Zur normalen Fassung

Die Zerstörung der sozialen Demokratie in Zeitlupe

Harz IV ist die schriftliche Kündigung des Verfassungskompromisses von 1948

von Gregor Kritidis (sopos)

Das Verhältnis zwischen DGB und SPD gleicht gegenwärtig dem absurden Theater einer zerrütteten Beziehung im Endstadium: jeder Versuch, wieder zusammenzufinden, endet in schöner Regelmäßigkeit in einem neuem Krach. Daß die SPD in diesem Konflikt stärker erscheint, täuscht jedoch über ihre reale Kraft hinweg. Die Debatten über die Ergebnisse der letzten Landtags- und Kommunalwahlen belegen ebenso wie die unisono von Regierung wie Opposition geteilte Empörung über die angekündigten Erhöhungen der Energiepreise, das "Mißmanagement" bei Karstadt oder die Entlassungspläne bei Opel: dem politischen Establishment geht vor dem Hintergrund einer keinesfalls abflauenden Proteststimmung im Land der Kiel auf Grund. Behauptungen, an Harz IV würden sich die Leute schon gewöhnen wie an die Praxisgebühr, und die Bemühungen, vorzurechnen, wie wunderbar es sich von 345 Euro leben läßt (im Osten von 331 Euro), sind wie das Pfeifen im Wald. Die über Wochen jeden Montag wiederholte Selbstsuggestion, die Zahl der Teilnehmer an Montagsdemonstrationen nehme von Mal zu Mal rapide ab, wurden durch die weit abweichenden Angaben über die - zugegebener Maßen schwer zu schätzenden - Teilnehmerzahlen stetig dementiert. Auch wenn die Welle von Straßenprotesten - im Westen hat sie sich noch gar nicht voll entfaltet - vorerst abgeflaut ist: Wer glaubt, das Thema Agenda 2010 bzw. Harz IV sei bald erledigt, hat sich die Bestimmungen dieses Gesetzes noch nicht genau angesehen. Allein die Einführung des Arbeitslosengeld II (ALG II) stellt einen Bruch mit zentralen Prinzipien der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft dar:

Im Gegensatz zur bisher geltenden Sozialhilfe wird das ALG II pauschal bezahlt, d.h. ein jeder muß zusehen, wie er mit 345 Euro (Ost: 331 Euro) plus ein bis zwei Euro Stundenlohn über die Runden kommt. Die Ersetzung einer kaputte Waschmaschine ist bei Harz IV genauso wenig vorgesehen wie ein neues Paar Schuhe für die Kinder, wenn diese vorzeitig aus den bisherigen herausgewachsen sind.[1] Das Unwort "Armutsgewöhnungszuschlag" zeigt die Tendenz von Harz IV deutlich an; zurecht spricht der DGB von einem Verarmungsprogramm für Millionen. Mit der Sozialhilfe wird das Prinzip der Bedarfsdeckung abgeschafft, das bisher das soziokulturelle Lebensminimum garantieren sollte und es trotz aller rechtlichen Winkelzüge und repressiven Elemente auch getan hat, - ein bespielloser Bruch mit dem in der Verfassung verankerten Sozialstaatsgebot und dem Gebot der Menschenwürde.[2]

Durch die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen wird de facto das im Grundgesetz garantierte Recht auf freie Berufswahl abgeschafft. Da kaum genügend Niedriglohnjobs geschaffen werden können, ohne irgendwann in die Tarifautonomie einzugreifen, droht auch hier der Bruch von Verfassungsnormen. Bis zur Etablierung eines wie auch immer organisierten Arbeitsdienstes ist es dann nur ein kleiner Schritt. Daß der Zwang, einen Ein-Euro-Jobs anzunehmen, zunächst auf junge Leute beschränkt bleiben soll, ist das Ende der Fahnenstange offenbar noch lange nicht erreicht.

Harz IV stellt die schriftliche Kündigung des "asymmetrischen Klassenkompromisses" (Peter von Oertzen) dar, einen beispiellosen Bruch mit zentralen Verfassungsprinzipien, wie sie mit dem Verfassungskompromiß von 1948 im Grundgesetz verankert worden waren. Die Würde des Menschen - sie bekommt mit Harz IV einen Preis.[3] Aber im Kern geht es nicht um die Lebensbedingungen von Almosengeld-II-Beziehern. Die Offensive von Siemens und Daimler-Chrysler zur Senkung der Löhne und Verlängerung der Arbeitszeiten im Sommer zeigt an, daß im Kern die Gesamtheit der Lohnabhängigen getroffen werden sollen. Wer bei Arbeitslosigkeit innerhalb kürzester Zeit in die staatlich organisierte Armut rutscht, wird bereit sein, sich im Betrieb und Büro einiges gefallen zu lassen.

