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Vampire und heilige Krieger

von Utz Anhalt (sopos)

Vampire werden real - wenn man den Tod und die Hölle in die Welt holt. Der durch London gejagte transsylvanische Tattergreis verliert in dieser Realität seinen Schrecken.

Der Vampir ist als literarische Figur bekannt, zum Großteil als Variation des Romans "Dracula". Kein Topos des Unheimlichen erfreut sich so reger Verbreitung wie der Vampir, eine Kreatur, die anderen das Lebensfluidum aussaugt, die nicht tot, nicht lebendig ist. Der Blutsauger ist nicht nur ein literarisches Motiv. Der Antisemit Houston Steward Chamberlain bezeichnete Juden als Vampire, Voltaire Börsenspekulanten, Marx Kapitalisten. Der Mörder von Sharon Tate, Charles Manson, sah sich selbst als Vampir an, und ein Warlord im kolumbianischen Bürgerkrieg trug den Kampfnamen "Vampir". Die sozialpsychologische-politische Metapher des Vampirs ist hochaktuell.

Ein Vampir im 19. Jahrhundert

1897 erschien der Dracularoman. Bürger hatten das "Tier in sich" als zu beherrschenden Trieb entdeckt. Sowohl in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts als auch in zeitgenössischer Literatur gibt es kaum eine Tierart, die der "Horrorzoo" nicht präsentiert hätte, von Pavianen bis zu Hyänen, von Wölfen bis zu Krokodilen.

Die Bürger ließen Dinge von den Arbeitern künstlich produzieren, sie setzten alles daran, die Natur zu unterwerfen und ihre Kräfte zu synthetisieren. Die Bürgerlichen lehnten das Gottgnadentum des Feudalismus ab, brauchten aber ideologische Legitimationen gegen die Arbeiterbewegung. Die Basis der englischen Gesellschaft war das Kaufmanns- und Industriekapital, das Leitmotiv der selbstständige Unternehmer. Industrie und technischer Fortschritt basierten auf Kontrolle und Experiment, nicht mehr auf philosophischer Spekulation. Die Naturwissenschaften bewiesen, dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung ist - die Idee der "Menschenrassen" setzte im expandierenden Kapitalismus neue Hierarchisierungen.[1]

Die Zeit zwischen Bram Stokers Geburt 1845 und der Ersterscheinung des Dracula-Romans 1897 war eine Revolution in der Wissenschaft. Hatten Anfang des 19. Jahrhunderts Naturphilosophen Lebewesen als Schöpfungen eines "Weltgeistes" angesehen, setzte sich seit 1859 die Darwinsche Lehre durch, zuerst in England, später auch in Frankreich und Deutschland. Tiere und Menschen waren demnach nicht durch göttliche Schöpfung, sondern im "Kampf ums Dasein" entstanden, Arten veränderten sich durch Anpassung an ihre Umwelt. Das "surviving of the fittest" hatte Herbert Spencer als Begründer des Sozialdarwinismus bereits Jahre zuvor erklärt: Diese Ideologie des englischen Liberalismus bezog sich nicht auf Tiere, sondern auf den Sieg der Unternehmer in der innerkapitalistischen Konkurrenz.

Die Bourgeoisie rückte Elitentum von der Gottesgnade des Adels in das Reich der Biologie. Die Rassismus wurde damit eine Modalität der Bourgeoisie, in der die Klasse gelebt wurde.

Die Verbrechen des Übervampirs Dracula im Roman von Bram Stoker sind unter Aspekten der vergleichenden Völkermordforschung gering. Zur Blütezeit des Imperialismus zerstörten die Großmächte Europas die Ureinwohner der Peripherie weltweit genozidal oder demozidal. Draculas Ziel, die Massen des britischen Empires zu Vampiren zu machen, bleibt ein Ziel, was wir ausschließlich durch seinen Gegenspieler Van Helsing erfahren.[2] Dracula war ein gejagtes Tier, einerseits übermächtig, andererseits mit waidmännischer Verve zu erlegen.[3] Wie ein Raubtier aus der Wildnis bricht der Vampirlord in die pulsierende Metropole des Kapitals ein.

