Zur normalen Fassung

Marxistisch orientierte Theorien der Sozialen Arbeit

von Thomas Burri

Da die Ursachen sozialer Probleme nicht in erster Linie bei Einzelpersonen und deren psychischer oder physischer Verfassung liegen, sondern vielmehr in den jeweiligen ökonomischen und politischen Verhältnissen zu suchen sind, beinhaltet die Soziale Arbeit[1], die sich mit der Entstehung und der Bearbeitung der sozialen Probleme befasst, auch eine gesellschaftspolitische Frage. Vor gut 30 Jahren entstand in Deutschland im Zuge des gesellschaftlichen Wandels eine lebhafte Diskussion um Bedeutung und gesellschaftliche Perspektiven der Sozialen Arbeit. Unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung reflektierten die Lehrkräfte an den Hochschulen und die betroffenen Sozialarbeiter an der Basis die bestehenden Verhältnisse. Kritisiert wurde besonders das „langgehegte, gesamtgesellschaftliche Einflüsse nicht problematisierende Selbstverständnis“ (Otto & Schneider, 1973, S. 11) der Sozialen Arbeit. Die weit verbreitete Annahme, Antrieb des sozialarbeiterischen Handelns sei der dem Mensch innewohnende Drang zum Helfen, wurde nicht mehr akzeptiert. Otto & Schneider (1973) kritisierten wie viele andere: „Der Begriff ‚Hilfe’ wurde zum handlungsbegründenden und -leitenden Prinzip, ohne die hinter diesem so bezeichneten Tatbestand liegenden ursächlichen Faktoren und Randbedingungen zu reflektieren“ (S. 11). Besonders in Frage gestellt wurden neben dem Selbstverständnis der Sozialen Arbeit vor allem deren Institutionen, die in den Augen vieler „die Armut regulieren und selbst Ausgrenzung und Stigmatisierung produzieren“ (Kunstreich 2001, S.94).

Die Zeit des Umbruchs und die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Perspektiven Sozialer Arbeit wurde besonders geprägt durch marxistisch orientierte Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die mit den bestehenden Verhältnissen[2] am härtesten ins Gericht gingen. Anhand ihrer Diskussionsbeiträge und Theorieansätze sollen in diesem Aufsatz Möglichkeiten und Grenzen marxistischer Sozialarbeit aufgezeigt werden. Gesucht wird nach der Antwort auf die Frage:

Welche Erklärungsansätze für die Entstehung und welche Handlungsanleitungen zur Bearbeitung sozialer Probleme haben marxistisch orientierte Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen? - Untersucht anhand der Diskussionen und Theorieentwürfen der kritischen Sozialarbeit Deutschlands der Jahre 1971 bis 1982.

Es lassen sich folgende Subfragen formulieren:

Ist Marxismus und sozialarbeiterisches Handeln überhaupt vereinbar? Was ist aus marxistischen Theorien der sozialen Arbeit geworden?

Im Gegensatz zum angelsächsischem Gebiet[3] fehlt im deutschsprachigen Raum eine aktuelle Auseinandersetzung mit marxistischen Theorieansätzen beinahe vollständig. Aus diesem Grund stammt die beigezogene Literatur hauptsächlich aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts.

Es finden sich zwar noch Vertreter aus Bezugsdisziplinen der Sozialen Arbeit, die ihr den Status einer Wissenschaft absprechen. Ich gehe jedoch bei der Bearbeitung des Themas wie Engelke (2002) davon aus, dass Soziale Arbeit eine relativ selbständige wissenschaftliche Fachdisziplin ist, die auf eine lange Tradition zurückblicken kann und über Erkenntnismethoden und Wissensbestände verfügt, die in Praxis und Lehre genutzt werden (S. 9). Die Frage, inwieweit die untersuchten Beiträge wissenschaftliche Theorien darstellen, müsste diskutiert werden. Richtig ist, dass viele Verfasser der hier beigezogenen Bücher nicht eine in sich geschlossene Theorie entwickelt haben, sondern v.a. „Material für die Diskussion um Struktur und Funktion der Sozialarbeit“ (Hollstein, 1977, S. 7) lieferten. Es wurden zwar auch konkrete Objekt- und Handlungstheorien entwickelt[4], viele Theorien entstanden aber nur in Ansätzen. Deshalb ist in diesem Beitrag mehr von Theorieansätzen die Rede als von eigentlichen Theorien.

Zur Bearbeitung des Themas wurde folgendes Vorgehen gewählt: In einem ersten Schritt wird aufgezeigt unter welchen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen marxistisch orientierte Theorien und Theorienansätze entstanden sind. Ihre Entstehung wird in einen historischen Kontext gebracht. In der Folge wird auf die Gesellschaftsanalyse und -kritik der marxistisch orientierten Sozialarbeit eingegangen sowie die Bedeutung der Sozialen Arbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen untersucht. Zum Schluss werden Handlungsansätze marxistisch orientierter Sozialarbeit innerhalb der gegebenen Grenzen aufgezeigt. - Inwieweit sich die hier diskutierten Theorien auf das heutige Verständnis Sozialer Arbeit konkret ausgewirkt haben, wird an dieser Stelle nicht untersucht. Dazu wäre eine Folgearbeit erforderlich.

Die Gleichbehandlung von Mann und Frau wird in dieser Arbeit angestrebt, indem wechselweise entweder die weibliche oder die männliche Form verwendet wird. Auch wenn nur eine Form steht, sind immer beide Geschlechter gemeint (Sozialpädagogen, Sozialarbeiterinnen, Ärzte, Erzieherinnen etc.).

Historischer Kontext

In diesem Text richtet sich das Augenmerk wie eingangs erwähnt auf marxistisch orientierte Theorien der Sozialen Arbeit der siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Es gab zwar bereits vor 1933 sozialpolitische Organisationen der Arbeiterbewegung[5], deren Praxis auf marxistisch-leninistischer Gesellschaftskritik und -analyse beruhten, nur werden wir uns mit den ihrem Handeln zugrunde liegenden Theorien hier nicht vertieft befassen. Im Folgenden werden deshalb nur die historischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der sechziger und siebziger Jahren vorgestellt.

Mitte der sechziger Jahre kam es in Deutschland nach Jahren des Aufschwunges zur ersten wirtschaftlichen Flaute. Steigende Löhne, Preise und Staatsausgaben sowie Strukturprobleme im Bergbau führten 1966 zu einer Wirtschaftskrise. In Deutschland regierte eine grosse Koalition unter Bundeskanzler Kurt G. Kiesinger (CDU) und Aussenminister Willy Brandt (SPD). 1967 bildete sich eine ausserparlamentarische Opposition (APO). In zahlreichen Ländern, besonders auch in Deutschland, forderten junge Leute einschneidende Reformen. Die Studentenbewegung in Deutschland kämpfte gegen Vietnamkrieg und Notstandgesetze und verlangte nach einer Demokratisierung der Hochschulen. Grosse Teile von Studentinnen und Schülern traten aus der politischen Passivität heraus und wollten die politischen Entscheidungen nicht mehr den parlamentarischen Repräsentanten überlassen. Aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und der APO ging 1969 die Neue Linke hervor, zahlreiche revolutionäre Organisationen und Bewegungen entstanden, die zunehmend auch Arbeiterinnen und Angestellte in ihren Reihen hatten. (Engelke, 2002, S. 261-263; Haenisch, 1998, Online-Quelle)

Innerhalb sozialwissenschaftlicher Kreise entbrannte ein Streit um die richtige Wissenschaftsauffassung. Auf der einen Seite standen mit Karl Raimund Popper und Hans Albert die Vertreter des Kritischen Rationalismus, auf der anderen Seite kämpften Vertreter der Kritischen Theorie („Frankfurter Schule“) mit den Wortführern Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas für eine dialektisch-kritische Wissenschaftstheorie. Dieser Streit führte zu einer Politisierung der Sozialwissenschaften und zu einer Ausweitung der Forschungsmethoden. In dieser Auseinandersetzung wurde Emanzipation zum gesellschaftskritischen Schlüsselbegriff. Im Rahmen der Bildungsreform von 1969 wurden die pädagogischen Hochschulen den Universitäten zugeordnet, es wurden Lehrstühle für Sozialpädagogik geschaffen. Die Ausbildung[6] für Sozialarbeit wurde von den Höheren Fachschulen an die 1969 neu geschaffenen Fachhochschulen verlegt. (Engelke, 2002, S. 265-266; Haenisch, 1998, Online-Quelle)

