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Sartre und Israel - Teil 1

Die Folgen von Auschwitz - vor der Gründung Israels

von Sven Oliveira Cavalcanri (sopos)

„ […] all dessen , was aus der berühmten Arbeit resultiert, heute die gleiche wie damals, als sie auf den Spruchtafeln in Hitlers Konzentrationslagern verherrlicht wurde.“

Pasolini

 

 


Kaum ein anderer Intellektueller des 20. Jahrhunderts fand weltweit soviel Widerhall wie Jean-Paul Sartre. Weniger bekannt ist seine Haltung gegenüber Israel und Palästina, obwohl sie sich wie ein roter Faden durch sein Denken und sein Werk zog. Es war eine der wenigen Bereiche, in denen Sartre seine Position nie geändert hatte, obwohl er, Hegel nicht unähnlich - was stand bei Hegel, um nicht widerlegt zu werden - sein Denken in regelmäßigen Abständen revidierte.

1975, in einem Interview anläßlich seines 70en Geburtstags, fragte ihn Michele Contat: „Eine der wenigen politischen Fragen, in denen Sie nie Ihre Haltung geändert haben, ist der israelisch-arabische Konflikt. Sie sind fest geblieben, obgleich Sie das einer gewissen Isolierung aussetzte. Dennoch glaube ich, daß viele Menschen Ihnen für diese Unabhängigkeit dankbar sind.“ Sartres Antwort: Ich glaube nicht, daß man mir dankbar ist. Eher scheint mir das Gegenteil zuzutreffen: Jedes der beiden Lager möchte, daß ich mich vom anderen distanziere. Aber ich habe Freunde auf beiden Seiten und erkenne das gute Recht jeder der beiden Seiten an. Meine Position, ich weiß es, ist rein moralisch; aber das ist genau einer der Fälle, die beweisen, daß man den politischen Realismus ablehnen muß, weil er zum Krieg führt.[1]

Sartre hatte ein seltsames Kunststück vollbracht: Er wurde von palästinensischer Seite ernst genommen und geachtet und ebenso von jüdischer. Und dies trotz seiner kaum faßbaren Radikalität – es war derselbe Sartre der Verständnis für die Geiselnehmer von München 1972 äußerte und den Palästinenser ein Recht auf diese Form der Widerstandes einräumte, derselbe Autor der „Überlegungen zur Judenfrage“, derselbe der 1975 gegen die UN-Resolution, die Zionismus mit Rassismus gleichsetzte, heftigst protestierte und schrieb: Rassismus ist die Frage, worauf sich der Zionismus gründet. In Zeiten, da sich der politische Realismus entwurfs- und utopieloser denn je zeigt, lohnt ein Rückblick auf die Positionen Sartres und darauf, wie er denn das Kunststück fertig brachte, trotz seiner Akzeptanz der politischen Gewalt ein gehörter und geachteter Diskutant von Palästinensern und Israelis zu bleiben.

Zum Verständnis: Existentialistische Positionen

Ein Schlüsselsatz durchzog Sartres frühes Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“, so wie die Schriften, er bis 1948 verfaßte: Die Existenz geht dem Wesen voraus. Dahinter verbarg sich nicht weniger als ein Schlüsselargument aus Heideggers „Sein und Zeit“, nämlich daß der Mensch grundsätzlich ohne ein bestimmtes Wesen zur Welt komme. Der Mensch sei, so Heidegger, „in die Welt geworfen“.

Sartre adaptierte dieses Diktum in dem Sinne, daß der Mensch „zur Freiheit verurteilt“ sei. Erst die freie Wahl des Menschen mache sein Wesen aus. Demnach gab es bei Sartre keine natürliche Substanz von Geschlecht, Ethnie oder Klassen. Erst das Andere, der Blick mache den Menschen zu dem, was er sei. In marxscher Terminologie ausgedrückt gab es für Sartre keine erste Natur, sondern nur die zweite. Der Sartre zur Zeit von „Das Sein und das Nichts“ kann getrost als Vorläufer des Konstruktivismus angesehen werden, auf dessen Grundlage ein gros des heutigen feministischen Diskurses - ebenso inspiriert durch Simone de Beauvoir - stattfindet. Im Gegensatz zu Heidegger, der bei dem „in-die-Welt-geworfen-sein“ stehenblieb und in Carl Schmidts Existentialismus seine Fortsetzung dahingehend fand, daß der Souverän – bei Schmidt der nationalsozialistische Staat – durch die bloße Macht der Existenz seine Legitimation erfuhr, insistierte Sartre auf die Verantwortung für Andere.