Es gab kein Fernsehen, die damalige Ethnologie war die "Wissenschaft von Völkern, die noch nicht in den Geschichtszustand übergegangen sind". Dracula herrschte er über ein Freilichtmuseum, seine Aufenthaltsorte in London erinnern an den Staub auf den Präparaten in Museumsarchiven. Er ist mit "übernatürlichen" Naturkräften ausgestattet, aber der Rationalität und Entfesselung der "zivilisierten" Kolonialisten nicht gewachsen, an sein Land (Heimaterde im Sarg), an die Nacht (der Geschichtslosigkeit?) gebunden. Als solcher ist er im bürgerlich-liberalen Selbstverständnis der englischen Bourgeoisie zwar mächtig, aber museal. Die systematische Analyse ist bei Stoker dieser "wilden Herrschaft" überlegen. Die "zivilisierte" Natur siegt über die "unzivilisierte".[4]

Die Faszination der Draculafigur ist aus den Unvereinbarkeiten der westlichen Moderne erklärbar. In der fortschreitenden Urbanisierung wuchs der Wunsch, die Natur zu erhalten. Zu Ende gedacht, hätte der technische Fortschritt und die einseitige Zerstörungslogik des Kapitalismus hinterfragt werden müssen. So blieb den Bürgern Entfremdung, Unaufgelöstes und Heuchelei. Van Helsing ist ein Verschwörungstheoretiker par excellence. Van Helsing hält seine Getreuen zu bedingungsloser Gefolgschaft an, ohne ihnen zu offenbaren, worum es sich handelt. Der Zweifel am Aberglauben, das eigenständige Denken, gibt Van Helsing zufolge Dracula die Waffen in die Hand. Wie ein aus dem Zoo ausgebrochenes Raubtier war Dracula auch die Erinnerung an eine kolonialisierte Welt, Angst im Empire auf der Höhe der Macht.

Vampirkörper des 20. Jahrhunderts

Zwei Jahre nach Erscheinen des Romans ließ der britische Lord Kitchener Internierungslager für 150 000 Frauen und Kinder im Burenkrieg errichten. 23 000 der Internierten starben. Das für die Bürger der Metropolen beschauliche 19. Jahrhundert war vergangen. Der Erste Weltkrieg beendete das diplomatische Geflecht des 19. Jahrhunderts und den Enthusiasmus der europäischen Bourgeoisie. Das Kolonialventil war erschöpft, die Kapitalstaaten hatten sich in Materialschlachten zerstört.

Der amerikanische Schriftsteller H.P. Lovecraft kreierte in den 1920er Jahren eine neue Dimension des Horrors - für Ungläubige. In Lovecrafts Geschichten siegt nicht das "Gute", sondern das Entsetzen, eine Kosmologie des Grauens - eine Abbildung der Materialkriege des 20. Jahrhunderts. Lovecrafts Charaktere sind keine Geisterseher, sondern Rationalisten, ehrgeizige Wissenschaftler und Mechanisten. In der Figur des Arztes Herbert West schwindet unter dem Forschungsdrang jegliche humane Ethik:

"Mit Haeckel einer Meinung, dass alles Leben ein chemischer (...) Prozeß sei und dass die sogenannte "Seele" ein Mythos ist, glaubte mein Freund, dass (...) ein Körper (...) mit entsprechenden Maßnahmen wieder funktionsfähig gemacht werden könne, in der ihm eigentümlichen Art, die wir Leben nennen."[5]

Herbert West, der Wiedererwecker, bringt Tote und Leichenteile mit einer chemischen Substanz wieder in Bewegung. Der Weltkrieg liefert ihm Material, frische Kadaver - er mordet, um "lebende Tote" zu erschaffen. Am Ende richten seine Kreaturen ihn. Ein Ofen enthält undefinierbare Asche. Diese literarische Figur war eine mentalitätsgeschichtliche Metapher. Die Assoziation zu den furchtbaren Medizinern der Nazizeit ist offensichtlich.

