle Zweige der geistigen Produktion in gleicher Weise dem einen Zweck unterstellt, die Sinne des Menschen vom Ausgang aus der Fabrik am Abend bis zur Ankunft bei der Stechuhr am nächsten Morgen mit den Siegeln jenes Arbeitstages zu besetzen, den sie den Tag über selbst unterhalten müssen, erfüllt sie höhnisch den Begriff der einheitlichen Kultur, den die Persönlichkeitsphilosophen der Vermassung entgegengehalten haben”[28] So wird der Zweck der Kulturindustrie deutlich: Die Ausweitung der Rationalität der Arbeit auf die Gesamtheit von Zeit, in einem alle Winkel aufspürenden und der technischen Ratio des Profits zu unterwerfenden Prinzip. Das Denken selbst ist das Opfer der Kulturindustrie – durch den Verlust des Begriffs, wird in fundamentaler Weise eine Revision der Erklärungsfähigkeit des Bestehenden angestrebt.
Das spezifische Moment der Kulturindustrie besteht jedoch in einem sozialpsychologischen Moment: Kulturindustrie beruft sich auf jene Subjekte, dessen Entwöhnung von Subjektivität sie sich als Aufgabe stellt. Was ist damit gemeint? Kulturindustrie reduziert den Menschen zum Konsumenten, zum geistig intellektuell untätigen Empfänger eines kommerziellen Produktes. Durch die verschiedenen Schablonen des Kulturbetriebes stiftet Kultur nicht nur Identität, sie verkrümmt gleichermaßen das Bewußtsein, in dem Sinne, daß sie eine eigene Wirklichkeit aufbaut: Das Puddingpulver wird durch den abgebildeten Pudding angepriesen. „Die alte Erfahrung des Kinobesuchers, der die Straße draußen als Fortsetzung des gerade verlassenen Lichtspiels wahrnimmt, weil dieses selber streng die alltägliche Wahrnehmungswelt wiedergeben will, ist zur Richtschnur der Produktion geworden. Je dichter und lückenloser ihre Techniken die empirischen Gegenstände verdoppeln, um so leichter gelingt heute die Täuschung, daß die Welt draußen die bruchlose Verlängerung derer sei, die man im Lichtspiel kennenlernt.“[29] Kulturindustrie hat keinen kritischen Stachel, wo sie kritisch ist, stellt sie sogleich klar, das das System als Ganzes keiner Veränderung bedarf, sondern lediglich eine Richtungskorrektur.
Ihre Ideologie besteht in der Wahrscheinlichkeitsrechnung: “Everybody can do it, if he really wants” ist der Slogan des amerikanischen Traums, der impliziert, wenn jeder wolle, so könne er auch und der, der das große Los zieht – von der Vergnügungsindustrie selbst vergeben – erscheint dort oben berechtigt und qua für alle einsehbarem Talent sichtbar. Diese aus den Mittelständen rekurrierten Idealtypen sollen den Mittelstand selbst repräsentieren, so daß dem starlet der große Abendmantel schon zubestimmt sei: “Nur eine kann das große Los ziehen, nur einer ist prominent, und haben selbst mathematisch alle gleiche Aussicht, so ist sie doch für jeden Einzelnen so minimal, daß er sie am besten gleich abschreibt und sich am Glück des anderen freut, der er ebenso gut selber sein könnte und dennoch niemals selber ist.“[30] Die Methode der Kulturindustrie besteht darin den Menschen als Gattungswesen scheinbar zu verwirklichen, um ihn hemmungslos zur permanent ersetzbaren Kreatur zu machen. Das heiratende Pärchen im Kino steht noch für eine gewisse Naivität, in der der Konsument die eigene Hochzeit in der des anderen sieht, tatsächlich wird aber eine vollendete Gleichheit zwischen den Menschen suggeriert; diese vollendete Gleichheit ist der absolute Unterschied. Mit Adornos Worten: „Die Identität der Gattung verbietet die der Fälle [...] Jeder ist nur noch, wodurch er den anderen ersetzen kann: fungibel, ein Exemplar. Er selbst, als Individuum, ist das absolut ersetzbare, das reine Nichts, und eben das bekommt er zu spüren, wenn er mit der Zeit der Ähnlichkeit verlustig geht.”[31] Durch das Ausfeilen und Propagandieren der eigenen Methode macht Kulturindustrie jeden zum Pseudo-Experten darüber welcher Autor “das Zeug zum Bestseller” und welcher Song “das Zeug zum Hit hat”.
