von Aram Ziai
Koloniale Diskurse über »unzivilisierte Völker« und die legitime Vorherrschaft des »weißen Mannes« erscheinen aus heutiger Sicht als vollkommen anachronistisch. Doch der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hegemonial gewordene Entwicklungsdiskurs weist mehr Kontinuitäten zum kolonialen Denken auf, als auf den ersten Blick sichtbar ist.
Ob Cecil Rhodes von den Vorteilen der segensreichen englischen Weltherrschaft schwärmt, der französische Außenminister G. Hanotaux in »barbarischen Landstrichen« die »Zivilisation« verbreiten oder Kaiser Wilhelm II. andere Weltteile für die »christliche Gesittung« gewinnen will, ob der US-amerikanische Politiker A. J. Beveridge von Gottes Vorsehung, der Alldeutsche Verband vom »Recht eines Herrenvolkes« oder der belgische König Leopold II. von einem »Kreuzzug gegen die Finsternis« redet: Die Rechtfertigungen imperialer Eroberungspolitik Ende des 19. Jahrhunderts sind weitgehend austauschbar. Die Grundstruktur des kolonialen Diskurses ist zunächst die Zweiteilung der Welt in »zivilisierte Völker« oder »Nationen« und »unzivilisierte Stämme« oder »Menschenmassen« – wobei letztere nicht zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten in der Lage sind und erstere ihnen dabei zu Hilfe kommen, da sie von Gott oder der Natur zur Herrschaft vorbestimmt und fähig, ja sogar um der Menschheit Willen dazu verpflichtet sind. So weit, so simpel.
Gleichzeitig werden mit dieser legitimatorischen Funktion kolonialer Wissensproduktion Identitäten konstruiert. Dabei kann sich die eigene europäische, westliche oder abendländische Identität als fortschrittlich, freiheitlich und zivilisiert sowie als ideale Norm menschlicher Existenz selbstverständlich nur in der Abgrenzung zu einem rückständigen, barbarischen »Anderen« herausbilden, das als defizitäre Abweichung von dieser Norm definiert wird.[1] Diskursive Konstruktionen ermöglichen auch dann die Selbstzuschreibung als »zivilisiert«, wenn man sich in den Kolonien der Folter und ähnlicher, eher mit dem Etikett »unzivilisiert« gekennzeichneter Praktiken bedient. Ein Beispiel dafür ist der Regionalexperte John Foreman, der 1898 über die Praxis der US-Regierung auf den Philippinen urteilt: »Die Filipinos, wie auch viele andere nichteuropäische Rassen, betrachten einen Akt der Großzügigkeit oder ein freiwilliges Zugeständnis an die Gerechtigkeit als ein Zeichen von Schwäche. Daher wird der (in der Kolonialpolitik) erfahrene Europäer oftmals genötigt, härter vorzugehen, als es seine eigene Natur ihm vorschreibt.«[2] Das solcherart produzierte »Wissen« ermöglicht den »Zivilisierten« die Anwendung »barbarischer« Praktiken.
Die Anwendung brutaler Praktiken wird darüber hinaus als rational gekennzeichnet. Der Kolonialdiskurs konstruiert hier wie auch an zahllosen anderen Stellen ein Ensemble von Differenzen: rational/emotional, vernunft-/instinktgeleitet, fähig/unfähig zur Herrschaft, souverän/abhängig, kolonisierend/kolonisiert, höher-/minderwertig usw. Die einzelnen Zuschreibungen sind durch Äquivalenzketten verknüpft: höherwertig sein bedeutet zivilisiert sein, zivilisiert sein bedeutet rational handeln, rational handeln bedeutet zur Herrschaft fähig sein, und so fort. Der implizite Fixpunkt, um den die Differenzen gruppiert sind, ist die »Rassenzugehörigkeit«, genauer: Die Rassen- und Geschlechterzugehörigkeit. Die positiven Begriffe finden ihre Verkörperung im »weißen Mann«. Dieser bildet auf der kollektiven Ebene die Grundlage für das »Herrenvolk«. Der »weiße Mann« konstituiert somit das, was Politikwissenschaftler Ernesto Laclau den Nodalpunkt oder »dominanten Signifikanten« eines Diskurses nennt: das Zentrum, das als Referenzpunkt für jene Differenzen dient, anhand derer die jeweiligen Identitäten konstruiert werden. Er ist der Maßstab aller Dinge.