Die Ideen von Marx und Lenin wurden für die Theorie und Praxis der Sozialarbeit entdeckt. Im November 1969 kam es in Essen zum ersten bundesweiten Treffen der systemkritischen Sozialarbeiterinnen. Es bildeten sich bis 1975 in den grossen Städten verschiedene Arbeitskreise Kritische Sozialarbeit (AKS). Diese waren ein Sammelbecken für Sozialarbeiter und Sozialpädagoginnen, die unzufrieden waren mit den katastrophalen Arbeitsbedingungen, der Abhängigkeit von der Sozialbürokratie und der Tatsache, dass sich die Lage ihres Klientels zunehmend verschlechterte. In Zeitschriften wie im Informationsdienst Sozialarbeit und in Erziehung und Klassenkampf wurden marxistische Theorien und Handlungsansätze sowie Fragen des konkreten beruflichen Alltags diskutiert. Die kritischen Sozialarbeiter waren oft starkem Druck ausgesetzt. Zum Teil wurden Berufsverbote ausgesprochen, der Zugang zu den Fachhochschulen wurde ihnen durch Eingriffe in die Ausbildungsverordnungen erschwert. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre wurde es zunehmend ruhig um die Vertreterinnen marxistischer Theorie- und Handlungsansätze. Die Mehrheit der Bevölkerung hatten u.a. wegen den blutigen Aktionen der Roten Armee Fraktion (RAF) und den Erkenntnissen über die grossen Krisen des Ostblocks vorerst genug von revolutionären Ideen. Zudem setzte ein gewisse Ernüchterung ein, weil erkannt wurde, dass eine widerspruchsfreie, sozialistische Praxis nicht möglich ist und sozialarbeiterisches Handeln im Kapitalismus immer einen Doppelcharakter haben wird. Wir kommen später noch darauf zurück. (Kunstreich, 2001, S. 81-108; Arbeitskreis Kritische Sozialarbeit, 1974)

Gesellschaftsanalyse

Die Analyse der Gesellschaft und ihrer Produktionsverhältnisse ist ein zentrales Element für die marxistischen Sozialarbeiter. Sie greifen deshalb zurück auf die Philosophie und politische Ökonomie von Karl Marx. Für die marxistisch orientierte Sozialarbeiterin ist der dialektische- bzw. historische Materialismus die zentrale wissenschaftliche Erkenntnismethode.

Dialektischer und Historischer Materialismus

Im Gegensatz zur idealistischen Wissenschaft bekennt sich die materialistische Wissenschaft zur „Ursprünglichkeit der Natur gegenüber dem Geist, der Priorität des Seins gegenüber dem Bewusstsein und der Materie gegenüber der Idee“ (Engelke, 2002, S. 314). Für Anhänger des Materialismus als philosophische Grundrichtung bestimmt also das Sein das Bewusstsein, nicht umgekehrt. Marx kritisierte an den bereits bestehenden materialistischen Auffassungen die Vorstellung von einem allgemeinen, absoluten, natürlichen, unveränderlichen Sein. Er entwickelte den dialektischen Materialismus, der das Bewusstsein nicht nur als passiven Reflex des materiellen Seins interpretiert, sondern auch als eine auf das Sein verändernd zurückwirkende Kraft sieht (Hillmann, 1994, S. 533). Die konkrete Anwendung des dialektischen Materialismus auf die Gesellschaft bringt den historischen Materialismus hervor. Dieser ist eine Besonderheit des dialektischen Materialismus und ermöglicht die historische Analyse der Gesellschaft.

Der historisch-dialektische Materialismus beinhaltet das Basis-Überbau-Modell. Darin wird davon ausgegangen, dass Religion, Kultur, Politik, Erziehung etc. (der Überbau) von der ökonomisch-materiellen Basis (Produktionsweise und -verhältnisse) abhängig sind bzw. durch sie bestimmt werden. Karl Marx schreibt dazu im Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie:

In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geisteigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. (Marx/Engels Werke, 1958, Bd. 13, S. 6, zit. in Autorenkollektiv, 1971, S. 14)

Ein solch historisch-materialistisches Vorgehen scheint für marxistische Sozialarbeiter das adäquate Mittel zu sein, um die Gesellschaft und die Entstehung sozialer Probleme zu erklären.

 

Kapitalistische Produktionsweise

Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital

Aus dem historischen Materialismus geht die Erkenntnis hervor, dass in den Industriennationen ein gesellschaftlicher Grundwiderspruch existiert, der in der kapitalistischen Produktionsweise begründet ist. Es ist der Grundwiderspruch von Kapital und Lohnarbeit. In der kapitalistischen Gesellschaft wird zwar allgemein produziert, das Resultat gesellschaftlicher Arbeit jedoch privat akkumuliert. Dies ist möglich, weil die Produktionsmittel das Privateigentum einer Minderheit sind, die die Mehrheit für sich arbeiten lässt. Der Kapitalist zieht aus der Arbeit seinen Gewinn, weil er den Arbeiterinnen nur einen Teil ihrer Arbeit bezahlt und den Rest als Mehrwert einbehält. (Hollstein, 1973b, S. 171-172) „Die Arbeitskraft ist also eine Ware, die ihr Besitzer, der Lohnarbeiter, an das Kapital verkauft. (...) Seine Lebensfähigkeit ist für ihn also nur ein Mittel, um existieren zu können. Er arbeitet, um zu leben“ (Karl Marx, 1960, S. 70[7], zit. in Hollstein, 1973b, S. 171). Da der Eigentümer an Produktionsmittel über die Arbeitskraft der Produzenten und den Profit verfügt, kann er nicht nur über das ökonomische Leben der Gesellschaft, sondern auch über das politische, soziale und kulturelle bestimmen.

Durch den Konzentrationsprozess in der Wirtschaft nimmt die Macht des Kapitals zu. Riesige Unternehmenseinheiten bestimmen die sozioökonomische Struktur der Bundesrepublik Deutschland. 1954 erzielten die 50 grössten westdeutschen Industrieunternehmen 25.4 % des gesamten Industrieumsatzes, 1967 kommen sie bereits auf einen Anteil von 42.2 % (Hollstein, 1973b). „Aus den Zahlen und Fakten, die wir zum Konzentrationsprozess in der Bundesrepublik vorlegen können, muss geschlossen werden, dass wir heute Zeugen des Heranwachsens von Unternehmensgiganten sind, deren Umsatzzahlen oft das Etatvolumen kleiner Staaten überschreiten und von denen vielfach die Lebensgrundlage Hunderttausender von Arbeitern (...) abhängt[8]“ (Joachim Hirsch, 1972, S. 170[9], zit. in Hollstein, 1973b, S. 173).

Vom Konzentrationsprozess profitieren laut Hollstein (1973b) und Autorenkollektiv (1971) nur Wenige. Der Grossteil des Vermögens liegt in den Händen Weniger. Ein wachsender Anteil Prozentsatz der Lohnarbeiterinnen muss sich mit einem immer kleiner werden Teil des gesellschaftlichen Vermögens begnügen. Die Entwicklung des Lohnes auf der einen Seite und des Profits auf der anderen klafft immer weiter auseinander. Es besteht ein Missverständnis zwischen dem Einkommen aus Kapitalbesitz und den Lohnsteigerungen der Arbeiter. „Ist das Kapital rasch anwachsend, so mag der Arbeitslohn steigen; unverhältnismässig steigt der Profit des Kapitals. Die materielle Lage hat sich verbessert, aber auf Kosten seiner gesellschaftlichen Lage. Die gesellschaftliche Kluft, welche ihn vom Kapitalisten trennt, hat sich erweitert“ (Karl Marx, 1960, S. 85[10], zit. in Hollstein, 1973b, S. 178).

Klassengesellschaft

Die historisch-materialistische Analyse der Gesellschaft bzw. deren Produktionsverhältnisse führen Hollstein (1973b), Khella (1982) und Nowicki (1973) zum Schluss, dass die kapitalistische Gesellschaft wie die Sklavenhalter- und Feudalgesellschaft eine Klassengesellschaft ist: Es besteht ein Ausbeutungsverhältnis, die herrschende Klasse bedient sich der Arbeitskraft der unterdrückten Klasse. Das Proletariat hat keinen freien Zugang zu den Produktionsmitteln, ausser es unterstellt sich der Kontrolle des Kapitalisten. Ist die Ausbeutung im Sklavenhalterstaat und im Feudalismus bedingt durch direkte Abhängigkeit und Unterdrückung, so ist die Herrschaft des Kapitals über die Lohnarbeit in der bürgerlichen Gesellschaft verschleiert. Das Autorenkollektiv (1971) hält fest: „Die Erlaubnis, für die eigene Existenz zu arbeiten, wird erkauft mit der Notwendigkeit der Mehrarbeit. Damit ist der Lohnarbeiter zwar nicht Eigentum eines einzelnen Kapitalisten, jedoch Eigentum der Kapitalistenklasse“ (S. 97).