Kulturindustrie leistet also viererlei: Integration, Identität, Information und Unterhaltung[32]. Dabei ist die Integration die Vereidigung aufs Bestehende, Identität das Wirrspiel um die Verortung der eigenen Subjektivität in ersetzbaren Schablonen, Information trägt das Prägesiegel des Fortbestand der Klassengesellschaft und Unterhaltung ist das Gegenteil von dem was sie sein könnte: „Unterhaltung meint gelöst und frei zu werden, aber nicht von etwas frei zu werden, sondern zu etwas“[33]. Kurz: Kulturindustrie entsubjektiviert die Einzelnen entgegen ihrer Möglichkeiten, währenddessen sie sie im Bestehenden identifiziert. Mit Adornos Worten: „In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt. Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist. Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst. Sie ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft. Autos, Bomben und Film halten so lange das Ganze zusammen, bis ihr nivellierendes Element am Unrecht selbst, dem es diente, seine Kraft erweist.“[34]
Was aber war an Kultur noch möglich? Für Adorno war ein radikales Denken gegenüber der Rolle, die die Kultur in der Lage war, spielen zu können, nötig. Dabei stach zu erst ins Auge, daß sich die gesellschaftlichen Grundlagen, die zu Auschwitz führten, nicht änderten – nicht einmal eine neue Kulturbewegung schien sichtbar zu sein. In der negativen Dialektik schrieb er: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll. Indem sie sich restaurierte nach dem, was in ihrer Landschaft ohne Widerstand sich zutrug, ist sie gänzlich zu der Ideologie geworden, die sie potentiell war, seitdem sie, in Opposition zur materiellen Existenz, dieser das Licht einzuhauchen sich anmaßte, das die Trennung des Geistes von körperlicher Arbeit ihr vorenthielt.“[35] Und weiter: „Wer für Erhaltung der radikal schuldigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte. Nicht einmal Schweigen kommt aus dem Zirkel heraus; es rationalisiert einzig die eigene subjektive Unfähigkeit mit dem Stand der objektiven Wahrheit und entwürdigt dadurch diese abermals zur Lüge.“[36]
Aus dieser Ausweglosigkeit heraus entstand der Satz, daß nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sei.[37] Doch läßt sich mit Adorno genauso das Gegenteil behaupten: „Wer für Erhaltung der radikal schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte. Nicht einmal Schweigen kommt aus dem Zirkel heraus; es rationalisiert einzig die eigene subjektive Unfähigkeit mit dem Stand der objektiven Wahrheit und entwürdigt dadurch diese abermals zur Lüge.“[38] So nahm Adorno auch das Diktum von der Unmöglichkeit ein Gedicht nach Auschwitz zu schreiben zurück: „Perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“[39]
Daß Adorno nicht in jedem Fall bei der Schwärze seines unbestechlichen Blickes blieb, war dem Zeitkern der Entstehung der Kulturindustrie zuzuschreiben. Über Chaplin beispielsweise erzählte er folgende entschuldigende Geschichte: „Einer der Gäste verabschiedete sich früher, während Chaplin neben mir stand. Ich reichte jenem, anders als Chaplin, ein wenig geistesabwesend die Hand und zuckte fast zugleich heftig zurück. Der Abschiednehmende war einer der Hauptdarsteller aus dem kurz nach dem Krieg berühmt gewordenen Film 'The Best Years of Our Life'; er hatte im Krieg die Hand verloren und trug an deren Statt aus Eisen gefertigte, aber praktikable Klauen. Als ich die Rechte schüttelte, und sie auch noch den Druck erwiderte, erschrak ich aufs äußerste, spürte aber sofort, daß ich das dem Verletzten um keinen Preis zeigen dürfte, und verwandelte mein Schreckgesicht im Bruchteil einer Sekunde in eine verbindliche Grimasse, die weit schrecklicher gewesen sein muß. Kaum hatte der Schauspieler sich entfernt, als Chaplin bereits die Szene nachspielte. So nah am Grauen ist alles Lachen, das er bereitet und das einzig in solcher Nähe seine Legitimation gewinnt und sein Rettendes. Meine Erinnerung daran, und der Dank, sollte mein Glückwunsch zum fünfundsiebzigsten Geburtstag sein.