Klaus Theweleit entschlüsselte in den Männerphantasien die "eigentümliche Art", in der Weltkrieger "Leben" verstanden. Krieg ist die Quintessenz des Grauens. Um es deutlich zu sagen: Es gab Menschen, die in den Krieg mussten, ohne es zu wollen, die als Kanonenfutter verheizt, als Deserteure erschossen wurden und sich 1918 in den Soldatenräten organisierten. Viele Soldaten sahen das Kriegsende als Befreiung an. Ein bestimmter Typus brauchte aber den Krieg, da der Krieg seiner Psyche entsprach.

"Im tötenden Eingriff in andere Menschen "distanziert" er sich, "differenziert er sich aus ihnen heraus und ist noch einmal dem Tod entgangen, indem er ihn verteilt. (...) Im Ausbruch geben sie der Welt ihre Form von Leben: den Tod."[6]

Das kennzeichnete nach Klaus Theweleit die psychische Struktur der Freikorpssoldaten der Weimarer Republik, den faschistischen Sozialcharakter. Die Lust, die Entfaltung der Körperströme, die sexuelle Vereinigung pervertierte in ihr Gegenteil. Blut trat an die Stelle von Sperma und Vaginalflüssigkeit, die "soziale Begegnung" war das Töten des Anderen! Die Unfähigkeit, in die Welt zu strömen, gebrochen an der harten Hand der verschiedenen Erziehungsinstanzen, transformierte in der Explosion der Handgranate. Sie töteten nicht, um Befehle auszuführen, sondern, weil es sie im Innersten bewegte - im Wortsinne. Im Wortsinne handelte es sich um Vampirismus, die Töter "tranken Blut", damit ihre Körperstruktur nicht zusammenbrach.

Theweleit zeigt, wie der Kriegsapologet Ernst Jünger diesen Blackout beschrieb:

"(...) denn plötzlich ist man aus einem denkenden ein empfindendes Wesen geworden (...). Das sind Faktoren, die wir zu leugnen pflegen (...). Stürzen sie sich aber auf uns wie Fledermäuse aus dunklen Verliesen, dann ist alles Leugnen umsonst."

Mit der Fledermaus hatten diese psychischen Auflösungen nichts zu tun, ebensowenig mit dunklen Orten außerhalb. Theweleit betonte, dass Jünger eben nicht die äußeren Kriegshandlungen beschreibt. Es handelt sich um ein Soldaten-Ich, das zwischen Befehlsstacheln in der inneren Leere eines Nervengerüsts zusammenbricht. Die Sinnlichkeit war im Drill abgetötet, aber der Mensch ist keine mechanische Funktion und die Lust kehrt wieder - das Körperliche, das Weiche wird vom "Kriegsmann" als Bedrohung von außen wahrgenommen. Die eigene Libido erscheint ihm als Schlamm, Sumpf, Schmutz, wucherndes Untier, Krake, Vampir - Diese Weichheit des Körpers muss mit Stahlgewittern abgewehrt werden! Der Krieg im Inneren suchte sein Äquivalent in der Außenwelt.

Ein Zeitgenosse Ernst Jüngers, Fritz Haarmann ermordete in Hannover in der Nachkriegszeit zumindest 24 Jungen. "Haarmann tötete schließlich so leicht, wie er sich die Schuhe putzte."[7] Theodor Lessing skizzierte eine vampireske Psyche:

"Dabei bleibt der (...) Oberbau, abgeschnürt vom Triebvampirismus, völlig unversehrt. Es fehlen in solchen Fällen alle stabilisierenden Hemmungen (...). An ihre Stelle traten wieder wie beim Tier die automatischen Triebreaktionen (...) für welche die Sachverständigen kein Auge hatten."[8]