Das Fehlen eines traditionellen Naturbegriffs ermöglichte es ihm, das Werden des Einzelnen in seinen kulturellen Zusammenhängen zu sehen, wobei ein langsamer aber steter Wechsel in seiner Philosophie von der Dominanz des Subjekts im Sinne des Einzelnen, dem Individuum zur Dominanz des Objekts, der Gesellschaft festzustellen ist. Der frühe Sartre beharrte auf der absoluten Entscheidung des Einzelnen, ohne objektiven Zwang. Dieses Denken, daß den Vorläufer all jener darstellte, die sich „Konstruktivisten“ nennen, basierte auf den Prinzipien eines fundamentalen Humanismus bei gleichzeitiger Ablehnung kleinbürgerlicher Humanismusvorstellungen.

Freiheit“, „Entscheidung“, „der Andere“, „die Situation“ und „der Entwurf“ waren Schlüsselbegriffe der frühen Sartreschen Philosophie. In seinen Werken zu dieser Zeit fällt jeder Mensch eine Wahl, in jedem Moment seines Lebens. Schweigen, Reden, sich einmischen oder passiv bleiben, sich zurückzuziehen oder sich engagieren – alles stellt das Subjekt vor eine Entscheidung. Sartre schrieb einmal, daß der Gang zu einem Freund schon eine Entscheidung im Vorfeld impliziere, da mit der Wahl des Freundes der ihm folgende Rat bereits vorhergesehen sei. Dies galt für ihn nicht minder in Bezug auf die politische Praxis. Dieser Philosophie blieb er sich in der Konzeption seines eigenen Lebens - im Gegensatz zu seinen gesellschaftspolitischen Analysen - treu.

Über den Antisemitismus fand sich in „Das Sein und das Nichts“ folgender Passus: «Eintritt für Juden verboten», «Jüdisches Restaurant, Zugang für Arier verboten» usw. […] Dieses Verbot kann nur Sinn haben auf der Grundlage und durch die Grundlage meiner freien Wahl. Denn indem ich den gewählten freien Möglichkeiten folge, kann ich das Verbot übertreten, es für nichtig halten oder ihm im Gegenteil eine zwingende Geltung verleihen, die es nur vor dem Gewicht haben kann, daß ich ihm beimesse. […] Die Grenze meiner Freiheit liegt schlicht und einfach in der Tatsache selbst, daß ein anderer mich als Objekt anderen erfaßt, und in der anderen sich daraus ergebenden Tatsache, daß meine Situation aufhört, für den anderen Situation zu sein, und objektive Gestalt wird, in der ich als objektive Struktur existiere. Mit anderen Worten: Antisemitismus hörte für ihn bei den intersubjektiven Konstruktionsprozessen auf. Die Entfremdungssituation entstand für ihn lediglich durch die abstrakte Existenz des Anderen. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, daß Sartre keinen historischen und politischen Begriff für den Antisemitismus besaß, sondern einen existentialistischen im schlechtesten Sinne. Zu Gute gehalten werden kann ihm immerhin, daß er den Antisemitismus als Konstruktion begriff, die ihm grundsätzlich auflösbar erschien, wenn denn die Menschen sich anders wählten. Warum sie jedoch millionenfach den Antisemitismus wählten, blieb unbeantwortet – eine politische bzw. gesellschaftliche Dimension des Antisemitismus blieb bei Sartre zu dieser Zeit völlig unberücksichtigt. Herbert Marcuse hielt Sartre völlig zu Recht entgegen: „Das Traktat über menschliche Freiheit hat hier den Punkt der Selbstabdankung erreicht. Die Verfolgung der Juden und »die Zangen des Henkers« sind der Terror, der die Welt heute ist, sind die brutale Wirklichkeit der Unfreiheit.“[2]

Der entscheidende Bruch mit seiner Theorie aus „Das Sein und das Nichts“ trat mit dem Aufsatz „Überlegungen zur Judenfrage“ ein. Dieser Text nimmt im sartreschen Werk eine doppelte Stellung ein: Zum einen war es die erste Schrift, in der Sartre seine Philosophie praktisch exemplierte, zum anderen war es auch die erste Schrift, mit der er an seiner eigenen Philosophie scheiterte.