Zur herrschenden Klasse zählt Hollstein (1973b) auch die Eigentümer und Manager der kapitalistischen Unternehmen ausserhalb des Produktionsbereiches, die den Prozess der Kapitalzirkulation vermitteln, sowie das Führungspersonal im Staatsapparat. Der Anteil der Erwerbspersonen, die dieser „Machtelite“ angehören, lag 1969 in Deutschlang bei 1.5 bis 2 %. Dieser Gruppe folgen in der Sozialstruktur die kleineren Selbständigen (Kaufleute, Bauern, Handwerker u.a.), deren Anteil an den Erwerbspersonen in der BRD 17 % ausmachten. Der Anteil der „lohnabhängigen Klasse“ betrug 1969 über 81 % gegenüber noch 70 % im Jahr 1950.

Die Gliederung der Gesellschaft in Klassen ist für den marxistischen Sozialarbeiter nicht ein überholtes Konstrukt, sondern Realität. Dementsprechend gibt es Menschen die privilegiert sind, und andere, die benachteiligt sind. Die Machtlosigkeit der lohnabhängigen Klasse beruht auf ihrer Besitzlosigkeit. Die Folge ist, dass für Notfälle nichts oder nur sehr wenig zurückgelegt werden kann. Hollstein (1973b) schreibt dazu: „Der allgemeine Lohnanstieg hat zwar das Wachstum von Elend eingeschränkt, nicht aber die Unsicherheit der Existenz, die die Lohnabhängigen als solche trifft“ (S. 182).

Ursachen sozialer Probleme

Bevor man die Entstehung von sozialen Problemen diskutiert, lohnt sich ein Blick auf die Definition. „Soziale Probleme sind aktuelle gesellschaftliche Zustände, die von grösseren Bevölkerungsteilen als unerwünscht empfunden und zum Teil als überwindbar angesehen werden“ (Hillmann, 1994, S. 803). Als Beispiele werden in Hillmann genannt u.a. Arbeitslosigkeit, Diskriminierung von Behinderten und Frauen, Armut, Sucht, psychische Krankheiten, Kriminalität, Gewalt, Obdachlosigkeit, Prostitution, Umweltzerstörung, Entfremdung durch Arbeit. Hillmann bezeichnet in seinem Wörterbuch der Soziologie als Ursache sozialer Probleme „Strukturen sozialer Ungleichheit“, „beschleunigten sozialen Wandel“, „Krise der Wert- und Normenorientierung“, „steigende Anspruchshaltungen“ und „Grenzen des Wachstums“. Hier stellt sich nun die Frage: Wo liegen denn für die marxistischen Autorinnen die Ursachen sozialer Probleme?

Anders als die etablierte, staatlich geförderte Sozialarbeit sehen die marxistischen Sozialarbeiter die Ursachen sozialer Probleme nicht in erster Linie in der Überforderung des Individuums ausgelöst durch „Probleme bei der Rollenanpassung“, sondern bei der Gesellschaft und den ihr zugehörigen Produktionsverhältnissen. Übertragen auf die westliche Gesellschaft heisst das, dass die Ursachen sozialer Probleme bei der kapitalistischen Produktionsweise mit dem ihr inhärenten Widerspruch von Kapital und Lohnarbeit bzw. dem Klassenwiderspruch liegen.

Aus den Diskussionsbeiträgen und Theorieansätzen von Autorenkollektiv (1971), Hollstein (1973), Hess (1973) lässt sich zusammenfassend folgender Erklärungsansatz zur Entstehung sozialer Probleme aus marxistischer Sicht darstellen:

Die kapitalistische Produktionsweise bringt zwei negative Erscheinungen hervor, die einerseits als soziale Probleme gelten, die aber andererseits Folgeursachen für eine Vielzahl weiterer Probleme sind. Diese zwei Negativerscheinungen sind:

Armut und Entfremdung

Der Kapitalismus ist also die Primärursache, Armut und Entfremdung sind Sekundärursachen sozialer Probleme unserer Gesellschaft[11].

Der dargestellte Erklärungsansatz ist der gemeinsame Nenner, der aus den von den verschiedenen Autoren verfassten Büchern und Aufsätzen hervorgeht. Im Folgenden sollen nun die beiden negativen Phänomene Armut und Entfremdung, d.h. ihre Entstehung und Wirkung, genauer dargestellt werden.

In der Wohlstandgesellschaft wird Armut als soziale Situation von Menschen in materieller und damit existentieller Not erkannt. Diese Definition ist für die marxistische Sozialarbeit unzureichend. Nötig ist die Unterscheidung zwischen subjektiver (individuell empfundener) und objektiver (sozial oder rechtlich definierter) Armut, um deren Folgen zu erkennen. Intensiv mit der Kategorie Armut hat sich Zander (1973) befasst. Er sieht Armut als eine notwendige Erscheinung des gesellschaftlichen Widerspruchs von Arbeits- und Verwertungsprozess. „Armut ist (...) Moment und Resultat gesellschaftlicher Beziehungen, die sich in bestimmten ökonomischen Verhältnissen objektivieren. (...) Sie ist das Resultat der Beziehungen einer bestimmten sozialen Gruppe zum Produktionsprozess“ (S. 244).

Für Hollstein (1973a) muss Armut „als individueller oder kollektiver Zustand“ definiert werden, „während dessen Dauer es den Betroffenen unmöglich ist, lebensbefriedigend zu wohnen, sich zu ernähren, zu verdienen, sich zu versorgen und sich zu schützen. Das Attribut lebensbefriedigend ist dabei ein relatives; es bestimmt die Armut der einen je nach Reichtum und Wohlstand der anderen“ (S. 23).

Armut ist also nicht zu bestimmen am gesetzlichen Existenzminimum oder an der Höhe des Lohnes oder anderer Einkommen. Für das Autorenkollektiv (1971) ist Armut eine soziale Kategorie, die am Reichtum der Gesellschaft und an den möglichen Mitteln der Bedürfnisbefriedigung, die der Armut gegenüberstehen, zu messen ist (S. 101). Marx sagt dazu: „Obgleich also die Genüsse des Arbeiters gestiegen sind, ist die gesellschaftliche Befriedigung, die sie gewähren, gefallen im Vergleich mit den vermehrten Genüssen des Kapitalisten, die dem Arbeiter unzugänglich sind, im Vergleich mit dem Entwicklungstand der Gesellschaft überhaupt“ (Karl Marx, 1957, S. 411[12], zit. in Autorenkollektiv, 1971, S. 102). Die kapitalistische Produktionsweise bringt neben der absoluten Armut, die sich ausdrückt in Hunger und Krankheit, also auch eine relative Verarmung hervor, die Angesichts des unermesslichen Reichtums Weniger nicht zu überwinden ist[13].

Die Armut (auch die „Armut an Arbeit“, d.h. die Arbeitslosigkeit) wird nach Meinung der marxistischen Sozialarbeiterinnen zur Ursache für soziale Probleme. Obdachlosigkeit, Menschenhandel, Sucht, psychische Erkrankungen, Gewalt, Kriminalität, politischer und religiöser Fanatismus, Zerfall der grossen Städte sind einige Beispiele. Auch die Diskriminierung von Minderheiten wie Migrantinnen und Behinderten steht in unmittelbarerem Zusammenhang mit der Existenz von und der Angst vor Armut. Hollstein (1973b) schreibt dazu: „Mit dem Kranken (...) kann sogar dem niedrigsten Arbeiter noch jemand vorgestellt werden, der unter ihm und vor allem schlechter ist als er. Solche Ablenkung von den wirklichen Trennungslinien in der kapitalistischen Gesellschaft stärkt diese und wirkt also herrschaftsstabilisierend. Gewissermassen entsteht so die Gemeinschaft der Guten, Ordentlichen und Fleissigen, zu der Kapitalist und Lohnarbeiter je zusammen gehören; ihr gemeinsamer Feind ist der Böse, Unordentliche und Faule, vor dem sich die Guten zu eigenem Nutz und Frommen schützen müssen“ (S. 203)[14].

Anhand der zwei Erscheinungen Obdachlosigkeit und Kriminalität kann der Zusammenhang von Kapitalismus, dem ihm inhärenten Phänomen Armut und den daraus resultierenden sozialen Problemen verdeutlicht werden.