Aus einem "denkenden" wurde ein "fühlendes Wesen"? Dieses "Wesen" entfaltete seine Gefühle nicht. Im Gegenteil: Die "stabilisierenden Hemmungen", die Entwicklung der Körperlichkeit war bei Fritz Haarmann jäh abgebrochen und in ihr Negativ verkehrt. Fritz Haarmann war wie der Zerrspiegel einer entfalteten Menschlichkeit. Sexualität, deren lustvolle Praxis Leben hervorbringt, war für ihn Töten. Soziale Beziehungen, die Kontaktflächen öffnen und die lebendige Vermischung ermöglichen, die wir Gesellschaft nennen, waren das Verhältnis eines Räubers zu seiner Beute. Der weiche Penis, der sich im Geschlechtsakt ausdehnt und vermischt, war für ihn das Liedgut gewordene Hackebeil. Der Kuss, in dem Menschen ihre Körper verbinden, war Fritz Haarmann der Biss in den Hals, die Praxis der Liebe war die Praxis des Tötens.

Theodor Lessing erkannte in Haarmann den "Leerlauf des Willens" als Nemesis der Nachkriegs- und Vorkriegszeit. Nicht ein bösartiges Ziel war für Lessing das reale Grauen, sondern der Leerlauf einer mechanischen Zerstörung, der jeglicher Traum, jegliche Utopie fehlte. Ein Ergebnis dieser sozialpsychologischen Abgründe erkannte Lessing im "motivlosen Massenmörder". Das war ein Unterschied zur Draculafigur. Fritz Haarmann fehlte jegliche Magie, alles Zauberhafte. Fritz Haarmann fehlte jede persönliche Bindung zu seinen Opfern und zu sich selbst! Er hasste die Jungen, die er tötete, nicht. Geschlechtskontakt und Töten war ihm eins. Und Fritz Haarmann verhielt sich wie ein Vampir: "Es besteht auch die (...) Möglichkeit, dass er gelegentlich die Halsschlagader (...) ansog und das warme Blut eintrank, wodurch das Fehlen von Blutflecken erklärt wäre."[9]

Lessing bemerkte, dass Haarmann auch jede Heuchelei fehlte. Die Konstruktion höherer Ziele, Gott, Nation oder Vaterland war Fritz Haarmann ebenso fremd wie die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft. In Fritz Haarmanns Taten konzentrierte sich atavistisch der Zeitgeist - so Lessing. So war auch Haarmann für Lessing nicht der eigentliche Täter: "Er war nichts als ein im Käfig verunzüchtetes und von der Gesellschaft mißbrauchtes primitives Tier, das vor dem Kreuz zusammenbrach."[10] "In Hannover an der Leine, in der Roten Reihe Acht, lebte einst der Fritze Haarmann und hat Menschen umgebracht. Aus den Augen macht er Sülze, aus den Knochen macht er Fett," sang man in Hannover. Es handelte sich vermutlich um eine Mischung aus schwarzem Humor und der Kompensation von Angst.

Freikorpssoldaten reimten: "Erschlagt den Walter Rathenau, die gottverfluchte Judensau" und setzten die Reime in die Tat um. "Rache ist Blutwurst", "Blut muss fließen knüppelhageldick, wir scheissen auf die Freiheit der Judenrepublik", ein Schöpfungsprozeß aus dem Töten, so verkündeten sie die kommende Zeit.

Richtet man den Blick nicht auf die politischen, sondern auf die psychischen Hintergründe, ist der Unterschied zwischen Fritz Haarmann und den Mördern von Luxemburg, Liebknecht und Rathenau der zwischen Individuum und autoritärem Kollektiv - Blutfluß, Erschlagen, Knüppel, Exkremente, Schlachten (Sau). Ethische Unterschiede im gewollten Handeln sind es nicht. Es fließt keine Lustflüssigkeit, sondern Blut, es gibt keine zärtliche Berührung, sondern Totschlag, das Gegenüber aus Fleisch und Blut ist kein Subjekt der Zuneigung, sondern Schlachtvieh.