Nach Auschwitz: „Reflexion sur la question juive“

Kein Franzose wird frei sein, solange die Juden nicht im Besitz ihrer vollen Rechte sind. Kein Franzose wird in Sicherheit sein, solange noch ein Jude in Frankreich und in der ganzen Welt um sein Leben fürchten muß. Mit diesem Satz ließ Sartre seinen Aufsatz „Überlegungen zur Judenfrage“ enden - es waren andere, neue Töne, die nun von ihm zu hören waren. Sartres Philosophie befand sich im Übergang und sein Kernsatz von der freien Wahl wurde nun unterstützt und gleichzeitig attackiert von einer stärkeren Betonung des gesellschaftlichen Zwangs.

Gerade von Vertretern der kritischen Theorie wurde Sartre wegen seines Freiheitsbegriffes aus das „Sein und das Nichts“ oft gescholten[3]. Dabei wurde übersehen, daß er in den Überlegungen zur Judenfrage einen neuen Freiheitsbegriff auf der Ebene des Objekts, also einen politischen, einführte. Trotz alledem blieb er auch auf die kritische Theorie scheinbar nicht ohne Wirkung. Vincent von Wroblewsky wies darauf hin, daß Sartres Text eine Verwandtschaft „bis in Wort und Bild“ mit Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ erkennen ließe[4].

Um einen Begriff von politischer Freiheit zu bekommen und trotzdem an der freien Wahl des Einzelnen festhalten zu können, stärkte Sartre seinen Begriff der „Situation“: Da er [der Jude, S.C.] wie jeder Mensch, eine Freiheit in Situation ist, muß man seine Situation von Grund auf verändern: es genügt in der Tat, die Perspektiven der Wahl zu ändern, damit die Wahl sich verändert; nicht, daß man dann Zugang zur Freiheit fände; aber die Freiheit entscheidet dann auf anderer Grundlage, hinsichtlich anderer Strukturen. Sartres Konzeption vom freien, ungebundenen, die Welt hervorbringenden Subjekts wandelte sich dahingehend, daß er den „stummen Zwang der Verhältnisse“ (Marx) anerkannte und ihn als für die Wahl des Subjekts verantwortlich zeichnete.

Besonders in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sah er – ähnlich der Frankfurter Schule – Wurzeln des Antisemitismus: Deshalb wird in einer klassenlosen Gesellschaft auf das kollektive Eigentum an den Arbeitswerkzeugen begründeten Gesellschaft, in der der Mensch, befreit von den Wahnvorstellungen der Vorzeit, sich endlich in seine Unternehmen stürzen wird, die darin besteht, das Reich des Menschen anbrechen zu lassen, der Antisemitismus keinerlei Daseinsgrund mehr besitzen: man wird seine Wurzeln gekappt haben. Dabei konnte Sartres Position keinesfalls als eine verstanden werden, die den Antisemitismus zum blanken Nebenwiderspruch der Produktionsordnung degradierte. Es sei, so Sartre, eine faule Lösung der künftigen Revolution die Klärung der Judenfrage zu überlassen. Er übernahm die Position seine Freundes Richard Wright, der über die USA sagte: „Es gibt kein schwarzes Problem in den Vereinigten Staaten, es gibt nur ein weißes Problem.“

Doch wie verband Sartre das selbständig entscheidende Subjekt mit den objektiven Zwängen, die die Juden durch den Antisemitismus erleiden mußten? Keinesfalls war Sartre, der Theoretiker des freien Subjekts, nun völlig auf die Seite der totalen Determination umgeschwenkt. Durch die stärkere Ausprägung seines Begriffs der Situation ermöglichte er es seiner Philosophie, den objektiven Verhältnisse einen größeren Stellenwert einzuräumen. Dennoch blieb bei aller objektiven Dominanz ein entscheidendes Subjekt – und dies machte die Originalität von Sartres Philosophie und seiner späteren Revision des Marxismus aus. Mit dieser Korrektur hatte er sein theoretisches Instrumentarium entwickelt, um sich an das Phantombild des Antisemiten und dessen „Urwahl“[5] zu wagen.

Das Phantombild des Antisemiten

Der Antisemit war für Sartre ein Mensch der Leidenschaft, jemand der – fast religiös – den Glauben statt der Vernunft gewählt hatte, der einem Manichäismus folgte. Durch diese Entscheidung zum Manichäismus ist dem Antisemiten kein Ausgleich mehr denkbar: Das Böse muß zum Wohle des Guten vernichtet werden. Die Grundposition des Antisemiten besteht darin, daß es ihm nicht darum geht, eine Gesellschaft aufzubauen, sondern die bestehende zu reinigen: [...] So wird der Kampf auf religiöser Ebene geführt, und sein Ende kann nur die heilige Vernichtung sein.