Dennoch schien es schwer bei der so diagnostizierten Ausgangslage Ansatzpunkte für bessere Zeiten zu sehen. Was war für den Theoretiker zu tun? Eine neue Flaschenpost zu verkorken? Oder eine Revision an einem entscheidenden Punkt der Theorie zu tätigen? Marcuse diagnostizierte den „schwächsten Punkt der kritischen Theorie: „[...] ihre Unfähigkeit, die befreienden Tendenzen innerhalb der bestehenden Gesellschaft aufzuweisen.“[40]
Bei den kritischen Theoretikern löste die Tatsache, daß nach dem Sieg über den Faschismus kein gesellschaftlicher Neubeginn stattfand, besonderes Entsetzen aus. Anstelle einer gerechteren Gesellschaftsordnung fand nur business as usual statt. Es begann die Restaurationszeit des Kapitalismus, der sich ohne das Golden Age, dem Votivbild des Kapitalismus, wohl bis heute nicht gehalten hätte.
„Der eindimensionale Mensch“ war eine Bestandsaufnahme der kritischen Theorie Marcuses zum Nachkriegskapitalismus. Wie war der restaurierte Kapitalismus organisiert? Was hielt ihn zusammen, ließ ihn sich gegen andere Gesellschaftssystem durchsetzen? Wie erhielt sich die Diskrepanz zwischen der durch den technischen Fortschritt theoretisch machbar geworden Utopie einer Welt ohne Hunger und der Wirklichkeit von der bipolaren Welt mit der Drohung eines Atomkrieges am Leben? Was behinderte die Möglichkeit der Erfüllung des einst von der kritischen Theorie postulierten „Recht auf Glück“ der Individuen?
Tatsächlich sollte das Buch zur großen Leitschrift der 68’er Bewegung werden und sich in jeder studentischen Buchhandlung zwischen Buenos Aires und Helsinki finden. Dabei war dies eigentlich ein Paradoxon: Ein Buch, das geschrieben war, um die Eindimensionalität der Subjekte im Kapitalismus aufzuzeigen, war so erfolgreich, daß Marcuse später in Erklärungsnotstand geriet: Wie konnten sich so viele Menschen für die kritische Theorie interessieren und ihr zu internationaler Anerkennung verhelfen, wenn die herrschende Eindimensionalität so totalitär gewesen war, wie von Marcus angenommen?