Solange sie im Körper der Truppe, des Männerbundes, marschierten, blieb der "Oberbau" unversehrt. Er konnte durch den Ausbruch, das erlaubte Töten, zusammengehalten werden. Theodor Lessing benannte das Grauen seiner Zeit: "Ganze Pflanzen- und Tierwelten, Millionen von Menschen werden geopfert, Kinder verkümmern an Webstühlen, (...) überall zehrt die "Kultur" an fremden Leben, wir aber spielen Vogel Strauß und tun, als ginge es uns nichts an."[11] Die Vampirfigur war Lessing das Gegenteil von Stoker. Nicht der Bewohner der Peripherie, der in die Metropole eindringt, ist vampirisch, sondern die Praxis der Bürger der fortgeschrittenen Kapitalstaaten - bei Haarmann die Traumlosigkeit, der persönliche Sehnsüchte, "Naturgefühl" fehlten.

"Dort aber, wo der moderne Mensch (...) in maßloser Selbstüberschätzung der Erde übermächtig gegenübertrat, da ist er zum Teufel an ihr geworden."[12] Dies war Lessing der Leerlauf des Willens - eine "Mordchemie" auf höchstem technologischen Niveau - technischer Fortschritt, der eben nicht zu menschlichem Fortschritt führte, sondern die Dimension des Terrors am Mitmenschen und der nichtmenschlichen Natur vervielfältigte. Die Träger dieses Fortschritts sahen weg. Bürgerliche betrachteten sich als zivilisiert, setzten ökonomische Überlegenheit mit menschlicher Entwicklung gleich, erkannten "Barbarei" bei nichtindustrialisierten Kulturen - eine Legitimation, sie barbarisch zu behandeln. Lessing erkannte ähnliche Mechanismen wie später Theweleit: "Nicht aber die Natur schuf die bösartigen Ungeheuer. Der Käfig schuf sie. (...) Unsere Irrenhäuser liefern Irrsinn. Unsere Zuchthäuser züchten Verbrecher."[13] Die Kasernen schufen Soldaten, die Fabriken lieferten Kanonen. Theweleit skizzierte bei Höß, dem Kommandanten von Auschwitz, ein KZ seiner Wünsche.

"Dieser leere Wille entfesselt Kriege, zündet Städte an, sprengt Eisenbahnzüge, organisiert (...) Grauens- und Schreckenstaten in großem Stil, ohne daß andere Antriebe dahinter stünden als die Angst des leeren Willens vor der Leere, als die Sucht des inhaltslos gewordenen Seelenlebens, sich erfüllt und bestätigt zu sehen von außen her."[14] So schrieb Theodor Lessing im Jahr vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Er schrieb vom Kannibalismus in feiner Wäsche und eleganter Kleidung. Tatsächlich war ja diese Leere kennzeichnend für die Täter der nächsten Generation. Sie sahen sich auferstehen, wenn alles in Scherben fällt!

Ein erfülltes Miteinander, ein Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, das das eigene und den Anderen erweitert, findet man nicht im nationalsozialistischen Versprechen, sondern die "erlaubte Kriminalität" - die Welt zu dem zu machen, was der faschistische Charakter in sich fühlt - zu einem leeren Platz, auf dem sich nichts bewegt. Wenn die Begegnung mit dem Anderen, das Eindringen mit der Waffe, seinen Tod bedeutet, ist das Verhältnis des Antisemiten zu seinem eigenen Körper ein parasitäres. Der "Parasit", den der Faschist ermordet, ist immer auch sein Unbewusstes.