Obdachlosigkeit

Hess (1973), marxistischer Soziologe und Psychologe, geht davon aus, das die Armut in der westlichen Gesellschaft ihren auffälligsten Ausdruck in der Obdachlosigkeit und den prekären Wohnbedingungen zahlreicher Menschen findet. Die Ursachen sind struktureller Natur und die Betroffenen leben in einer Subkultur der Armut, deren Merkmale überall ähnlich sind: Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, Verrichtung unqualifizierter Arbeit, Mangel an Ersparnissen. Wer sich auf dem Arbeitsmarkt nicht anbieten kann, sei es weil sein Beruf veraltet ist oder weil er krank ist, hat kaum Aussicht auf eine Wohnung. Wenn ihm der Staat eine Sozialwohnung in einem Randgebiet zuweist, wo der Boden am billigsten ist, in der Nähe von Fabriken und Autobahnen, beginnt neben der geographischen auch die soziale Isolierung. Als Bewohner eines Ghettos wird er stigmatisiert und vorverurteilt, was sich auf sein Verhalten auswirkt und den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt weiter verschlechtert. Hess zeigt auf, wie sich die Armut und die prekäre Wohnsituation ständig reproduziert. Die Mütter in den Ghettos sind durch physische und psychische Überlastung gesundheitlich geschwächt, so dass das Kind bei der Geburt darunter leidet. Die Zahl von unehelichen Kindern in den Armensiedlungen ist überdurchschnittlich hoch, die Eltern sind z.T. minderjährig. Die Familien sind oft zerrüttet, was bereits Auswirkungen auf die primäre Sozialisation des Kindes hat. Arbeitslosigkeit, psychische Probleme und Suchtkrankheiten der Eltern wirken sich auf die Erziehung aus. „ Auf Phasen der Vernachlässigung oder der Strenge folgen, durch Schuldgefühle der Eltern ausgelöst, Phasen der Verwöhnung, auf die Verwöhnung wiederum für die Kinder unerwartet harte Bestrafungen, oft unter Alkoholeinfluss“ (Hess, 1973, S. 160). Diese Sozialisierung der Kinder ist denkbar schlecht, die negativen Auswirkungen sind voraussehbar. Mit dem Eintritt in die Schule ist das Kind mit weiteren Schwierigkeiten konfrontiert. „Weder in Bezug auf Sprechen, Lesen, Schreiben, Zählen, logisches Denken oder Umweltorientierung noch in Bezug auf die gebotene Leistungsmotivation bringt der Schulanfänger aus der Armensiedlung die üblichen Grundlagen mit“ (Hess, 1973, S. 161). Die ungünstigen ökonomischen und sozialen Voraussetzungen haben negativen Einfluss auf die ganze Schullaufbahn der Obdachlosenkinder. Oft erfolgt ein Schulabbruch oder das Kind wird bei Verwahrlosung in ein Heim eingewiesen. Bedeutend ist die Chancenminderung, die solche Erfahrungen für die Jugendlichen in Bezug auf ihr Berufswahl mit sich bringen. „So bleiben dem Arbeitssuchenden aus der Obdachlosensiedlung meist nur untergeordnete, schlechtbezahlte und in jeder Hinsicht krisengefährdete Berufspositionen, Hilfsarbeiter- und Handlangerdienste offen“ (Hess, 1973, S. 163). Das Einkommen reicht gerade, um den Arbeiter als Arbeitskraft zu erhalten, an Sparen und Vermögensbildung ist nicht zu denken. Die ganze Frustration und Unsicherheit am Arbeitsplatz bestimmen nun die bereits erwähnten Erziehungspraktiken. Die elterlichen Verhaltensweisen und Einstellungen werden von den Kindern früh übernommen, Hoffnung auf Änderung gibt es kaum. Der Zirkel des Elends beginnt von neuem. (Hess, 1973, S. 157-166)

Die aufgezeichneten Lebensumstände für Teile der Bevölkerung haben gemäss Hess ihren Ursprung in der kapitalistischen Wirtschaft mit ihrem gesättigten Arbeits- und dereguliertem Wohnungsmarkt. Ursache sozialer Probleme wie Gewalt in der Familie, Sucht, Zerfall von Wohngebieten etc. sind Armut und Arbeitslosigkeit.

Kriminalität

Die Kriminalität ist in den Augen des marxistischen Sozialarbeiters eine weitere Folge von Armut und hat ihren Ursprung in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Für Menschen, die in absoluter Armut leben, die also Hunger haben und krank sind, ist Raub und Diebstahl der einzige Ausweg um zu überleben. Das Autorenkollektiv beschreibt die Entstehung der Kriminalität mit Blick auf die Zeit der Entstehung der Proletariats: „Es konnte nur so lange leben, wie es Arbeit fand, und es fand andererseits nur so lange Arbeit, wie es das Kapital vermehrte. Da das vogelfreie Proletariat rascher wuchs als die aufkommende Manufaktur, wurden Vagabundieren, Raub, Betteln und Diebstahl zu objektiv notwendigen Überlebenstechniken“ (S. 115). Das Autorenkollektiv verweist auf Friedrich Engels, der in „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ den Diebstahl des Arbeiters als ungebildeteste Form des Protestes gegen den Kapitalismus beschreibt:

Die erste, roheste und unfruchtbarste Form dieser Empörung war das Verbrechen. Der Arbeiter lebt in Not und Elend und sah, dass andere es besser hatten als er. Seinem Verstande leuchtete nicht ein, weshalb er gerade, der doch mehr für die Gesellschaft tat als der reiche Faulenzer, unter diesen Umständen leiden sollte. Die Not besiegte noch dazu den angestammten Respekt vor dem Eigentum - er stahl. (Marx/Engels Werke, 1958, Bd. 2, S. 431, zit. in Autorenkollektiv, 1971, S. 114).

Das Autorenkollektiv räumt zwar ein, dass sich der rein materielle Lebensstandard (Essen, Wohnen Kleidung) in Westdeutschland verbessert hat und somit nicht mehr die absolute Armut Triebfeder für Raub und Diebstahl sind. An ihrer Stelle ist die subjektive (d.h. die individuelle empfundene) Armut Auslöser für kriminelle Taten. Für das Autorenkollektiv ist es die Tantalussituation („mitten in der erregendsten Fülle entbehren zu müssen“), die die Menschen zu Diebstahl verleitet. Das Verlangen nach Gütern, die eigentlich nur den Reichen vorbehalten sind, lässt den Arbeiter stehlen und rauben.

Entfremdung

Neben der Armut ist für die systemkritische Sozialarbeiterin ein weiteres negatives Phänomen der kapitalistischen Produktionsweise Ursache für die Entstehung sozialer Probleme: die Entfremdung . Die Entfremdung ist ein zentraler Begriff bei vielen soziologischen Theoretikern der Gesellschaft und ihrer Arbeitswelt. Bereits bei der Philosophie von Hegel und Feuerbach spielte das Konzept der Entfremdung bei der Analyse der Gesellschaft eine bedeutende Rolle. Marx entwickelte den Entfremdungsbegriff weiter. Er betrachtete die Entfremdung als Auswirkung kapitalistischer Gesellschaftsordnung und erkannte die Entfremdung des Arbeiters im betrieblichen Produktionsprozess. Hillmann (1994) schreibt im Wörterbuch der Soziologie zum Entfremdungsbegriff von Marx: „Unter den Bedingungen der Arbeitsteilung und des Eigentums an Produktionsmitteln verliert die Arbeit ihren Charakter, ein Ausdruck der menschlichen Kräfte zu sein, weil die Organisation und die Produkte der Arbeit ein vom menschlichen Wollen und Planen unabhängiges Dasein annehmen“ (S. 183). Nach Marx treten drei Zustände der Entfremdung auf (Hillmann, 1994):

1. Der Arbeiter wird hinsichtlich des Arbeitsprozesses seiner eigenen Tätigkeit entfremdet. Diese wird als ein Zwang empfunden, der die eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse unterdrückt. (Entfremdung von der Arbeit)

2. Der Arbeiter wird hinsichtlich des Arbeitserzeugnisses, des Resultats seiner Tätigkeit entfremdet, das ihm als fremde, unabhängige Macht feindlich gegenübersteht. (Entfremdung vom Produkt)

3. Der Arbeiter wird der gesamtem Welt, der menschlichen Gattung entfremdet. Diese Entfremdung führt zum existentiellen Egoismus. Damit verliert das Individuum seine eigene Menschlichkeit. (Entfremdung von sich selbst) (S. 183)

Der Prozess der Entfremdung trifft die Menschen unabhängig von Einkommen und Vermögen. Die Entfremdung findet Ausdruck in Identitäts- und Sinnkrisen. Soziale Probleme wie Sucht, psychische Krankheiten, Gewalt (z.B. Hooliganismus), Verkehrsraserei etc. gehen daraus hervor und treffen alle Schichten der Gesellschaft. Am Beispiel der Drogensucht von Jugendlichen zeigt das Autorenteam in einem Beitrag von 1971 den Zusammenhang von kapitalistischer Produktionsweise, Entfremdung und Sucht. Der folgende Abschnitt ist und ungekürzt und bringt den Zeitgeist der siebziger Jahre hervor.

