Die linke Frage.

von Sven Oliveira Cavalcanti (sopos)

 

Das Champagnerprickeln linker Utopien entpuppt sich gegenwärtig mehr als der Sprudel des Sektierertums: Linke Tradition versperrt lebendige Zukunft – Tradition, die sich am nicht „Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel nährt“. Was Benjamin der Sozialdemokratie zuschrieb – fett zu werden am Bild „einer Erlöserin künftiger Generationen“ – kehrt sich in der Gegenwart um: der Konformismus der Spaltung verhindert Praxis. Die Verherrlichung der Arbeit, „dieser vulgärmarxistische Begriff von dem, was die Arbeit ist, hält sich bei der Frage nicht lange auf, was ihr Produkt den Arbeitern selber anschlägt“. Nicht nur die Sozialdemokratie verhinderte den „Tigersprung“ – die Politik der kleinen Schritte, der Reformen zum scheinbaren Wohler aller, die doch nur das Wohl der Immergleichen bedeutete, sie verhinderte ebenso den „Tigersprung ins Vergangene“, womit ein Teil der alten marxschen Philosophie noch immer unabgegolten bleibt..

Was Benjamin einst der Sozialdemokratie entgegenhielt, – die Geknechteten und Entrückten zu Vergessen, um in blindem Fortschrittsglauben „Vorwärts“ zu schreiten –, nährt sich heutzutage an Umgekehrtem und Gleichem: Der Geknechteten und Entrechteten Los war genau jene Arbeit, die dieselbe ist wie heute, wie gestern, die an den Toren der Konzentrationslagern verherrlicht wurde, nach dessen Recht die Linke schreit. Wenn heute Linke das Recht auf Arbeit und die Würde des Einzelnen von der entfremdeten Arbeit herleiten, so vergessen sie zweierlei: Die Begriffsgeschichte der Arbeit als das was sie ihrem Ursprung nach war – Mühsal und Pein – und das was sie sein könnte: Sicherung des Notwendigen und Grundlage der Muße.

Utopie kann sie sein in dem Maße, da die technisch entwickelte bürgerliche Gesellschaft andere Möglichkeiten der Revolution bietet als zu Marxens Zeiten. Dies zu reflektieren stellt die zentrale Frage der Linken, nämlich: Wie lange muß ein Jeder pro Tag arbeiten, um den bestehen Reichtum bei gerechter Verteilung allen zugänglich zu machen? Sogar Adorno, sonst Anhänger des Bilderverbotes einer befreiten Gesellschaft, äußerte 1964 im Gespräch mit Bloch folgendes: „Wenn es wahr ist, daß ein Leben in Freiheit und Glück heute möglich wäre, dann wäre die eine der theoretischen Gestalten der Utopie, daß man konkret sagen würde, was bei dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre – das läßt sich konkret und das läßt sich ohne Ausmalen und ohne Willkür sagen.“[1] Dabei wird der Blick frei auf die Gegenwart: An welchem Bild nährt sich die Linke? Wofür wird die ganze Maschinerie angeworfen? Zu oft wurde der Linken ihr Scheitern beim Zusammenbruch des Ostblocks vorgeworfen. Zu Unrecht – gescheitert war sie zuvor, weil sie utopielos geworden war. Sie hätte empirisch ausmalen können, welches Maß an Arbeit in Ost und West nötig gewesen wäre, um ein Leben im Wohlstand – weltweit und für jeden, egal welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe, sexueller Präferenz, etc. – zu gewährleisten. Statt sich queer zu stellen, hätte sie die Determinanten der Notwenigkeit des queeren in Utopie abschaffen können; statt dessen entbrennen Diskurse um Repräsentanz und Differenz, die die Veränderung des großen Ganzen in dem Maße aus dem Blick verschwinden lassen, da sie sich nach Repräsentanz sehnen. Der Diskurs um Repräsentanz wird zur empirischen Frage, das was Sein könnte zur vergessenen. In dieser Konstellation sind sowohl die geknechteten Vorfahren, wie die befreiten Enkel nicht existent.