Vampire im 21. Jahrhundert

Ist das Vergangenheit? Wir leben in Zeiten, die mit dem Begriff des religiösen Wahns unzureichend dechiffriert sind. Sieht man genauer hin, so wird das Konstrukt der "Gotteskrieger" nur zu einem Teil des Wahns. Man könnte einwenden, dass die Hamas nicht die SA und Al Quaida nicht die SS ist. Das ist von den politischen Konstellationen her richtig. Aber: Die militärischen Kampfverbände der Freikorps sahen sich im reaktionären wie im emanzipatorischen Sinne nicht als politisch an, auch wenn Großkapital und SPD ohne sie die Arbeiterbewegung nicht hätten zerschlagen können - ein Punkt, mit dem die materialistische Linke schlecht umgehen konnte und die Nazis aufgrund ihrer intellektuellen Überlegenheit unterschätzte. Von ihrer Wunschproduktion her waren die Nazisoldaten weder wildgewordene Kleinbürger noch Bürokraten des Todes, sondern Töter, die im Töten Auferstehung suchten - lebendige Bomben, die zerstören wollten, um am Ende unterzugehen: "Das eigene Leben muss überwunden werden, dann werden wir stark, das Leben der Zeit zu gestalten." Das eigene Leben überwinden, zum Vampir, zum Unsterblichen werden. Was ist das Selbstmordattentat anderes als diese Überwindung des eigenen Lebens? Das Zitat stammt nicht aus dem Dracularoman, nicht von Hamas oder Al Quaida, sondern von Goebbels.

Bei vielen Selbstmordattentätern zeigten sich Traumatisierungen, die mit dem Koran oder der Bibel nichts zu tun haben. Der Faschist, der den "Boden" mit "Blut" reinigen wollte, hatte die Zerstörung seines Leibes hinter sich: Die Schläge des Vaters, den Drill in der Armee, die auf der Bettdecke gefalteten Hände - die Bestrafung jedes Zeichens von Lebendigkeit. Er war zu etwas gemacht, das nicht lebte: "Deutschland wird leben, auch wenn wir sterben müssen." Sterben war den Faschisten vertraut, Leben nur als Erwachen des Toten vorstellbar! Der Weg aus dem Ghetto der Selbstmordattentäter ist vergleichbar - autoritäre Strukturen, körperfeindliche Repression, dazu Demütigung und double-bind- der Ausbruch aus dem Gefängnis erfüllt sich im Tod der eigenen Masse und der Masse der Anderen, die in der Explosion zum homogenen Brei aus Fleisch und Blut wird, als die sie der Assasine vorher wahrnahm.

Kannibalismus in eleganten Kleidern? Das Täterprofil der Selbstmordattentäter könnte in jedem Bewerbungsschreiben stehen. Djihad und Kreuzzug, Leben als Waffe: Wo die Vernichtung des eigenen Fremden an die Stelle emanzipatorischer Utopie tritt, wird die Zeugung zur Vernichtung, der Wille läuft leer - ein Wille, der sich erfüllt, wenn der eigene Körper verbrennt, wenn das gleißende Sonnenlicht (das flammende Flugzeug, Maschinengewehrfeuer) den Untoten zu Asche verbrennt. Das Fegefeuer rückt in das Diesseits, die Hölle ist der Traum. Das Fremde wird zum Vampir, das das eigene Unbewusste geworden ist - die Entfremdung manifestiert sich in der Bekämpfung des Fremden. Die Überschneidungen sind erschreckend. Das Ziel des Selbstmordanschlags, in Jerusalem mehr als im WTC, besteht darin, möglichst viele ("feindliche"?) Leben zu vernichten - eines Gegenübers, das als amorphe Masse wahrgenommen wird.