Die pubertären Rauschgiftsüchtigen sind bisher meist Gymnasiasten, Kinder von höheren Angestellten, Selbständigen, Intellektuellen, die fast alle kleinbürgerlichen Autonomie-Illusionen anhängen und zur Gesellschaft das Verhältnis wie die Maus zur Falle haben. Da diese Jugendlichen das frustrierende Erlebnis so einer Fremdgesellschaft noch nicht objektivieren können, brennen sie lieber mit Hilfe von Heroin in zwei Jahren wie Wunderkerzen ab, als dass sie sich in Jahrzehnten von Grossfirmen anstellig verheizen lassen - nur um sich dadurch irgendwelche miesen Befriedigungen leisten zu können. Gott stinkt, die Farbfernseher zeigen die Scheisse nur noch farbig, und mit Sportwagen kommt man nur schneller dorthin, wo man eigentlich doch gar nicht sein wollte. ‚Freiheit ist Konsumzeit‘, dekretieren die Soziologen der Industrie. Freiheit wird so zum Gegenteil von Freiheit. Die Superindustrie macht so den Menschen zum Kakozephagen, der die Scheisse auch noch frisst, die er produzieren muss - Werbung und Presse üben den Konsum ein. Da die Industrie keine echtes Produkt mehr bietet (der Gebrauchswert wurde zu Sozialprestige pervertiert), sucht der Konsument danach, bis er nichts als Nichts findet, dann ist seine Suche zur Sucht geworden. Statt fündig zu werden, fand er bloss Ersatz, und Ersatz ist nichts anderes als schön eingewickelte Frustration: Alle Industrie ist heute Verpackungsindustrie, der Fernsehapparat ist ein unendlich grosser Karton; diese ganze Industrie, das merkt selbst der blödeste Gesunde, ist für Süchtige gemacht (in Spraydosen kann man sich jetzt den Duft frischer Wäsche kaufen). Während sich die Masse des Volkes mit Pharmaka, Betäubungsmitteln, Müdemacher und Wachhaltern abwiegeln lässt, geniesst der Fixer den anarchistischen Reiz explosionsartiger Selbstzerstörung. (Autorenteam, 1971, S. 45[16], zit. in Hollstein, 1973a, S. 34)

 

Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen

Die Kritik der Funktion und Wirkung von Fürsorge und Sozialarbeit gehört zur marxistischen Analyse der Gesellschaft. Nowicki (1973) schreibt: „ Wir gehen davon aus, dass Armenpflege, Wohlfahrt, Fürsorge und Sozialarbeit verschiedene Arten von Eingriffsmöglichkeiten der herrschenden Klasse in die jeweilige soziale Lage der Arbeiterklasse darstellen. D.h. jede dieser Interventionsformen ist einer bestimmten historischen Epoche zuzuordnen“ (S. 47). Die materialistisch-dialektische Analyse führt Nowicki zum Schluss, dass jeweils die Produktionsverhältnisse die Form von Fürsorge und Wohlfahrt bestimmen.

In der feudalistischen Gesellschaft lag die Verfügungsgewalt über das wichtigste Produktionsmittel, den Grund und Boden, in den Händen des Feudaladels. Die feudalabhängigen Bauern waren zwar nicht dessen Eigentum, waren aber in Verbindung mit dem Grundbesitz verkäuflich. Dieses als natürlich betrachtete Klassenverhältnis fand seine bedeutendste Stütze in der christlichen Religion. In der christlichen Sozialphilosophie war Armut nicht nur gottgewolltes Schicksal, sondern darüber hinaus ein christliches Prädikat, das der göttlichen Gnade gewiss sein durfte. Dem Stand der Armen anzugehören war demnach nicht verächtlich. Im Gegenteil, die Armen boten dem Feudaladel Gelegenheit, sich durch Almosengaben von den begangenen Sünden freizukaufen. Nowicki schliesst daraus: „Zynischerweise wird der aufgrund der Herrschaftsverhältnisse notwendigerweise Verarmte jetzt als Objekt der Anlass zu christlichem Tun. Almosen zu geben ist damit für den Besitzenden zur religiösen Pflicht geworden“ (S. 51).

Fürsorge und Sozialstaat

Für die marxistischen Vertreter der Sozialen Arbeit gilt der Grundsatz, dass die ökonomisch-materielle Basis (Produktionsweise und -verhältnisse) bestimmt, aus welchem Grund und auf welche Weise Fürsorge geleistet wird. Anhand des Fürsorgewesens im aufkommendem Kapitalismus wird dieser Zusammenhang sichtbar.

Ab dem 18. Jahrhundert begann sich die Ausbeutung der Arbeitskraft von Armen und Jugendlichen in Erziehungsideen zu ideologisieren. Es wurden zahlreiche Waisenhäuser gegründet, die sehr offen mit ökonomischen Interessen begründet wurden und in denen die Kinder den ganzen Tag arbeiten mussten. Die Waisen- und Arbeitshäuser des 18. Jahrhunderts hatten die institutionalisierte Aufgabe, die Besitzlosen mit „pädagogischen Mitteln“ wie Strafe und Erziehung den ökonomischen Erfordernissen der gesellschaftlichen Entwicklung anzupassen und auf die Lohnarbeit zuzurichten. Die Kinder erhielten oft keinerlei Erziehung und Ausbildung, bis zu 25 % verstarben aufgrund der unmenschlichen Ausbeutung. Misshandlungen, Auspeitschungen und andere „pädagogische Strafen“ waren die Realität dieser Erziehung unter dem Deckmantel „christlicher Wohltätigkeit“. (Nowicki, 1973, S. 66-71) Wichern, ein evangelischer Theologe, schreibt über einen der skrupellosen Anstaltsleiter:

Hier ‚arbeitete’ sich ein ehemaliger Kleinbürger durch die Ausbeutung der Kinder der Ärmsten zum angesehenen Bürger und Kapitalisten ‚empor’. Die Spitzen der Gesellschaft priesen ihn, der die Knaben der kapitalistischen Gesellschaft schon im frühen Alter (...) als Ausbeutungsobjekte zuführte. (...) Und (...) das Unternehmen lebte nicht nur von dem Mehrwert, den die Kinder produzierten; die Gesellschaft steigerte den Profit des Kinderschinders noch durch mildtätige Gaben. (Wichern, 1962, S. 133[17], zit. in Nowicki, 1973, S. 71)

Aus Sicht Nowickis wüteten im 19. Jahrhundert die Protagonisten der Sozialen Arbeit oftmals genauso wie der aufkeimende Kapitalismus; das Fürsorgewesen wiederspiegelte die Produktionsverhältnisse.

Der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sozialen Arbeit messen die marxistischen Sozialarbeiterinnen einen grossen Stellenwert zu. Sie üben Kritik an den privaten Trägern der Sozialen Arbeit, aber auch am Sozialstaat. Zwar anerkennen sie dessen Errungenschaften, reflektieren aber kritisch die Beweggründe sozialstaatlichen Handelns. Nowicki (1973) führt ein Beispiel an. 1839 wurde in Preussen ein Gesetz erlassen, dass die Beschäftigung von Kindern unter neun Jahren in Fabriken verbot. 1853 und 1891 folgten weitere Gesetze, die Kinderarbeit weiter einschränkten. Das Motiv zur Einführung dieser Regulative war nun gemäss Nowicki nicht gesellschaftliche Einsicht, sondern ein dramatischer Soldatenschwund in der preussischen Armee. Laut Nowicki „sah sich der preussische Staat gezwungen, eine Art Kinderschutzgesetzgebung zu erlassen, da die kapitalistische Profitgier und die zerstörerische Ausbeutung gerade der kindlichen Arbeitskraft den Bestand und den Nachwuchs des preussischen Heeres in starkem Mass gefährdete“ (S. 74). Das Autorenkollektiv (1971) ist ebenfalls der Meinung, dass sozial-staatliche Intervention immer politischen Charakter hat. So betrachtet das Autorenkollektiv das ab 1883 von Bismarck eingeführte Sozialversicherungswerk „als das Zuckerbrot zur Peitsche (...) mittels dessen Bismarck die organisierte Arbeiterbewegung ein für alle Male auszuschalten hoffte“ (S. 46).