Dementsprechend werden »die Eingeborenen«, die im Kolonialdiskurs das »Andere« des weißen Mannes darstellen, im besten Fall als naturverbundene Kinder, im schlechtesten als tierhafte Wilde dargestellt. Die Differenz des »Anderen« zum weißen Mann wird dabei gleichzeitig universalistisch geleugnet und essentialistisch verfestigt: Geleugnet wird sie, da in der ethnozentrischen Bewertung der Eingeborene nur als minderwertiges und unvollkommenes Abbild der eigenen Norm menschlicher Existenz erscheint, das im Hinblick auf diese Norm zu erziehen und assimilieren ist. Das Unbekannte, Fremde erscheint so als defizitäre Version des Bekannten und Eigenen. Der postkoloniale Theoretiker Homi Bhabha spricht deshalb von »kolonialer Mimikry«. Verfestigt wird die Differenz, da trotz aller Erziehung und »Hebung« der Kolonisierten diese innerhalb der Diskursordnung immer wesensmäßig minderwertig bleiben und nie ganz das Zivilisationsniveau des weißen Mannes erreichen.
Allerdings ist bereits hier das Element der »Entwicklung« im Kolonialdiskurs anzutreffen. Während zwar selbst im frühen 20. Jahrhundert noch viele Liberale die Vorstellung zurückwiesen, »die Neger seien nur noch nicht soweit entwickelt wie wir«, finden sich schon im 19. Jahrhundert andere wie John Stuart Mill, die die (unhinterfragte) Minderwertigkeit der Kolonisierten auf historische statt auf »rassische« Gegebenheiten zurückführen: die Europäer seien einfach »weiter fortgeschritten in der Geschichte der menschlichen Verbesserung«. Hier wird die im Gefolge der Aufklärung und im sozialwissenschaftlichen Evolutionismus des 19. Jahrhundert populär gewordene eurozentrische Denkfigur formuliert, dass die Zustände in Afrika, Asien und Amerika vor der Besiedelung durch Weiße weiter zurückliegende Stufen der menschlichen Evolution darstellen.
Bei der Anwendung dieser Denkfigur auf die Kolonien erfährt der Begriff »entwickeln« jedoch eine Verschiebung: er wird vom intransitiven zum transitiven Verb, d.h. »sich entwickeln« wird ersetzt durch »andere entwickeln«. Die Kolonialmächte übernehmen treuhänderisch die Aufgabe der »Entwicklung der rückständigen Gebiete«. »Entwicklung« bezieht sich jedoch zunächst auf die Ausbeutung der wirtschaftlichen Ressourcen der Region und die »Zivilisierung« der Kolonisierten – nicht aber auf die Verbesserung von deren Lebensstandard. Erst in einem langen und diskontinuierlichen Prozess während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt sich die Vorstellung durch, dass die »Entwicklung« einer Kolonie mit einer materiellen Verbesserung für die einheimische Bevölkerung verbunden sei.[3]
Ein Zwischenschritt auf diesem Weg ist das Mandatssystem des Völkerbunds. Die Rechtfertigung der Vormundschaft einiger Länder über andere wird an das Wohlergehen der beherrschten Bevölkerung geknüpft. Einige Länder (jene, die »von Völkern bewohnt wurden, welche den harten Bedingungen der modernen Welt noch nicht alleine standhalten konnten«, wie es beim Völkerbund heißt) bedürften zwar noch der »Anleitung« durch andere, aber nur unter Überwachung einer internationalen Organisation, der Permanent Mandates Commission. Hier weht bereits ein Hauch von Universalismus: von einer »natürlichen« Ungleichheit der Völker ist keine Rede mehr. Eine neue Diskursordnung formiert sich, die in der Nachkriegszeit und mit der Dekolonisierung zur bestimmenden Struktur in den Darstellungen der Nord-Süd-Beziehungen wird.
Der Entwicklungsdiskurs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weist einige grundlegende Veränderungen gegenüber dem Kolonialdiskurs auf. Als wichtigste ist sicherlich zu nennen, dass die Menschen in den entsprechenden Ländern nicht mehr als unfähig dargestellt werden, sich selbst zu regieren. Der koloniale Rassismus ist insbesondere durch die nationalsozialistische Rassenpolitik weitgehend diskreditiert. Das ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker' und die allgemeinen Menschenrechte erfahren daher auf der diskursiven Ebene immer uneingeschränktere Zustimmung.