Der Antisemit war für Sartre ein Positivist - in dem Sinne, daß er das Böse entfernen wollte, weil er das Gute für schon gegeben hielt. Dieses macht ihn zum Sicherheitsventil für die herrschende Klasse [...], die ihn fördern und somit den ihr Regime gefährdenden Haß durch einen für sie harmlosen Haß gegen den einzelnen ersetzen.

Die tieferen Beweggründe des Einzelnen für den Antisemitismus erklärte Sartre psychologisch: Eine Komponente des Hasses ist ein tiefer und sexueller Hang zu den Juden. Dies war insofern erstaunlich, da Sartre sich hier auf Freudsches Terrain wagte[6]. Entgegen Freud bestand für Sartre die „sado-masochistische Komponente“ des Antisemitismus als bewußte.

Doch scheinbar spürte auch Sartre, daß seine Psychologie nicht ohne das Moment der Verdrängung auskam. Über den Antisemiten schrieb er abschließend: Er ist ein Mensch der Angst hat. Nicht vor den Juden, gewiß: vor sich selbst, vor seinem Bewußtsein, vor seiner Freiheit, vor seinen Trieben, vor seiner Verantwortung, vor der Einsamkeit, vor der Veränderung, vor der Gesellschaft und der Welt; vor allem außer den Juden. Er ist ein Feigling, der sich seine Feigheit nicht eingestehen will; ein Mörder, der seine Mordlust verdrängt und zensiert, ohne sie zügeln zu können, und der trotzdem nur in effigie oder in der Anonymität einer Menge zu töten wagt; ein Unzufriedener, der sich nicht aufzulehnen wagt aus Angst vor den Folgen seiner Auflehnung. Indem er sich zum Antisemitismus bekennt, übernimmt er nicht einfach eine Meinung, sondern wählt sich als Person.

Verdrängung, Angst und freie Wahl vermischten sich nun bei Sartre immer mehr. In seinen explizit psychologischen Studien über Baudelaire und Jean Genet sollte sich diese Technik der existentialistischen Psychoanalyse noch verfeinern. Vorerst wählte er eine Methode mit der er das gesellschaftliche Ganze aufzeigte, um danach auf die Wahl des Subjekts einzugehen. Dabei war das Subjekt keinesfalls mehr so frei: Die Situation begann im Sartreschen Werk eine immer wichtigere Größe einzunehmen – und drohte die Individuen mancherorts zu ersticken. Tatsächlich beschäftigte sich denn auch der Intellektuelle Sartre immer mehr damit, für eine Veränderung der gesellschaftlichen Situation einzutreten, um dem Subjekt eine tatsächlich freie Wahl zu ermöglichen.

Nachdem Sartre die Situation des Antisemiten analysierte, betrachtete er die des Juden. Da im Sartreschen Werk die Natur als solche zwar existierte, aber keine Rolle spielte, mußte er das Phänomen erklären, daß es einen kulturellen Antisemitismus gab, aber eben keinen Juden an-sich. Wenn ich wissen will, wer der Jude ist, muß ich, da er ein Wesen in Situation ist, zunächst seine Situation über ihn befragen. [...] Ich leugne nicht, daß es eine jüdische Rasse gibt. Doch wenn wir unter Rasse diesen undefinierbaren Komplex verstehen, in den man kunterbunt somatische Merkmale und intellektuelle Merkmale hineinpackt, glaube ich daran nicht mehr als an das Tischrücken. Ein Jude konnte also in der Sartreschen Konzeption gar nichts anderes darstellen als eine soziale Konstruktion: In Wahrheit hat jedes Land seine Juden, und unsere Vorstellung von Juden entspricht nicht der unserer Nachbarn. Wenn also so etwas wie eine jüdische Substanz besteht, dann in der Ablehnung des Juden. Sartre konstatierte: Weder ihre Vergangenheit noch ihre Religion, noch ihr Boden vereinen die Söhne Israels. Wenn sie ein gemeinsames Band haben, wenn sie alle den Namen verdienen, so weil sie eine gemeinsame Situation als Juden haben, das heißt in einer Gesellschaft leben, die sie für Juden hält.