Den marxistisch orientierten Sozialarbeiterinnen ist gemeinsam, dass sie sozialstaatliche Eingriffe als Versuch sehen, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu erhalten. „Nach der aktiven Beteiligung des Staates an der Herstellung des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital besteht seine Aufgabe nunmehr vornehmlich in der Erhaltung und Sicherung dieses Verhältnisses und damit der Konkurrenzbedingungen des Kapitals“ (Autorenkollektiv, 1971, S. 34). Das Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen sitzt tief. Auch die Tatsache, dass die Jugendorganisationen der Arbeiterklasse, die politische Ziele wie den Kampf gegen Militarismus und Ausbeutung sowie Bildungsarbeit verfolgten, 1908 mittels Reichsvereinsgesetzes verboten wurden, spricht für die marxistischen Sozialarbeiter dafür, dass nicht primär das Wohlergehen der Armen, sondern die Sicherung der Produktionsverhältnisse im Vordergrund steht.

Funktion der Sozialen Arbeit

Die Abhängigkeit der Fürsorge und der sozialstaatlichen Massnahmen von den politischen und ökonomischen Gegebenheiten hinterlässt bei den marxistischen Vertretern der Sozialen Arbeit ein tiefes Misstrauen. Besonders die staatlich gestützte Soziale Arbeit im Fürsorgebereich war in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts fundamentalster Kritik ausgesetzt. Auch wenn in den Arbeitskreisen Kritische Sozialarbeit (AKS) über mögliche Perspektiven einer alternativen Sozialarbeit gestritten wurde, bezüglich der Kritik an der Sozialarbeit von oben (Khella, 1982) war man sich einig. Nowicki (1973) bringt die Kritik auf den Punkt: „ Die Eingliederung der Arbeitskraft (...) ist zu allen Zeiten kapitalistischer Klassengesellschaft (...) wesentlichste objektive Funktion von Sozialarbeit, die damit dazu beiträgt, in einem Kreislauf dem Kapital in seinem ‚Heisshunger nach Mehrarbeit’ Opfer und der Sozialarbeit selbst wiederum Klienten zuzuführen“ (S. 98). Hollstein (1973b) stellt in seinem Aufsatz Hilfe und Kapital fünf „Diskussionsthesen zur Funktion der Sozialarbeit“ unter kapitalistischen Produktionsbedingungen zusammen:

1. Reproduktionsagentur

2. Sozialisationsagentur

3. Kompensationsagentur

- vergesellschafteter Arbeit und privater Aneignung der Arbeitsprodukte

- gesellschaftlichem Reichtum und individueller Kapitalbildung

- (...)

 

4. Oppressionsagentur

 

5. Disziplinierungsagentur

(Hollstein, 1973b, S. 205-207)[18]

 

In der Deutung der Funktion sozialer Arbeit sind sich die systemkritischen Sozialarbeiter einig. Interessant ist Frage, was aus dieser Kritik für Schlüsse zu ziehen sind.

 

Politische Perspektiven für die Soziale Arbeit

Bis 1976 wurde das Buch Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen mit Hollsteins Diskussionsthesen zur Funktion Sozialer Arbeit 40'000 mal verkauft. Dieses Buch zählt zu den wichtigsten Beiträgen der kritischen Sozialarbeit und die hohe Auflagenzahl widerspiegelt das Interesse breiter Kreise für marxistische Theorienansätze in dieser Zeit. Die Kritiker loben „die Attacke gegen eine unkritische, von der bestehenden Gesellschaftsordnung völlig abgehobene Literatur im sozialpädagogischen Bereich“ (Hollstein, 1977, S. 9): „Die Stärke des Buches liegt vor allem darin, dass es in den meisten Beiträgen immer wieder zu einer Reflexion der Bedingungen zwingt, unter denen Sozialarbeit derzeit in der BRD abläuft“ (Böhnisch, Neue Praxis, Nr. 2, 1974 zit. in Hollstein, 1977, S. 9).

Trotz der Bedeutung von Büchern wie diesem, ihre Wirkung ist zwiespältig: Die negativistische Darstellung sozialer Arbeit und die schonungslose Analyse der gesellschaftliche Verhältnisse hinterlassen in erster Linie Ratlosigkeit und Resignation. Es ist schwierig einen Sinn in sozialarbeiterischem Handeln zu sehen, wenn damit genau das System reproduziert wird, welches ja für die Missstände der Gesellschaft verantwortlich ist.

Der marxistisch orientierte Sozialarbeiter sieht, ist er konsequent, in der Überwindung der kapitalistische Produktionsweise die einzige Möglichkeit, die Widersprüche der Gesellschaft und mit ihnen auch die sozialen Probleme zum Verschwinden zu bringen. Da eine Realisierung revolutionärer Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse (die Revolution) aber nicht greifbar ist, bleibt ihm fast nur die Möglichkeit, in den bestehenden Institutionen weiter zu arbeiten. Bleibt er in den Institutionen und kämpft für Reformen, gerät er jedoch in eine Zwickmühle. „In diesem Konflikt befinden sich alle Linken, die in Reformeinrichtungen arbeiten: Wie ist es möglich, in Einrichtungen zu arbeiten, die eigens dazu dienen sollen, Konflikte zu isolieren und Scheinlösungen anzubieten, und dabei seine politische Identität zu wahren?“ (AKS, 1974, S. 6). Eine Antwort darauf ist nicht einfach. Im Folgenden werden einige Perspektiven und Strategien sozialarbeiterischen Handelns innerhalb der gegebenen Grenzen, d.h. innerhalb des Kapitalismus und innerhalb der Institutionen, aufgezeigt.

 

Deklassierung verhindern

Die marxistischen Sozialarbeiterinnen sind sich einig, dass die Verelendung von Teilen der Bevölkerung auf alle Fälle vermieden werden muss. Sie spekulieren nicht darauf, dass die verelendeten Massen fähig und gewillt sind, mittels einer Revolution das kapitalistische System zu stürzen. Der Kampf gegen die Deklassierung der Arbeiterklasse (d.h. gegen den Abstieg ins Lumpenproletariat[19]) ist für das Autorenkollektiv (1971, S. 240-256) von zentraler Bedeutung und steht nicht im Widerspruch zu einer revolutionären Perspektive. Es verweist darauf, dass das Lumpenproletariat „einen Teil des Endproduktes des Verelendungsprozesses“ (S. 251) darstellt, von dem eine Gefahr ausgeht. Dies weil die Masse von Ausgehungerten und Deklassierten nichts mehr zu verlieren hat, käuflich ist und sich im Kampf meist auf die Seite des Unterdrückers schlägt. Die Anhänger des Faschismus stellen ein Beispiel dar. „Wir müssen uns bewusst bleiben, dass (...) der Faschismus eine Bewegung von Hungrigen, Not leidenden, Existenzlosen und Enttäuschten ist. Wir müssen danach trachten, dass wir die sozialen Schichten, die jetzt dem Faschismus verfallen, entweder unserem Kampfe eingliedern oder sie zum mindesten für den Kampf neutralisieren“ (Zektin, 1923, S. 107[20], zit. in Autorenkollektiv, 1971, S. 245). Die kritischen Sozialarbeiterinnen stellen fest: „Je grösser die Armut, desto wichtiger ist die politische Erziehung unter den Arbeitslosen und desto notwendiger ist der Kampf gegen den Abbau der sozialen Leistungen des kapitalistischen Staatsapparats“ (Autorenkollektiv, 1971, S. 256). In diesem Zusammenhang gesehen, ist also der Kampf der Sozialarbeiterinnen gegen die Verelendung auch innerhalb des gesetzten Rahmens legitim - ja sogar notwendig.

