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Es fehlt die Hauptperson, deren Revisionssache verhandelt wird: Der Platz des Kurdenführers Abdullah Öcalan bleibt unbesetzt. Hafturlaub hat er nicht erhalten, um seine Sache persönlich vertreten zu können. Und per Videoschaltung kann er sich dem Gericht auch nicht erklären. Doch durch seine Anwälte ist er gut vertreten. Im Saal sitzen Pressevertreter und Prozeßbeobachter aus vielen Ländern, eingeladen von einer Internationalen Initiative. Auf dem juristischen Prüfstand steht das Staatsschutzverfahren gegen den früheren Vorsitzenden der Kurdischen Arbeiter-Partei (PKK), das Ende der 90er Jahre vor einem Sondergericht in der Türkei stattgefunden hat. Bereits im Beschwerdeverfahren hatte die kleine Kammer des Europäischen Gerichtshofs in ihrem Urteil vom 13. März 2003 festgestellt, daß Öcalan kein fairer Prozeß vor einem unabhängigen Gericht gemacht wurde. Sein Recht auf Verteidigung sei eingeschränkt worden, und durch die Verhängung der Todesstrafe habe er eine inhumane Behandlung erlitten. Inzwischen wurde die Todesstrafe auf Druck des Europarates und der EU in lebenslange Haft umgewandelt und in der Türkei per Gesetz abgeschafft, ebenso wie die berüchtigten Staatssicherheitsgerichte. Der Europäische Gerichtshof hatte es allerdings unterlassen, zwei für die menschenrechtliche Beurteilung des türkischen Strafverfahrens wesentliche Sachverhalte zu klären und zu ahnden: Weder die dubiosen Umstände der geheimdienstlichen Entführung Öcalans am 15. Februar 1999 aus Kenia in die Türkei noch das Haftregime der Isolation, dem er seit seiner Inhaftierung unterzogen wird, waren erörtert worden – obwohl sie Einfluß auf das Strafverfahren hatten und es sich dabei mutmaßlich um schwere Verstöße gegen das Völkerrecht und das Folterverbot der Menschenrechtskonvention handelt. Nach seiner Festnahme war Öcalan sieben Tage lang ohne jeden Kontakt zu seinen Anwälten festgehalten worden. Weil diese Umstände nicht aufgeklärt worden waren, hatte die Verteidigung Öcalans – ebenso wie die Türkei aus anderen Gründen – Revision gegen das Urteil eingelegt. Öcalan erhofft sich nun eine verschärfte Verurteilung des türkischen Staates, während dieser sich reinzuwaschen sucht. Die englischen und kurdischen Anwälte Öcalans tragen die Begründung für ihre Revision vor, die Anwälte der Türkei versuchen, die aufgezeigten Menschenrechtsverletzungen als notwendige Antiterrormaßnahmen zu rechtfertigen. Das Gericht rafft sich kaum zu kritischen Nachfragen auf. Seine Entscheidung wird noch Monate auf sich warten lassen. Sollte es die Türkei in wesentlichen Punkten verurteilen, dann müßte der Prozeß gegen Öcalan vor einem türkischen Gericht neu aufgerollt und rechtsstaatlich korrekt durchgeführt werden. Die Türkei will das natürlich vermeiden. Und Öcalan wäre es lieber, wenn ein neuer Prozeß außerhalb des Landes stattfände – nämlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Dann endlich könnte der ursächliche Part der Türkei an dem kriegerisch ausgetragenen Kurdistan-Konflikt angemessen berücksichtigt werden – also jene grausame Unterdrückung der Kurden, gegen die sich die Kurdische Arbeiterpartei, für die Öcalan verantwortlich war, mit Gewalt zur Wehr gesetzt hat. Das würde seine Straftaten, seine Verantwortung in einem anderen Licht erscheinen lassen. Draußen vor dem Straßburger Gerichtsgebäude ist an diesem heißen Junitag erheblich mehr los als im Gerichtsaal. Hier versammeln sich bunt gekleidete Kurdinnen und Kurden, schwenken Fahnen und lassen Abdullah Öcalan hochleben. Zehntausend Menschen demonstrieren für seine Freiheit und für eine gerechte und demokratische Lösung des Kurdistankonflikts. Die Türkei ist vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits in zahlreichen Verfahren für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, insbesondere systematische Folterungen, verurteilt worden, teilweise auch zu hohen Schadensersatzleistungen an die Opfer. Trotz einiger Reformansätze wird in der Türkei nach wie vor massiv gegen Menschenrechte und rechtsstaatliche Standards verstoßen. Die größten Defizite, so stellt der letzte vertrauliche Lagebericht des Berliner Auswärtigen Amtes fest, liegen bei den Institutionen von Justiz und Polizei. Zwar gingen die Hinweise auf Fälle schwerer körperlicher Folter zurück, dafür nähmen Berichte über verfeinerte Methoden zu, die weniger bleibende Spuren hinterlassen – etwa Elektroschocks, Abspritzen mit kaltem Wasser aus Hochdruckgeräten, Androhung von Vergewaltigungen. Abdullah Öcalan wird seit nunmehr über fünf Jahren als einziger Gefangener auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer gefangen gehalten, also von der Außenwelt weitgehend isoliert, unter menschenunwürdigen Haftbedingungen. Außer mit seinen Bewachern kann er mit niemandem sprechen. Oft bleibt er monatelang ohne Besuch, weil die türkischen Sicherheitsbehörden immer wieder den Anwälten und Verwandten die Überfahrt durch das militärische Sperrgebiet mit Verweis auf defekte Boote oder schlechtes Wetter verweigern. Die verschärften Isolationshaftbedingungen bedrohen ernsthaft seine Gesundheit. Er leidet in den feuchten Gemäuern, wie seine Anwälte berichten, unter Atembeschwerden. Die hygienischen Bedingungen seien mangelhaft. Eine unabhängige Ärztekommission, so die Forderung der Anwälte und Verwandten, müsse Öcalan untersuchen und geeignete medizinische Maßnahmen ergreifen. In der Tat ist Eile geboten, sollen diese Haftbedingungen nicht zu einer Hinrichtung auf Raten führen. Just am Tag des Revisionsverfahrens im Fall Öcalan wird in der Türkei die seit zehn Jahren inhaftierte kurdische Parlamentarierin Leyla Zana zusammen mit drei weiteren ehemaligen Abgeordneten überraschend freigelassen – nicht gerade aus freien Stücken, sondern um eine wichtige Forderung der EU zu erfüllen. Ob mit dieser Freilassung einer weithin bekannten Symbolfigur des kurdischen Widerstands eine neue Ära in der Türkei angebrochen ist, bleibt abzuwarten. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für Frieden im Lande und für eine Verbesserung der Menschenrechtslage wird die gerechte Lösung des Kurdistankonflikts sein. Dieses Problem ist nach wie vor ungelöst, solange Kurden unterdrückt und ihnen kulturelle, soziale und politische Rechte vorenthalten werden. Rolf Gössner hat den Öcalan-Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg im Auftrag der Internationalen Liga für Menschenrechte beobachtet. Kontext:
Erschienen in Ossietzky 13/2004 |
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