Sartre bot als Beleg dieser These die gesellschaftliche Konstruierung des Juden durch die mittelalterliche Kirche, wo Juden eine ökonomische Funktion ersten Ranges belegten. Verflucht, übten sie einen verfluchten, aber unentbehrlichen Beruf aus; da sie weder Boden besitzen noch in der Armee dienen durften, erledigten sie die Geldgeschäfte, mit denen Christen sich nicht beschmutzen durften. Auf diese Weise kam zum ursprünglichen Fluch bald ein ökonomischer Fluch hinzu, und dieser wirkte fort. [...] So ist es auch nicht übertrieben zu sagen, daß die Christen den Juden erschaffen haben, indem sie seine Assimilation jäh unterbrachen und ihm eine Funktion aufzwangen, in der er sich seitdem hervorgetan hat. Der Jude als soziale Konstruktion wurde durch „den Anderen“, – konkret: durch den Antisemiten –, erschaffen.

Nachdem er also festgestellt hatte, daß der Antisemit den Juden macht, konstatierte er, daß der Antisemit aus der gesellschaftlichen Mitte entspringt - er verwies er auf den lausigen Umgang der Franzosen mit den Juden nach der Befreiung: Ganz Frankreich jubelt, auf den Straßen verbrüdert man sich, die sozialen Kämpfe scheinen vorläufig vergessen; die Zeitungen widmen ganze Spalten den Kriegsgefangenen, den Deportierten. Erwähnt man die Juden? Feiert man die Rückkehr der Überlebenden, gedenkt man einen Augenblick derer, die in den Gaskammern von Lublin starben? Kein Wort. Keine Zeile in den Tageszeitungen. Denn man darf die Antisemiten nicht reizen. Mehr denn je braucht man in Frankreich die Einheit. Die mythische Homogenität „Volk“ rettete auch im Nachkriegsdeutschland das Gemeinschaftsempfinden. Eine Reflexion fand nicht statt (mit Ausnahme der Frankfurter Schule, die damit jedoch schon vor 1933 begann) – die Adenauer-Ära begründete sich komplett auf dem großen Schweigen.

Sartre rechnete mit dem „demokratischen Frankreich“ ab. „Ein lethargisch gewordenes Frankreich bekam eine innere, lang gereifte Wahrheit, eine Sartresche Evidenz ins Gesicht geschleudert.“[7] so Cohen-Solal. Damit war gemeint, daß Sartre die Subsumtion der „Judenfrage“ unter den generellen demokratischen Humanismus nicht akzeptierte. Er stellte die Solidaritätsfrage: Wer steht überhaupt an der Seite der Juden? Seine Antwort war niederschmetternd.

Seine Erkenntnis? Der Demokrat, der den Juden verteidigt, befürchtet, es könne beim Juden ein «jüdisches Bewußtsein» erwachen, das heißt ein Bewußtsein jüdischer Kollektivität, wie er beim Arbeiter das Erwachen des «Klassenbewußtseins» fürchtet. Seine Verteidigung besteht darin, die Individuen davon zu überzeugen, daß sie in isoliertem Zustand existieren. «Es gibt keine Juden», sagt er, «es gibt keine Judenfrage». Sartre konstatierte auch dem liberalsten Demokraten einen Antisemitismus, sobald es dem Juden einfalle sich als Juden zu denken. Der Jude stehe in der Situation, so Sartre, daß er leidenschaftliche Feinde und leidenschaftslose Verteidiger habe.

So war die Naziverordnung, mit der Juden gezwungen wurden, einen gelben Stern zu tragen, für Sartre nichts anderes als eine bereits gegebene Situation – nur auf die Spitze getrieben. Er verglich die Situation der Juden mit der des Helden in Kafkas Prozeß: [...] wie der Held des Romans ist der Jude in einen langen Prozeß verwickelt, er kennt seine Richter nicht, seine Anwälte kaum besser, er weiß nicht, was man ihm vorwirft, und dennoch weiß er, daß man ihn für schuldig hält; das Urteil wird ständig um acht Tage, um vierzehn Tage verschoben, er nutzt das, um sich auf tausenderlei Weise zu schützen; doch jede seiner blind getroffenen Vorsichtsmaßnahmen zieht ihn ein wenig tiefer in die Schuld hinein; seine äußere Situation mag glänzend scheinen, doch dieser endlose Prozeß höhlt ihn unsichtbar aus, und es geschieht manchmal wie im Roman, daß ihn Männer unter dem Vorwand, er hätte seinen Prozeß verloren, packen, mitschleppen und ihn auf freiem Feld außerhalb der Stadt umbringen. Dies war also nach Sartre die Situation des Juden. Wo blieb da noch das Moment des Subjektiven, der „freien“ Wahl?

Authentischer und unauthentischer Jude?