Lessing schrieb von einer Bildungsmenschheit, die mit nur halbbewusster Heuchelei vom Mark der Erde zehrt. Sind wirklich siebzig Jahre vergangen? Die Produktionsmittel haben ein Niveau erreicht, mit dem die überwältigende Mehrheit der Menschen auf einem hohen Standard leben könnte. Es gäbe wahrscheinlich die Möglichkeit, diese Produktionsmittel so einzusetzen, dass sich die Natur mit ihrem Wunder der Fortpflanzung regenerieren könnte - kurz gesagt: Besser als je zuvor könnten wir in der besten aller möglichen Welten leben. Faktisch wird das "Mark der Erde" ausgesaugt. Der Stand der Produktionsmittel führt dazu, dass immer mehr Waren immer schneller auf Märkte geworfen, immer mehr Rohstoffe immer schneller vernutzt, immer mehr Biotope zerstört werden. Der Regenwald, die größte Bibliothek der Welt, wird zu Brennholz verarbeitet, ganze Ökosysteme verschwinden über Nacht - bevor Alternativen entwickelt werden können. Das ist in der Tat Vampirismus - metaphorisch gesagt saugt die Logik des Profits- die Verwertung des Werts- der Evolution außerhalb des Menschen das Rückenmark aus. Eine emanzipatorische Antimoderne, eine Alternative zu einer sinnentleerten Verwertungslogik im Sinne von Robert Kurz, ist nicht in Sicht.

Eine "halbbewusste" Bildungsmenschheit? "Fun" ohne Aufklärung führt zu Bewusstlosgkeit. Die Antwort auf den Terror war nicht die Suche nach den Ursachen, sondern die Vergeltung - Leere als Antwort auf Leere. Der "Vampir" hat kein Spiegelbild, in dem er sich reflektieren könnte, sondern zerschlägt den Spiegel. Die Antwort auf Irrsinn ist Irrsinn - waten im Blut mit heiligen Zeichen. Ein mit dem "Lebenssaft der modernen Technik" angefülltes Flugzeug, das in ein mit Menschen gefülltes Hochhaus rast - das ist Marinettis futuristisches Manifest im 21. Jahrhundert - der Pflock Flugzeug in das Herz des Vampirs World Trade Center, die Logik einer Symbolik, die den direkten Weg in das Paradies durch Selbstauslöschung sucht. Das "Leben im Jenseits" als Auslöschung des Diesseits - im Brand des WTC verschmolzen Täter und Opfer, Mensch und Maschine, technische Moderne und Vernichtung.

Wir leben in einer Krisenzeit: An die Stelle einer emanzipatorischen Wiederverzauberung der Welt, einer Rückkehr der Lebendigkeit in den mentalen Raum, erwachen die alten Gespenster: Dem christlichen Fundamentalisten erscheint sein Gegenüber nicht als Mensch, sondern als apokalyptischer Reiter im Wüstensand. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, wenn der Befehlsgeber einer Eliteeinheit, die in Afghanistan reale oder vermeintliche Terroristen jagt, die Positionen des völkischen Antisemiten Hohmann verteidigt. Es wäre überraschend, wenn er es nicht täte.

Der Selbstmordattentäter des Djihad erscheint als Wiedergänger derjenigen, die im Weltkrieg Millionen von Menschen umbrachten, aber nicht in der Lage waren, ihre Autoritäten in Frage zu stellen. Vampire werden real - wenn man den Tod und die Hölle in die Welt holt. Der durch London gejagte transsylvanische Tattergreis verliert in dieser Realität seinen Schrecken.

Der Selbstmordanschlag ist die "Blutstaufe" der Töter unserer Zeit, die Zeugung als Vernichtung - die Masse der gestorbenen Wünsche verleiht der Welt ihre Form von Leben - den Tod. Der faschistische Terrorist differenziert nicht, wie auch? Die Bombe, die in seiner Hand explodiert, ist sein Innenleben - Hannah Arendt schrieb das über den Antisemiten als Menschen, der Angst vor sich selbst hat. Das ist der Vampir, der lebende Leichnam, der die Energie der Lebenden sich gleichmachen will - die große Hure Babylon, das "Judentum", in dem in seiner Wahrnehmung das Differente, Halbe, Vereinzelte, Schwarze, Weiße, Brünette, Blonde etc. verschmelzen! Er nimmt das Andere als die blutige Masse wahr, zu der er die Individuen macht. Er muss Blut trinken, erst im "Öffnen der Adern" stabilisiert er sich. Die Masse, die der faschistische Charakter wahrnimmt, aus der "Krakenarme" ragen, in der "Schläfer" lauern, in der sich "der Feind feige verkriecht", die sich im Phallus der Höhen im World Trade Center offenbart und mit Feuer und Schwert bekämpft wird, sind: Die lebenden Menschen. Die Vampirmetapher als Negativfolie einer humanen Gesellschaft ist aktuell.