In „Der eindimensionale Mensch“ fand sich nicht weniger als die theoretische Legitimation auf Widerstand gegen die fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Diese theoretische Sprengkraft war einer der Gründe, warum es eine solch große Leserschaft fand. Dabei waren Marcuses Argumente keinesfalls neu, sie stellten vielmehr einen verdichteten, klaren und griffigen Höhepunkt seiner Arbeiten dar. Kernpunkt der kritischen Theorie Marcuses blieb das Beharren auf der Möglichkeit einer Welt jenseits des Kapitalismus: „Wäre das Individuum nicht mehr gezwungen sich auf dem Mark als freies ökonomisches Subjekt zu bewähren, so wäre das Verschwinden dieser Art von Freiheit eine der größten Errungenschaften der Zivilisation.“[41]
Die Kernthese Marcuses war unmißverständlich und stand in direkter Verbindung zum Kulturindustriekapitel der „Dialektik der Aufklärung“: Die Menschen im spätindustriellen Kapitalismus waren dumm gehalten und dumm gemacht worden. Die gesellschaftlich vorgegebene Kultur zielte auf die Begrenztheit ihres Denkens und Verstandes und machte sie zu eindimensionalen Menschen, deren Denken sich widerspruchsfrei durch die kulturindustriellen Normen reproduziere. 1962 schrieb Marcuse an Adorno und Horkheimer bezüglich ihrer Planungen einer Neuauflage: „Ein ungeheures Buch, das in den beinahe zwanzig Jahren seit es geschrieben wurde, nur noch ungeheurer geworden ist. Aber auch nichts was inzwischen von den Herren sotzoologen pschickologen publiziert worden ist, kommt auch nur an eine Fußnote des Buches heran.“[42]
Der Kapitalismus hatte sich verändert: Die Durchsetzung des Fordismus in den USA, aber auch der europäische Faschismus, begründete eine Kultur, in der die Arbeiter Teil des Ganzen sein sollten – selbstredend keinesfalls in ökonomischer Gleichberechtigung, aber dennoch als Kultur-, bzw. Produktempfänger. Ausdruck und Möglichkeit dieses Einheitsbewußtseins stellten die neuen Medien des Radios und Fernsehens dar.
Oder mit den Worten Henry Fords gesprochen: „Sie können jede Farbe haben, solange es schwarz ist“. Dieser Satz symbolisierte, was mit Eindimensionalität gemeint war: Zu denken, daß jede Farbe zu haben sei, während die Wirklichkeit aus Schwarz bestand. Die Vergesellschaftung des Bewußtseins, so Marcuse, sei der Kern des neuen Typus des Kapitalismus, in dem die neuen Formen der Propaganda mittels der neuen Technologien jeden Haushalt erreichten: „Die massive Vergesellschaftung beginnt zu Hause und hemmt die Entwicklung des Bewußtseins und Gewissens. Autonomie zu erreichen, erfordert Bedingungen, unter denen die unterdrückten Dimensionen der Erfahrung wieder lebendig werden können; ihre Befreiung erfordert die Unterdrückung der heteronomen Bedürfnisse und weisender Befriedung, die das Leben in dieser Gesellschaft organisiert.“[43] Die neue Form der Herrschaft bestand für Marcuse in einer Maschinerie, die im Begriff war sich zu verselbstständigen. Dem Einzelnen bliebe im Falle des Protestes nur ein bürokratischer Niemand an der Spitze. Das Komplizierte an dieser neuen Form politischer Herrschaft bestand in ihrer Undurchschaubarkeit.
Durch die Kulturindustrie war den Menschen, so Marcuse, auch das nötige sprachliche Instrumentarium abhanden gekommen, um die Gesellschaft adäquat kritisieren zu können: „Indem die Menschen ihre eigene Sprache sprechen, sprechen die Menschen auch die Sprache ihrer Herren, Wohltäter und Werbetexter. Daher drücken sie nicht nur sich selbst aus, ihre eigene Erkenntnis, ihre Gefühle und Bestrebungen, sondern auch etwas anderes als sich selbst.“[44] Dieses „andere“ bestand für ihn in der Reproduktion des Vorgegebenen. Die tätige Leistung des eigenen Denkens werde erdrückt von der großen Maschine des Ganzen. „Es war die totale Mobilisierung der materiellen und geistigen Maschinerie, die ganze Arbeit leistete und ihre mystifizierende Macht über die Gesellschaft installierte. Sie diente dazu, die Individuen unfähig zu machen, »hinter« der Maschinerie jene zu sehen, die sich ihrer bedienten, von ihr profitierten und jene, die für sie zahlten.“45