Die Wahl des Juden bestand für Sartre darin zu wählen, ob er ein „authentischer Jude“ oder ein „unauthentischer Jude“ sei. Doch sehr groß war das Spektrum der Wahl nicht. Ein unauthentischer Jude war für ihn jemand der von anderen Menschen für einen Juden gehalten wird, und der gewählt hat, vor dieser unerträglichen Situation zu fliehen. Wie Sartre selbst schrieb: Die Situation selbst ist unerträglich. Die gesellschaftlichen Zwänge aufs Subjekt hatten in dieser Konstellation einen Grad erreicht, der auch für den Philosophen der Freiheit des Subjekts unerträglich wurde. Dieser gesellschaftliche Zwang, war für ihn dafür verantwortlich, daß viele unauthentische Juden spielten, sie seien gar keine Juden. Doch diese Wahl war für ihn durch die antisemitische Gesellschaft zum Leid verurteilt. Mehr noch: Durch die Wahl Nicht-Jude zu sein, existiere sogar ein Antisemitismus des unauthentischen Juden, der darin besteht alles, was andere als jüdisch ansehen könnten, abzulegen. Der Antisemitismus des unauthentischen Juden und sein Masochismus stellen gewissermaßen die beiden Extreme seiner Bemühungen dar: in der ersten Haltung geht er soweit, seine Rasse zu verleugnen, um rein individuell, nur noch ein Mensch ohne Makel inmitten von anderen Menschen zu sein; in der zweiten verleugnet er seine Freiheit als Mensch, um der Sünde zu entkommen, Jude zu sein, und um die Ruhe und Passivität des Dinges zu erlangen. Der Antisemitismus, mit seinem Muster „den Anderen“ zum Juden zu machen, war für Sartre ein internationales Phänomen, gegen das er leidenschaftlich stritt: [...] das von den Nazis vergossene Blut fällt zurück auf das Haupt eines jeden von uns. Was der authentische Jude sein könnte, war für Sartre nicht zu bestimmen: er ist, wozu er sich macht, mehr ist nicht zu sagen. Doch auch die Wahl zum authentischen Juden war für Sartre keine Lösung – weder individuell noch gesellschaftlich. Die einzige Lösung bestand für ihn darin, den Antisemitismus abzuschaffen.

Als praktische, reale Politik sprach Sartre sich – mangels konkreter Alternativen – für einen konkreten Liberalismus aus, der zuallererst von einer Rechtsgleichheit ausgehen sollte: Was wir hier vorschlagen, ist konkreter Liberalismus. Darunter verstehen wir, daß alle, die durch ihre Arbeit zur Größe eines Landes beitragen, volle Bürgerrechte in diesem Land genießen. Doch dieses Mittel, Sartre war sich dessen bewußt, taugt nicht zum Sieg über den Antisemitismus. Machen wir uns jedoch keine Illusionen über die Wirksamkeit dieser Maßnahmen: Gesetze haben den Antisemiten nie gestört und werden ihn nie stören, weil er das Bewußtsein hat, einer mythischen Gesellschaft außerhalb der Legalität anzugehören. Die gesellschaftlichen Bedingungen selbst, aus denen der Antisemitismus entsteht, müssen beseitigt werden. Der Kampf gegen den Antisemitismus war für Sartre Teil des Klassenkampfes. Wir stellen fest, der Antisemitismus ist eine leidenschaftliche Anstrengung, die nationale Einheit gegen die Spaltung der Gesellschaft in Klassen zu verwirklichen. Man versucht die Fragmentierung der Gemeinschaft in feindliche Gruppen zu beseitigen, indem man die gemeinsamen Leidenschaften derart erhitzt, daß sie die Schranken zum Schmelzen bringen. Und da die Spaltungen fortbestehen, weil ihr ökonomischen und sozialen Ursachen nicht angetastet wurden, versucht man sie alle in eine einzige zu bündeln: die Unterscheidungen zwischen Reichen und Armen, zwischen arbeitenden und besitzenden Klassen, zwischen Reichen und Armen, zwischen arbeitenden und besitzenden Klassen, zwischen legalen und okkulten Mächten, zwischen Stadt und Land usw. faßt man alle zusammen als Juden und Nichtjuden. Kurz: Sartre sah im Antisemitismus ein Ventil des Klassenkampfes. Durch die Beseitigung der gesellschaftlichen Grundlagen des Antisemitismus, der Gesellschaft der Klassen, so hoffte er, sollte es auch kein Fundament mehr geben, auf dem der Antisemitismus bauen könnte. Mit dieser Erkenntnis verknüpfte er den Kampf gegen den Antisemitismus als Kampf für das Subjekt selbst, so daß wir für den Juden kämpfen müssen, nicht mehr und nicht weniger als für uns selbst.