Die Vorstöße zur Einführung eines Mindestlohns durch die SPD-Führung, die von Teilen der Gewerkschaften wie der Verdi dankbar aufgenommen wurden, geht vor diesem Hintergrund vollkommen in die Irre. Wäre die SPD gegen Lohndumping, wie sie vorgibt, hätte sie die Sozialhilfe einfach beibehalten können. Staatliche Mindestlöhne sind mit dem deutschen Rechtssystem aber schlecht vereinbar, da sie einen Eingriff in die Tarifautonomie darstellen. Auch wenn dieser Eingriff in diesem Fall zu Lasten der Arbeitgeber ginge: Es würde ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen, der der Argumentation für die Einschränkung der Tariffreiheit den Weg ebnet. Es ist absurd: Zu verlangen, daß der Staat nun das richten soll, was er erklärtermaßen aushebeln will, ist politisch gefährlich, denn soviel Naivität kann man Herrn Bsirske kaum unterstellen. Wollen die Gewerkschaften Mindestlöhne, müssen sie diese selbst durchsetzen, d.h. müssen sie offensiv den Kampf auf der Ebene der Betriebe aufnehmen. Zweifellos lassen sich Tarife in vielen Branchen nicht mehr für allgemeinverbindlich erklären. Aber daraus gilt es, Konsequenzen zu ziehen. Das ist nicht unmöglich, wie sich am Beispiel etwa der US-Gewerkschaften zeigt. Der Vorschlag der IG-Metall, mit Allgemeinverbindlichkeits-Klauseln zu operieren, geht daher in die richtige Richtung.[4] Und: eine offensive Unterstützung der Organisierung von Arbeitslosen ohne politische Vorgaben wäre dringend geboten.

Aber es geht um mehr, viel mehr: Die Republik wird Schritt für Schritt von einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat, der die Bundesrepublik trotz allem immer gewesen ist, zu einem autoritär-repressiven Obrigkeitsstaat umgewandelt. Die Sozialdemokratie steht da in einer unheiligen Tradition. Schröder und Clement retten nun den Sozialstaat wie Ebert und Noske die Republik 1918, und die Gewerkschaften machen nicht den Eindruck, ihnen entschieden entgegentreten zu wollen. Genaugenommen läßt die Struktur der Gewerkschaften auch kaum etwas anderes zu als den gegenwärtigen Schlingerkurs. Um so entscheidender ist es, daß die unteren Gewerkschaftsgliederungen den Protest gegen Harz IV und die Selbstorganisierung der Betroffenen voranbringen. Die Rechtsradikalen werden jede Lücke, die sich ihnen bietet, nutzen, um sich als einzig wahre Widerstandkraft gegen die Regierung zu profilieren. Noch ist genügend Zeit, einer breiten Tendenz nach rechts entgegenzutreten.

Auf die politischen Eliten, das sollte man aus der Geschichte gelernt haben, ist gerade in Deutschland kein Verlaß.

Anmerkungen:

[1] Die Grünen heben an der Pauschalierung insbesondere ihren unbürokratischen Charakter hervor. Zynischer könnte man es kaum betrachten: Abgesehen davon, daß die Beantragung des ALG II keinesfalls unbürokratisch ist - zusätzliche Anträge fallen in der Tat weg, weil man keinen Anspruch auf zusätzliche Leistungen hat.

[2] Vgl. Loccumer Initiative Kritischer WissenschaftlerInnen (Hrsg.), Armut als Bedrohung. Der soziale Zusammenhalt zerbricht. Ein Memorandum. Mit einer Einführung von Oskar Negt. Kritische Interventionen Bd. 7. Hannover 2002, S. 52ff.

[3] Die Würde des Einzelnen wird mit dem pauschal gezahlten ALG II eine "Durchnittswürde", freilich nach Ost- und Westdeutschland getrennt. Besser könnte man die "Mauer in den Köpfen" nicht zementieren.

[4] Mindestlöhne sind übrigens nicht zwingend ein Schutz gegen Armut, wie sich an vielen europäischen Nachbarländern zeigen ließe.

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/416d7b4118fd4/1.phtml

sopos 10/2004