Während Marcuse also bei der „traditionellen“ Arbeiterklasse ein eindimensionales Bewußtsein diagnostizierte – ein Schlag ins Gesicht des orthodoxen Marxismus -, setzte er seine Hoffungen auf die sog. „Randgruppen“. „Unter der konservativen Volksbasis befindet sich jedoch das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses; ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre Opposition revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewußtsein. […] Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, daß sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen. Ihre Kraft steht hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer von Gesetz und Ordnung. Die Tatsache, daß sie anfangen sich zu weigern, das Spiel mitzumachen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode markiert. Nichts deutet darauf hin, daß es ein gutes Ende sein wird.“[46]
Marcuses radikales Eintreten für eine Gesellschaft neuen Typs zielte auf ein wirkliches historisches Novum ab: Sowohl den real existierenden Demokratien des Westens, wie dem real existierenden Kommunismus des Ostens sprach er die Basis für eine gerechte Welt ab: „Die verhängnisvolle wechselseitige Abhängigkeit der einzigen beiden »souveränen« Gesellschaftssysteme in der gegenwärtigen Welt drückt die Tatsache aus, daß der Konflikt zwischen Fortschritt und Politik, zwischen dem Menschen und seinem Herren total geworden ist. Wenn der Kapitalismus sich der Herausforderung des Kommunismus stellt, so stellt er sich seinen eigenen Möglichkeiten: eine beachtliche Entwicklung aller Produktivkräfte, nachdem die privaten Profitinteressen zurückgestellt wurden, die solch eine Entwicklung hemmen. Wenn der Kommunismus sich den Herausforderungen des Kapitalismus stellt, so stellt auch er sich seinen eigenen Möglichkeiten: ein beachtlicher Komfort, Freiheiten und ein Erleichterung der Lebenslast. Beide Systeme enthalten diese Möglichkeiten bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und in beiden Fällen ist der Grund dafür in letzter Instanz derselbe – der Kampf gegen eine Lebensform die die Grundlage der Herrschaft auflösen würde.“[47]
Die traditionelle Arbeiterklasse, die Marx vor Augen hatte, als er ihr die Würde und gleichermaßen die Bürde zusprach, die befreiende Klasse für die Freiheit aller Menschen zu sein, hatte sich transformiert. Die Integration ins System, so Marcuse, sei nicht nur das Moment der Partei- und Gewerkschaftsspitzen, sondern greife auch auf den Einzelnen über. „Der Proletarier auf früheren Stufen des Kapitalismus war zwar das Lasttier, das durch die Arbeit seines Körpers für die Lebens- und Luxusbedürfnisse sorgte, während er in Dreck und Armut lebte. Damit war er die lebendige Absage an diese Gesellschaft. Demgegenüber verkörpert der organisierte Arbeiter in den fortgeschrittenen Bereichen der technologischen Gesellschaft diese Absage weit weniger deutlich und wird gegenwärtig, wie die anderen menschlichen Objekte der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der technischen Gemeinschaft der verwalteten Bevölkerung einverleibt.“[48]
Doch wie war dies praktisch möglich geworden? Wie funktionierte diese systemintegrierende Vermittlung konkret? Für Marcuse fand sie auf verschiedenen Ebenen statt: Zu allererst in der gestiegenen Anzahl der Konsumgüter und deren kulturindustrieller Vermarktung: „Die Erzeugnisse durchdringen und manipulieren die Menschen; sie befördern ein falsches Bewußtsein, das gegen seine Falschheit immun ist. Und indem diese vorteilhaften Erzeugnisse mehr Individuen in mehr gesellschaftlichen Klassen zugänglich werden, hört die mit ihnen einhergehende Indoktrination auf, Reklame zu sein; sie wird Lebensstil, und zwar ein guter – viel besser als früher -, und als guter Lebensstil widersetzt er sich qualitativer Änderung. So entsteht ein Muster eindimensionalen Denkens und Verhaltens, worin die Ideen, Bestrebungen und Ziele, die ihrem Inhalt nach das bestehende Universum von Sprache und Handeln transzendieren, entweder abgewehrt oder zu Begriffen dieses Universums herabgesetzt werden. Sie werden neubestimmt von der Rationalität des gegebenen Systems und seiner quantitativen Ausweitung.“[49] Anders ausgedrückt: Durch die Reklame, bekam der Fetischcharakter der Ware eine weitere Dimension. Während beispielsweise ein Parfüm hunderttausendfach hergestellt und beworben wurde, sollte der Einzelne das Gefühl bekommen, als Einziger einen exklusiven Duft auszustrahlen. In diesem Zusammenhang entstehe, so Marcuse, das „glückliche Bewußtsein“.