Denn die Geschichte des Nationalsozialismus war hinter der Vernichtung der Juden auch die Geschichte der Ermordung einer Millionen Kommunisten, Sozialdemokraten, Anarchisten und Psychoanalytiker. Deshalb konnte Sartre mit Fug und Recht schreiben, daß keiner frei ist, solange noch ein Jude in der ganzen Welt um sein Leben fürchten muß. Für Sartre oblag es gerade jenen Kritikern des Kapitalismus die Juden zu verteidigen und sich für sie stark zu machen, da ihr Schicksal untrennbar mit jüdischen verbunden sei – ein Argument, daß in den heutigen Israel-Debatten der Linken viel zu oft verloren gegangen ist.

Die „Überlegungen zur Judenfrage“ entstanden in einem langen Prozeß. 8 Jahre brauchte es, bis die ersten Entwürfe in den endgültigen Text mündeten. Sartres erste Abrechnung mit Frankreich war geschrieben. Zwar kann man bedauern, daß das Wort Auschwitz darin nicht vorkommt, doch ist dies im Jahr 1944 wenig verwunderlich. Bernard-Henry Lévy schrieb in seiner Sartre Biographie: „Was Sartre anbetrifft, so muß man immer wieder die enorme Kühnheit anerkennen, ein solches Buch zu einer solchen Zeit veröffentlicht zu haben, als niemand etwas über die Aspekte der Judendeportation hat hören wollen; als alle Welt es für bequemer oder günstiger hielt, das Schicksal der Juden mit dem anderer Opfer des Nationalsozialismus unter dieselbe unerhört schwammigen Kategorien des »Patrioten« oder »für Frankreich gestorben« zu vermengen; zu einer Zeit, als schon ihr Name unaussprechlich geworden war. […] Man muß dieses erste Buch begrüßen, das es gewagt hat, dieses Tabu zu brechen und dem Entsetzen ins Gesicht geschaut hat.“[8]

Mit den „Überlegungen zur Judenfrage“ verließ Sartre das Terrain des Philosophen der reinen, ungebundenen, freien Wahl. Die große Originalität seiner Texte sollte von nun an darin bestehen, daß er gesellschaftliche Analysen mit der Analyse der Subjektivität verband. Wie entschieden sich Subjekte unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen? Die Frage, ob sie in anderen Gesellschaften anders entschieden, war mit Ja beantwortet. Darauf schloß sich eine neue Frage an: Wie seien Gesellschaften einzurichten, um die Subjekte zu anderen Entscheidungen zu bringen? Sartres Philosophie sollte von nun an eine Dialektik von Subjekt und Objekt in konkretem Sinne von Individuum und Gesellschaft in sich beherbergen.

Mit der Gründung Israels, die Sartre leidenschaftlich begrüßte, entstand im Laufe der Jahrzehnte eine neue Situation: Während der Zeit vor der Gründung Israels mit Fug und Recht gesagt werden konnte, daß der Antisemit den Juden machte, veränderte sich mit dem Aufstieg Israels diese Zuschreibungshoheit – sie durchdringt die israelische Gesellschaft bis heute. Bis heute existiert in Israel kein Konsens über die Frage: Wer ist Jude?

Das Problem der Gründung Israels bestand nicht zu letzt darin, daß es – wäre es mit gerechteren Dingen zugegangen – es eigentlich ein Teil Deutschlands hätte sein müssen, der für die Staatsgründung hätte annektiert werden müßte. In der ZEIT faßte Dan Diner ein Gespräch zwischen Ben Gurion und Nahum Goldmann zusammen: „In diesem Gespräch äußerte Ben Gurion einen überraschend düsteren Gedanken. Er glaube schon, daß man ihn, den fast 70-Jährigen, noch in israelischer Erde begraben werde, seinen Sohn Amos aber wohl kaum noch. Erschrocken fragte Goldmann nach den Gründen für einen derartig überbordenden Pessimismus. Nach einigem Zögern gab Ben Gurion seine tiefsten Zweifel preis: Die Araber würden Israel niemals akzeptieren. Ja, sicher, Gott habe das Land dem Volke Israel versprochen. Aber, fuhr Ben Gurion fort, dieser Gott ist unser Gott. Für die Araber hat das keine Verbindlichkeit. Die Vernichtung der europäischen Juden, der Holocaust? Da sei es doch eher an den Deutschen, das Rheinland zu räumen, um Platz für die Errichtung eines jüdischen Staates zu machen. Was aber hätten die Araber damit zu tun? Nach längerem nachdenklichen Schweigen gab Goldmann mit der ihm eigenen Ironie zurück: Er hoffe, die Araber dächten nicht wie Ben Gurion.“[9]