 

Reformen

Aus der Erkenntnis, dass die Verelendung der Bevölkerung zu verhindern ist, leiteten viele Sozialarbeiter in den siebziger Jahren die Notwendigkeit ab, für Reformen in den Institutionen (Demokratisierung, Beschränkung der Fallzahl, flexible Arbeitszeit etc.) zu kämpfen. Für die Kritische Gruppe Westberlin (1973/1974) gibt es keine politisch relevante Alternative zur Arbeit in bestehenden Institutionen. „Dort sind die entsprechenden Veränderungen zu erkämpfen und nicht in irgendwelchen Freiräumen, die früher oder später sich doch als unhaltbar erwiesen“ (S. 27). Der AKS Berlin (1973) ist auch der Ansicht, dass der Kampf für Reformen als Teilziel ein notwendiger Schritt zur politischen Emanzipation der Sozialarbeiter ist. „Er wird die Sozialarbeiter befähigen, ihre tatsächliche Lage und die der Klienten zu erkennen; Sozialarbeiter und Klienten werden sich nicht länger mit der Erklärung zufrieden geben, die die Sozialarbeiteraristokratie gefunden hat und immer noch verbetet: Individuelles Versagen sei die Ursache ihrer Misere“ (S. 227). Für das Autorenkollektiv (1971) sind Reformen sinnvoll, „wenn sie wirklich den Interessen der Deklassierten dienen, d.h. der Spaltung der Arbeiterklasse entgegenwirken und bessere Arbeitsbedingungen für den Widerstand gegen den Kapitalismus schaffen“ (S. 299). Um die Auseinandersetzung mit der „Sozialbürokratie“ wirksam führen zu können, stehen für das Autorenkollektiv folgende Aufgaben im Vordergrund:

Sozialarbeit von unten

Die Erfahrungen mit der staatlichen Sozialarbeit führte in den sechziger und siebziger Jahren zur Erkenntnis, dass Veränderung nicht ohne die Betroffenen stattfinden kann. Die Selbstorganisation der Randgruppen[21] wurde unterstützt, was Ausdruck des neuen Verständnisses von Sozialer Arbeit war. Bereits Ende der sechziger Jahren kam es in einigen Heimen zu Revolten. Gruppen von Studenten, Lehrlingen und ehemalige Heiminsassen zogen vor die Erziehungsheime, diskutierten mit den Jugendlichen über ihre Lage und stellten Forderungen zur Demokratisierung der Heime auf. Es kam zu Revolten, viele Jugendliche verliessen ihre Heime. Systemkritische Sozialarbeiterinnen unterstützten diese Entwicklung und halfen mit beim Aufbau von Jugendwohnkollektiven. (AKS, 1974, S. 39)

Auch Fixerinnen begannen sich zu organisieren. Es entstanden Bürgerinitiativen[22] mit verschiedenen Zielsetzungen. Die Gemeinwesenarbeit, die auf direkte Veränderung der Lebensumstände in der Gemeindesituation zielte, erlebte eine grossen Aufschwung. Für diejenigen Sozialarbeiter, die den Institutionen den Rücken zudrehten, wurde die Basisarbeit im Stadtteil zur einzigen Alternative.

Karam Khella (1982) entwarf einige Jahre nach den ersten Reformansätzen seine Theorie der Sozialarbeit von unten. Er versteht sie „als Antithese zur etablierten, offiziell geförderten, von den staatlichen oder ‚freien’ Trägern getragene Sozialarbeit“ (S. 11). „Der Sozialarbeit von unten stellt sich die Frage, wie sich Deklassierte durch Wiedereingliederung in ihren Klassenzusammenhang zum Kampfpotential zur politischen, ökonomischen und sozialen Befreiung ihrer gesamten Klasse wenden“ (S. 31). Die Aktivierung und Mobilisierung der Klienten steht bei der Sozialarbeit von unten, die eine der wenigen konkreten Handlungstheorien marxistischer Sozialarbeit darstellt, im Vordergrund. Als Anwendungsbereiche sieht Khella z.B. die Arbeitsfelder Gemeinwesenarbeit, Obdachlose, Sozialhilfeempfänger.

Schlussbetrachtung

Die marxistischen Sozialarbeiter stellen fest, dass die Ursachen sozialer Probleme in der kapitalistischen Produktionsweise mit dem ihr inhärenten Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital liegen. Der konsequente Schritt zur Beseitigung der sozialen Probleme unserer Gesellschaft wäre folglich die Beseitigung des Kapitalismus. Da die marxistisch orientierte Sozialarbeiterin sich bewusst ist, dass eine konkrete Perspektive für eine revolutionäre Veränderung in weiter Ferne liegt, entscheidet sie sich in der Regel dafür, innerhalb der ökonomisch und politisch gesetzten Rahmenbedingungen etwas zu bewegen, z.B. durch die Arbeit in den Institutionen der Deklassierung der Arbeiterklasse entgegenzuwirken. Das ist ihr nicht zu verübeln und ist auch kein Zeichen von Resignation. Die Tätigkeit des Sozialarbeiters hat immer einen Doppelcharakter. Deshalb ist besonders für den marxistisch orientierten Sozialarbeiter eine widerspruchsfreie Praxis nicht möglich. Da er dabei aber in keinem grösseren Widerspruch lebt, als jeder andere Marxist im Kapitalismus, soll ihn dies nicht hindern, seinen Beruf auszuüben. Er sollte aber erkennen, dass, wie Hollstein (1977) festhält, keine sozialarbeiterische Intervention die kapitalistischen Rahmenbedingungen selber angreifen und verändern kann; „dieses Potential besitzen nur die ökonomische Entwicklung in ihrer Immanenz und die an sozialem Wandel interessierten Massen“ (S. 22).

Die Ursachen sozialer Probleme auf den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital zu reduzieren, ist sicherlich unzureichend. Die Annahme, dass mit dem Verschwinden des Kapitalismus auch alle sozialen Probleme aus der Welt sind, ist nicht richtig. Jede Gesellschaft hat ihre Probleme. Ein Beispiel stellt die Unterdrückung der Frau durch den Mann dar. Die Diskriminierung der Frau ist kein Nebenwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise, sondern ein Phänomen (fast) aller Gesellschaften. Sie verschwindet folglich auch nicht zwangsläufig mit deren Ende.

Trotz gewisser Unzulänglichkeiten marxistischer Theorieansätze ist nur schwierig nachvollziehbar, dass die materialistisch-dialektische Erkenntnismethode fast vollständig aus der Disziplin Soziale Arbeit verschwunden ist. Wissenschaften unterliegen aber gewissen Modeströmungen, und was heute in ist, ist morgen out! - Oder umgekehrt.

„Nicht wie im Falle des Phönix aus der Asche, aber auch nicht zu gemächlich, lässt sich gegenwärtig die Heraufkunft eines neuen und erneuerten politischen Bewusstseins in der Sozialen Arbeit, das seine Ursachen in den Widersprüchen spätkapitalistischer Vergesellschaftung und deren Folgen für Lebenslagen wie Lebensweisen der Menschen findet, konstatieren“, schreibt Sünker (2000, S. 209) in seinem Aufsatz Gesellschaftliche Perspektiven Sozialer Arbeit heute. Das ist begrüssenswert und aber auch höchste Zeit. Denn wir sind keineswegs am Ende der Geschichte angelangt, sondern stehen in Anbetracht der aktuellen Weltordnung und dem deregulierten Weltmarkt wohl eher wieder an einem Anfang. Der Widerspruch von Kapital und Lohnarbeit ist so augenscheinlich wie lange nicht mehr: Milliarden von Lohnabhängigen beugen sich dem Diktat milliardenschwerer Konzerne und trotz gegenteiliger Behauptungen werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer. Die sozialstaatlichen Interventionen haben den Klassenwiderspruch in den Industrienationen verschleiert, die Globalisierung des Kapitals bringt ihn wieder zum Vorschein. Der liberalisierte Weltmarkt erhöht den Druck auf die Arbeiterinnen und Angestellten und bedroht die Sozialversicherungswerke. Auf der einen Seite stehen die Eigentümer an Produktionsmittel, die ihren Besitz ständig erweitern, auf der anderen Seite stehen die Lohnabhängigen, deren Lohn oft nicht einmal zum Leben reicht.

Die Soziale Arbeit sollte vor diesen Tatsachen die Augen nicht verschliessen und, wie Benedict (1997) verlangt, „die Dimension der öffentlichen Anklage“ zurückgewinnen. Die Sozialarbeiter müssen sich dazu in internationalen Netzwerken organisieren. Sie sollten den dialektischen Materialismus für ihre Disziplin wieder entdecken und sich in politischer Ökonomie bilden. Zentral dabei ist, dass marxistische Theorien von den Hochschulen wieder aufgenommen und diskutiert werden. - Dazu können auch die Studierenden etwas beitragen!

Thomas Burri, Hochschule Luzern - Soziale Arbeit, Luzern 2004
Kontakt: tom730(at)yahoo.de

Anmerkungen

[1] Die Bezeichnung „Soziale Arbeit“ verwende ich wie Engelke (2002) als „Begriff, der die historischen und aktuellen Traditionen von Armenpflege, Fürsorge, Caritas, Diakonie, Jugendhilfe, Wohlfahrtspflege, Sozialarbeit und Sozialpädagogik umfasst“ (S. 8). Mit der Bezeichnung Sozialarbeiterinnen sind auch Sozialpädagogen, Fürsorgerinnen etc. gemeint.