Man denke sich für einen Moment den ganzen Plunder beiseite: Ein Militär, welches menschliche Arbeitskraft in solchem Maße und solcher Nutzlosigkeit bündelt; Werbetreibende, die an Verkauf und Verpackung arbeiten, Bürokratien, die den status quo verwalten – all jenes sei nur einen Moment in produktive Tätigkeit umgedacht. Konkurrierende Konzerne, deren Produkte sich qualitativ nur graduell unterscheiden – welches Unmaß an menschlicher Arbeitskraft bindet all dies? Was braucht es wirklich an menschlicher Arbeit im Zeitalter der Nanotechnologie, um ein materiell würdiges Leben zu gewährleisten? Utopisch mag klingen, was nichts anders als die Grundlage des Marxschen Blicks ist.

Das Scheitern der Linken ist 1989 nur kulminiert, weil die Anpassung ans Bestehende, an das sich die westliche Linke verschrieben hatten – bis auf jene, die ihren Kopf nicht gleichschalten wollten – mit dem Marsch durch die gut bezahlten Institutionen nach 1968 begann. Vielleicht war auch diese Dutschkesche Parole selbst nur noch ein Abwehrgefecht, doch die Zersplitterung der Linken war unübersehbar: Vom Schutz der Wale, über die Anti-AKW-Bewegung und auch die Hausbesetzerbewegung – sie alle fochten Abwehrkämpfe. Bürgerinitiativen und One-Point-Movements fragmentierten die Linken in ihre milieuspezifischen Interessen. Eine gemeinsame Utopie vom freien Leben war nicht identifizierbar – die Utopien liefert die werbefinanzierte Journaille in jeder Annonce.

Die Linke ist dieser Tage in einer fruchtbaren Erneuerung: Der Antisemitismusstreit hat ihr nicht nur nicht geschadet, sondern er war ein Segen. An keiner andern Frage, in keinem weltpolitischen Brennglas heizen sich die Apologeten des Bestehenden in der einen wie der anderen Richtung erkennbarer auf. Die einen suhlen sich in der narzißtischen Kränkung, daß die verfolgten Juden auch keine bessere Welt im Kleinen schaffen konnte – die anderen freuen sich über ein angeblich antifaschistisches Massaker. Beide haben die Utopielosigkeit ihrer vermeidlichen Gegner und vermeidlich Verbündeten übernommen und sich im Bestehenden so weit arrangiert, daß der Tigersprung nur zum intellektuellen Kriegskredit reicht.

Es gibt das alte linke Thema: Die Strasse. Wie kann die Linke all jene binden, deren täglich Geist das karge Brot der Bildzeitung ist? Solange keine verbindliche, empirische linke Utopie vorhanden ist, die es vermag, den Proletarier, der herangezüchtet wird, um im entscheidenden Moment zum Prolet-Arier zu werden, an sich zu binden, solange kein anderer individueller Entwurf als Parteidsiziplin oder die Freiheit des Fernsehens zum Lohn der Arbeit winkt, solange existiert für die große Masse kein Grund für eine Sache zu kämpfen. Die deutsche Aufklärung trug das Leitbild des aufgeklärten Monarchen vor sich her, die Linke steht derweil vor dem Leidbild des aufgeklärten Kleinbürgers. Sollten sie sich zusammenrotten und die grimmige Scherzfrage (Adorno) beantworten wollen, so bedarf es einer Utopie – sie braucht nur vorgepinselt, umrissen und nicht detailliert ausgemahlt zu sein. Es sollte nicht schwerer sein, jemanden davon zu überzeugen, daß der Mensch nur vier Stunden am Tag arbeiten müßte, als daß ihm der Ausländer seinen Arbeitsplatz wegnimmt. Wenn da nicht die Herrschenden seit jeher, im Besonderen die Deutschen, ihre Trumpfkarte ganz besonders gemischt hätten.

Dennoch hat die Linke gegenwärtig die Chance sich zu positionieren. Sie muß das Noch-Nicht-Bewußte (Bloch) transzendieren, das Vorbewußte in konkrete Utopie umgestalten. Mit Benjamin gesprochen: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der »Ausnahmezustand«, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dabei wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen“.

 

Anmerkungen

[1] Bloch Ernst & Adorno: Theodor W.: Etwas fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Rundfunkgespräch mit Theodor W. Adorno, 1964, in: Bloch, Ernst: Ergänzungsband zur Gesamtausgabe: Tendenz – Latenz – Utopie, Frankfurt /M, 1978, S. 364