Als der Staat Israel gegründet wurde, schrieb Sartre: Für die Juden ist es die Krönung ihrer Leiden und ihres heroischen Kampfes; für uns bezeichnet es einen konkreten Fortschritt hin zu einer Menschheit, in der der Mensch die Zukunft des Menschen sein wird. Leider sollte sich diese Prognose nicht erfüllen und auch Sartre kritisierte in den folgenden Jahrzehnten die israelische Politik aufs Schärfste. An einem hielt er im Gegensatz zu anderen Linken jedoch immer unumstößlich fest: am Existenzrecht Israels.

Dieser Text ist der erste Teil einer Artikelserie, die in loser Folge veröffentlicht wird.

Teil 2: Sartre und Israel. Die Gründung und der Aufstieg Israels.
Teil 3: Sartre und Israel. Sartre im Alter: Ein jüdischer Sartre?

 

Anmerkungen

[1] Alle kursiven Textstellen sind Zitate von Jean-Paul Sartre. Wer an der genauen Fundstelle interessiert ist, benutze bitte das Forum.

[2] Marcuse, Herbert: Existentialismus, Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres L’Être et le Néant, in: Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt /M, 1970, S. 65

[3] vgl. Claussen, Grenzen der Aufklärung, Frankfurt /M, 1994, S. 184ff. Zu Claussens Verteidigung muß gesagt werden, daß er die alte Übersetzung der „Überlegungen zur Judenfrage“ heftig kritisiert (Claussen, a.a.O., S. 252, FN 13) und ihr vorwirft daß „Sartre durch seine Übersetzung korrumpiert wird“.

Weiterhin siehe: Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Gesammelte Werke, Frankfurt /M, S. 61. Adorno wirft der Sartreschen Philosophie vor: „Was der Mensch an sich sein soll, ist immer nur, was er war: er wird an den Felsen seiner Vergangenheit festgeschmiedet. Er ist aber nicht nur, was er war und ist, sondern ebenso, was er werden kann; keine Bestimmung reicht hin, das zu antizipieren.“ Diese Vorwurf zeugt von einer, sonst für Adorno völlig untypischen, Unkenntnis des Sartreschen Werkes. Gerade der existentialistische Freiheitsbegriff, den Claussen als „erschreckend leer“ kritisierte, weil er ahistorisch war, implizierte permanent den Entwurf des Menschen als sein eigentliches Wesen und besagte das genaue Gegenteil von dem, was Adorno kritisierte.

[4] Von Wroblewsky, Vincent: Sartres jüdisches Engagement – die Vorgeschichte, in: Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 267

[5] Mit dem Begriff der Urwahl bezeichnete Sartre in seiner Variante der Psychoanalyse den Zustand eines Menschen, in dem er – meist in der Kindheit - eine Entscheidung trifft, die sein weiteres Leben bestimmt. Die Aufgabe der existentialistischen Psychoanalyse sei es, diese Urwahl wieder sichtbar und einer erneuten Wahl unter Sichtbarmachung der gesellschaftlichen und familiären Beziehungen zugänglich zu machen. Sartre exemplierte dies zu erst an Baudelaire (1947), später an Jean Genet (1952). Erst mit seinem Freud-Drehbuch (1958) akzeptierte er ein Unbewußtes. Sein Meisterstück in diesem Sujet war allerdings – mit seiner neu entwickelten „progressiv-regressiven“ Methode die Studie zu Flaubert.

[6] Im selben Jahr der Veröffentlichung der „Überlegungen zur Judenfrage hielt Sartre vor der Sociéte Française de Philosophie einen Vortrag (Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, in: Gesammelte Werke, Philosophische Schriften I) in dem er nochmals seine Position vom fehlenden Unterbewußten gegen Freud bekräftigte.

[7] Cohen-Solal, Annie: Sartre, Reinbek bei Hamburg, 1988., S. 448

[8] Lévy, Bernhard-Henry: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts München, Wien, 2002, S. 384f

[9] Diner, Dan: Sprachlos am Zaun,
http://ad.de.doubleclick.net/adi/www.zeit.de/politik;sz=234x60;tile=3;ord=983460864?

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sopos 5/2004