[2] 1971 veröffentlichte das Autorenkollektiv das vielbeachtete Buch „Gefesselte Jugend - Fürsorgeerziehung im Kapitalismus“, 1982 erschien von Karam Khella „Sozialarbeit von unten“, der m.E. letzte bedeutende Beitrag der marxistischen Sozialarbeit. Die Erscheinungsjahre dieser Publikationen begrenzen dementsprechend den untersuchten Zeitraum.

[3] siehe z.B. Howe, David (1994). An Introduction to Social Work Theory. Cambridge. Oder: Payne, Malcolm (1994). Modern Social Work Theory: A Critical Introduction. London.

[4] Besonders Karam Khellas Theorie der Sozialarbeit von unten (1982).

[5] Die am 30. November 1922 gegründete Internationale Rote Hilfe und die Internationale Arbeiterhilfe versorgten streikende oder verarmte Arbeiterfamilien mit Grundnahrungsmitteln, gewährten Rechtshilfe, betreuten die Gefangenen in den Gefängnissen, schufen Kinderheime und organisierten soziale Fürsorge. Die 1932 gegründete Arbeitsgemeinschaft marxistischer Sozialarbeiter kämpfte gegen den Abbau der Sozialfürsorge und die damit verbundene Verelendung grosser Teile des Volkes. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten setzte dem Wirken dieser Organisationen ein Ende.

[6] Der Informationsdienst Sozialarbeit erschien von 1972 bis 1981 und wurde vom Sozialistischen Büro Offenbach herausgegeben. Er diente der Information und Zusammenarbeit zwischen sozialistischen Gruppen und Einzelpersonen die im Sozialbereich arbeiteten. Er behandelte jeweils ein bestimmtes Schwerpunktthema und enthielt aktuelle Nachrichten. Im Vordergrund stand „die kontinuierliche Diskussion über eine sozialistische Strategie im Sozialbereich“ (Informationsdienst Sozialarbeit, Heft 8, 1974, S. 2). Aus dem Informationsdienst ging 1981 die Zeitschrift Widersprüche hervor. Sie existiert noch heute und steht für eine sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich.

[7] Marx, Karl (1960). Lohnarbeit und Kapital. In K. Marx und F. Engels, Ausgewählte Werke. Berlin.

[8] An der skizzierten Entwicklung hat sich bis heute (2003) nichts geändert. Die neoliberale Globalisierung der Wirtschaft treibt den Konzentrationsprozess weiter voran. 1999 erzielt der grösste deutsche Konzern, Daimler-Chrysler einen Umsatz von 160 Mrd. Dollar. Das ist 100 mal mehr als der Umsatz des vor 40 Jahren grössten deutschen Industriekonzerns, Krupp. Zum Vgl.: Die Schweiz hat im Jahr 2000 ein Bruttosozialprodukt von 274 Mrd. US-Dollar, Marokko eines von 34 Mrd. (Vgl. Fischer Weltalmanach 2003 / FAZ-Beilage: “Die 100 grössten Unternehmen“, 4.7.2000).

[9] Hirsch, Joachim (1972). Zur politischen Ökonomie des politischen Systems. In G. Kress und D. Senghaas (Hrsg.), Politikwissenschaft. Frankfurt.

[10] Marx Karl (1960). Lohnarbeit und Kapital. In K. Marx und F. Engels, Ausgewählte Werke. Berlin.

[11] Damit soll nicht gesagt sein, dass in Gesellschaften mit anderen Produktionsverhältnissen keine sozialen Probleme entstehen. Jede Gesellschaft bringt soziale Probleme hervor. Nur sind die anderer Form und anderen Ursprungs. Umweltverschmutzung gab es beispielsweise in den Staaten des realexistierenden Sozialismus ebenfalls. Nur lag dort im Gegensatz zum Westen die Ursache nicht in der Bereicherungsabsicht des Einzelnen, sondern in der Bemühung der Staaten in der Konkurrenz zum Westen zu bestehen. Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Kriminalität oder Rassismus gab es in der DDR nicht oder kaum. Dafür existierten soziale Probleme, die in der BRD nicht einmal als solche erkannt oder definiert waren (z.B. Republikflucht). Mit diesen Beispielen soll gezeigt werden, dass mit der Überwindung der existierenden Produktionsweise nicht zwingend alle sozialen Probleme verschwinden oder nicht neue auftauchen. Das wiederum heisst aber nicht, dass der Kapitalismus nicht als Ursache der sozialen Probleme unserer Gesellschaft gesehen werden kann oder soll. Ein interessanter Beitrag zur Sozialarbeit in der DDR ist zu finden in Kunstreich (2001).

[12] Marx, Karl (1957). Lohnarbeit und Kapital. In MEW, Bd. 6. Berlin.

[13] Zwar ist die absolute Armut in den westlichen Industrienationen aufgrund von Sozialversicherungssystemen zurückgegangen, im weltweiten Vergleich ist dies jedoch nicht der Fall. Der Zwang zum exponentiellen Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft verlangt besonders zu Beginn des neuen Jahrhunderts nach immer neuen Märkten, die nicht reguliert sind und auf denen die grossen Konzerne die Regeln diktieren. Die Öffnung des Weltmarktes im Zuge der neoliberalen Globalisierung verschärft den Widerspruch von Arbeit und Kapital: Milliarden von lohnabhängigen Menschen stehen milliardenschweren Unternehmen gegenüber. Auf den Ansturm des Grosskapitals sind die jungen Volkswirtschaften mit ihren Lohnabhängigen und Bauern nicht vorbereitet. Die Folge ist grenzenlose Ausbeutung von Mensch und Ressourcen.

[14] Verwiesen sei an dieser Stelle auf die aktuelle Kampagne der rechts-nationalistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP), die versucht Arbeitsunfähige als „Scheininvalide“ hinzustellen.

[15] Die Tantalussituation wurde von S. Bernstein von der Tantaluslegende (griechische Mythologie) abgeleitet. Tantalus, Sohn des Zeus, setzt aus Übermut den Göttern bei einem Gastmahl seinen eigenen geschlachteten Sohn vor. Zur Strafe wir der in die Unterwelt verstossen. In dem Teich, in dem er steht, weicht das Wasser immer wieder zurück, wenn er trinken will. Früchte über seinem Haupt weht der Wind fort, wenn er zugreifen will, und ein Felsen über seinem Haupt droht ständig auf ihn niederzufallen.

[16] Autorenteam (1971). Helft euch Selbst! - Der Release-Report gegen die Sucht. Reinbeck.

[17] Wichern, Johann Hinrich (1962). Sämtliche Werke, Bd. 1. Berlin.

[18] Diese Auslegeordnung der Funktion Sozialer Arbeit ist 1973 entstanden. Sie widerspiegelt deutlich die durch und durch ablehnende Haltung gegenüber staatlich getragener Sozialarbeit. Notwendigerweise ist die harte Kritik sicher auch im historischen Kontext zu sehen: Die Verhältnisse zum Beispiel im Bereich der Fürsorge waren in dieser Zeit prekärer als heute. Die Zustände in den Heimen waren z.T. miserabel, die staatlichen Institutionen waren verkrustet und die Sozialarbeiter schlecht ausgebildet. - Auf den Kern der Kritik haben die heute verbesserten Bedingungen jedoch keinen Einfluss.

[19] Die Meinungen über die Definition des Begriffs Lumpenproletariat gehen auseinander. Selbst Karl Marx hat die Definition im Verlaufe seines Schaffens verändert. Grundsätzlich kann gesagt werden: Das Lumpenproletariat sind Menschen, die ausserhalb des Produktionsprozesses stehen und sich ihren Lebensunterhalt auf Kosten der Arbeitenden beschaffen. Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Rentner u.a. gehören jedoch nicht dazu. Als Zugehörige zum Lumpenproletariat werden oft genannt: Bettler, Verbrecher, Prostituierte (vgl. zum Begriff Lumpenproletariat das reichhaltige Kapitel Arbeiterbewegung und Lumpenproletariat in Autorenkollektiv, 1971, S. 241-256).

[20] Zetkin, Clara (1923). Der Kampf gegen den Faschismus. In E. Nolte (Hrsg.), Theorien über den Faschismus. Köln-Berlin.

[21] Zur Randgruppenstrategie siehe Pilgram & Steinert (1977).

[22] Siehe dazu Aich Prodosh (1973).

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/40bdb7168aee7/1.phtml

sopos 6/2004