Dieses führe jedoch nur zu oberflächlichem Glück und diene letztendlich zur Verdeckung, Tarnung und Verschleierung der eigentlichen Geschichte, die sich hinter dem Rücken der Subjekte abspiele. Das glückliche Bewußtsein „reflektiert den Glauben, daß das Wirkliche vernünftig ist und daß das bestehende System trotz allem die Güter liefert. Die Menschen werden dazu gebracht, im Produktionsapparat das wirksame Subjekt von Denken und Handeln zu finden, dem ihr persönliches Denken und Handel sich ausliefern kann.“[50] Dabei existierte für Marcuse ein Missverhältnis zwischen dem eindimensionalen Bewußtsein der Einzelnen und der realen Funktionsweise dieses neuen Typus des Kapitalismus. Die Kontinuitäten, die zu Auschwitz geführt hatten, seien nicht beseitigt worden: im Gegenteil. Für Marcuse besaß dieser neue Typ des Kapitalismus dieselben Widersprüche, die die Konzentrationslager hervorgebracht hatten. „Die Welt der Konzentrationslager [...] war keine besonders entsetzliche Gesellschaft. Was wir dort sahen, war das Bild, in gewissem Sinne die Quintessenz der höllischen Gesellschaft, in der wir jeden Tag stecken.“[51]
Kollektive Verdrängung halte davon ab, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Die Psychoanalyse sei daher die notwendige Methode, die zur Dechiffrierung des Einzelnen im Ganzen tauge. Freud konstatierte er, daß er „in der Psyche des Individuums die Verbrechen der Menschheit aufdeckte, in der individuellen Krankheitsgeschichte die Geschichte des Ganzen.“[52]. Das Leid des Patienten sei „[...], in gewissem Sinn […] eine Protestaktion gegen die kranke Welt, in der er lebt.“[54] Ein These, die im aktuellen Buch von Alain Ehrenberg eindrucksvoll nachzulesen ist.
Wo die kritische Theorie auch weiterhin stehen sollte, war für Marcuse klar. Er schloß sein Buch mit den eindringlichen Worten: „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der großen Weigerung hingegeben haben und hingeben.“[55]
Bei solch großer Weigerung und Ablehnung der bestehenden Kultur erscheint eigenes Wirken schwer. Doch muß sich hierbei vergegenwärtigt werden, daß die Kulturkritik der Kritischen Theorie nicht das Motto des Kleinbürgers ist, des Spießers, der ausruft: „Die neuen Dinge taugen alle nichts“, denn der Spott übers neue macht sich groß wo ein Auftrag vorliegt - Auftrag der herrschenden Klasse gegen um sich greifende Unzufriedenheit und ihre Bilder.
Auch Adorno erkannte, welchen Weg die von ihm geschätzte, einst kritische bürgerliche Kultur, nahm, nämlich den „daß die Kunstwerke in einem Pantheon unverbindlicher Bildung nebeneinander aufgebahrt, zu Kulturgütern verwesen.“[56] Nicht alle Kunst hat ihren Stachel verloren, einiges spricht aus, „daß die Möglichkeit erstickt zu werden droht.“[57]
Ein Gedanke sei zum Schluß noch angebracht, der der kritischen Theorie in dieser Form bisher fehlt: Kulturindustrie hat gegenüber der Politik in dem Maße ein fortschrittliches Moment, da sie in ihrer Normativität – insbesondere bei der Reklame – viel deutlicher ausmalt, welche Welt bei gerechter Verteilung des Produzierten möglich ist. Werbung zeigt deutlicher als alles andere, daß vom Stand der Produktivkräfte ein glückliches Leben für alle möglich ist. Die Autowerbung in der bürgerlichen Zeitung läßt den Schreiberling, der im Sinne der Wirtschaftskrise den Verzicht des geduckten Menschen zugunsten der Oberen fordert, wie einen Scharlatan dastehen. Das Maß an Glück, daß Werbung kollektiv verspricht, ist das einlösbare Taktmaß, nach dem eine Versorgung aller mit Gütern ökonomische heute möglich ist. Dabei verrät sie mehr als sie eigentlich will – was dem reinen Kommerz und dem Verkauf des Produktes dienen soll und sich repressiv im Subjekt als affirmative Kultur breitmacht, beinhaltet unbewußt kritisches, wenn es als solches gelesen werden kann und sich umkehrt in die Forderung nach einer solidarischen Ökonomie, die wahr werden läßt, was bisher nur als bürgerliches Luftschloß vorgezeichnet war.