Eine emanzipatorische Alternative zwischen Djihad und Kreuzzug, blutenden Märtyrern und brennenden Scheiterhäufen im Irak, Afghanistan oder anderswo zu formulieren, ist schwer. Die entscheidende Differenz ist die Akzeptanz des Ungeheuerlichen als menschlich. Menschliche Greueltaten sind menschlich. Es sind eben keine Handlungen von Untermenschen, Widersachern Gottes oder Teufeln. Ich warne davor, Selbstmordattentäter in einer Spiegelwahrnehmung als Monster, Vampire oder Bestien wahrzunehmen. Fritz Haarmann, der "Werwolf von Hannover" mit seinem "Triebvampirismus" war Mensch - kein unerklärbares Urböses. Er war ein krankes Kind der Verhältnisse seiner Zeit.

Die Psyche der Bluttrinker offenbart eins: Emanzipation kann nicht durch "Meere von Blut waten". Die emanzipatorischen Revolutionen, ob die französische, die spanische oder die portugiesische verliefen relativ unblutig. Der Sturm auf die Bastille war eine Schlüsselübergabe, die spanischen Anarchisten entpuppten sich als militärische Nieten. Die Masse der Individuen, die sich zur freien Entfaltung zusammentun, verübt wenig Terror - bis es kippt, dann wird sie zum Mob, der Aufruhr zum Problem. Der "revolutionäre" Terror war vor allem die Exekution der Revolution, ob bei Jakobinern, Bolschewiki, spanischen Stalinisten oder Maoisten - die ersten Opfer waren die Revolutionäre. Das ist keine pazifistische Abstraktion, sondern eine psycho-logische Schlussfolgerung, nach Hans Peter Duerr ist Frieden der Ernstfall: Bewegung, die die Masse des Materials für den "Volkskrieg" in Bewegung setzt, um den "Feind zu zerschlagen", bringt bereits die toten Wünsche zur Auferstehung. Wer exekutiert, hat vorher seine Sinnlichkeit exekutiert.

Wir müssen mit anderen Menschen leben und uns in der Vermischung emanzipieren. Wir haben nichts als das eigene Leben und das Leben der anderen Menschen, wir sollten es entfalten, statt es zu überwinden - mit unseren Endlichkeiten, Lügen, Fehlern, Halbheiten, Ängsten und Abgründen. Dann sind wir vielleicht in der Lage, in unseren Nachbarn keine Vampire zu sehen. Der Teufel im Innern, der Reiter der Apokalypse - das sind wir.


Anmerkungen:

[1] Vgl. verschiedene Aufsätze, in: Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann: Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.

[2] Bram Stoker: Dracula. Ein Vampirroman, Wien 1967, S.217.

[3] "Bei all unseren Jagden (...) in den verschiedenen Weltteilen hatte Qunincey Morris immer die Leitung (...)."

[4] Bram Stoker: Dracula, a.a.O., S.15. Ebd., S.229.

[5] H.P. Lovecraft, a.a.O., S.114.

[6] Klaus Theweleit, a.a.O., S.208.

[7] Ebd, S.181.

[8] Theodor Lessing, a.a.O., S.181. Ebd., S.127.

[9] Ebd., S.127.

[10] Ebd., S.199.

[11] Ebd., S.87.

[12] Ebd., S.187.

[13] Ebd., S.187.

[14] Ebd., S.216.

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sopos 7/2004