Aus einem jedenfalls wird sich kritische Theorie von dem befreien müssen, was sie seit der 68er Bewegung nie ganz überwunden hatte: Damals war „die Kritische Theorie einfach nicht mehr in der Lage, eine kritische Praxis zu empfehlen.“[58] Doch auf sie kommt es ebenso an, wie auf die wissenschaftliche Erklärung der Welt, damit noch einmal Aussicht besteht auf Widerspruch zu Marx, der da sagte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ – auf Widerspruch durch Verwirklichung.
[1] Marx an Ruge, in MEW 1, S. 344
[2] Ebd., S. 345f
[3] Ebd., S. 244
[4] Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse, Frankfurt /M, 1972, S. 88
[5] Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt /M, 1965, S. 63
[6] vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, Berlin /Ost, 1976, S. 233
[7] Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur, a.a.O., S. 65
[8] Ebd.
[9] Ebd., S. 68
[10] Ebd., S. 71
[11] Ebd., S. 82
[12] Ebd., S. 89
[13] Ebd., S. 97
[14] Ebd., S. 98
[15] Ebd., S. 100
[16] Adorno-Horkheimer, 12.5. 37, in: Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule, a.a.O., S. 249f
[17] Adorno, Theodor W.: Über Herbert Marcuse, in: Gesammelte Schriften 20.2, Frankfurt /M, 1997, S. 768
[18] http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/alltagsleben/volksempfaenger/
[19] Vgl.: ARTE-Doku: Hitlers Traum von Micky Maus.
[20] http://web.utanet.at/walchhoh/html/volksempfaenger.html
[21] Siehe: Asper, Helmut G., Etwas Besseres als den Tod . . ., ,2002
[22] Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 3, S. 171
[23] Ebd., S. 184
[24] Ebd., S. 142
[25] Ebd., S. 141
[26] Ebd., S. 147
[27] Marcuse, Herbert, Der eindimensionale Mensch, Hamburg, 1967, 1988, S.28
[28] Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 3, S. 153
[29] Ebd., S. 147
[30] Ebd., S. 154
[31] Ebd.
[32] Vgl.: Denis McQuail, Mass Communication Theory. An Introduction. London: Sage 1983, S. 82/83
[33] Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/ M, 1985, S. 478
[34] Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 3, S. 142
[35] Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften 6, S. 359
[36] Ebd., S. 360
[37] Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 10.1, S. 30
[38] Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 6, S. 360
[39] Ebd. S. 355
[40] Ebd., S. 265
[41] Ebd., S. 22
[42] Herbert Marcuse: Brief an Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, 21. August 1962, in: Kraushaar, Wolfgang: Frankfurter Schule und Studentenbewegung, Hamburg, 1998, Band II, S. 155
[43] Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a a.O., S. 256
[44] Ebd., S. 208
[45] Ebd., S. 204
[46] Ebd., S. 267
[47] Ebd.., S. 75
[48] Ebd., S. 46
[49] Ebd., S. 32
[50] Ebd., S. 98
[51] Ionesco, E., in: Novelle Revue Française, Juli, 1956, zitiert in: Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Hamburg, 1988, S. 99
[52] Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 102
[53] Ebd., S. 197
[54] Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst, Frankfurt /M, 2004
[55] Ebd., S. 267
[56] Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 11, S. 409
[57] Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 8, S. 19
[58] Jay, Martin: Dialektische Phantasie, Frankfurt a. M.., 1981, S. 326
https://sopos.org/aufsaetze/41bee2e9c632c/1.phtml
sopos 12/2004