In der viel zitierten Antrittsrede von US-Präsident Harry S. Truman wird 1949 die neue Diskursordnung deutlich: »(...) wir müssen ein kühnes neues Programm auf den Weg bringen, um die Vorzüge unseres wissenschaftlichen und industriellen Fortschritts der Verbesserung und dem Wachstum der unterentwickelten Gebiete verfügbar zu machen. (...) Mehr als die Hälfte der Menschen auf der Welt lebt unter nahezu elenden Bedingungen. (...) Ihre Wirtschaft ist primitiv und stagnierend. Ihre Armut ist ein Hemmnis und eine Bedrohung, sowohl für sie als auch für die wohlhabenderen Gebiete. (...) Ich glaube, daß wir friedliebenden Völkern die Vorzüge unseres gesammelten technischen Wissens zur Verfügung stellen sollten, um ihnen das Streben nach einem besseren Leben zu erleichtern. Und wir sollten (…) Kapitalinvestitionen in Gebiete, die Entwicklung brauchen, fördern. (...) Unser Ziel sollte sein, den freien Völkern der Welt zu helfen, durch ihre eigenen Anstrengungen mehr Nahrung, mehr Kleidung, mehr Baumaterial und mehr ihre Mühsal erleichterndes mechanisches Gerät herzustellen. (...) In unseren Plänen ist kein Platz mehr für den alten Imperialismus, der Ausbeutung zugunsten von Profiten bedeutete. Was uns vorschwebt ist ein Programm der Entwicklung auf der Grundlage von demokratischem fairen Handel.«
Sichtbar wird bei Truman die Annahme von der eingeschränkten Gleichwertigkeit der Völker: alle sind gleich, nur einige sind auf der universellen Entwicklungsbahn der Menschheit nicht so weit fortgeschritten: Sie sind »unterentwickelt«. Nach dem Wegfall des rassistischen Elements wird jedoch kaum noch von unterentwickelten Völkern oder Menschen gesprochen, sondern in der Regel von unterentwickelten Ländern oder Regionen. Der Gegenstandsbereich wird sozialgeographisch statt biologisch erfasst. Die Zweiteilung »zivilisiert/unzivilisiert« wird durch den Dualismus »entwickelt/unterentwickelt« ersetzt. Das daran anknüpfende Ensemble der Differenzen lässt sich wie folgt skizzieren: Industrieller und wissenschaftlicher Fortschritt vs. Stagnation, Technologie vs. Handarbeit, Modernität vs. Tradition, hohe vs. niedrige Produktivität, materieller Wohlstand vs. Armut, Freihandel und Demokratie vs. alter Imperialismus, Entwicklungshilfegeber vs. Entwicklungshilfenehmer usw.
Wieder sind die einzelnen Elemente dieses Diskurses untrennbar miteinander verknüpft: ein besseres Leben ist ohne industriellen Fortschritt nicht denkbar, dieser bedarf der Produktivitätssteigerung und des Wirtschaftswachstums, Voraussetzungen dafür sind Freihandel und Weltmarktintegration etc. Der Referenzpunkt für die neuen Differenzen ist die »entwickelte« Industriegesellschaft, primär die der USA. Auch wenn der Nodalpunkt des Entwicklungsdiskurses geschlechtsneutral scheint, so sind die mit ihm assoziierten Werte (Technologisierung, Modernität, Rationalität, Produktivität) unverkennbar maskulin konnotiert. Anhand dieser Norm werden die Länder des Südens und die zahllosen heterogenen Gesellschaftsformen der dort lebenden Menschen als defizitär klassifiziert: sie leiden an einem »Mangel an Entwicklung«. Aufgrund dieser Diagnose wird die entsprechende Medizin verordnet: »Entwicklung« in Form von Modernisierung, Technologietransfer und Kapitalinvestititionen.
Die »Entwicklung« der ehemaligen Kolonien wird in diesem Diskurs zu einer zentralen Aufgabe, die nach dem Wegfall des rassistischen Elements nicht mehr den »Eingeborenen« vorenthalten werden kann und somit den neuen Eliten der postkolonialen Staaten zufällt. Diese, wie auch weite Teile der Bevölkerung, nehmen den Entwicklungsdiskurs durchaus positiv auf. In ihm werden sie schließlich als gleichberechtigte Teilnehmer im »Entwicklungswettbewerb« konstruiert, die den Rückstand gegenüber den führenden Nationen in wenigen Jahrzehnten aufholen können. Zugleich wird allerdings eine Identität der »Unterentwickelten« als rückständig und Teil einer unterlegenen Kultur produziert, deren Defizite nur durch Übernahme von Idealen wie Produktivität und Modernität sowie ständiges Streben nach Angleichung an die Norm auszugleichen sind.
Die im Entwicklungsdiskurs hervorgebrachte Identität der »Entwickelten« hingegen ist nicht nur verknüpft mit den Idealen von Freiheit und Demokratie, Freihandel und Fortschritt, sie ist in einem entscheidenden Punkt auch eine »Samariter-Identität«: Den Not leidenden Völkern wird Entwicklungshilfe gewährt. Dass hierbei auch eigene Interessen im Spiel sind, wird schon von Truman offen zugegeben: Die Armut des Südens wird als »Hemmnis« und als »Bedrohung« dargestellt. Ein Hemmnis ist sie für die Expansion der US-Wirtschaft, die in der Nachkriegszeit auf neue Absatzmärkte und alte Rohstofflager angewiesen war, eine Bedrohung ist sie vor dem Hintergrund der Gefahr des »Überlaufens« im Kalten Krieg. Die zentrale Bedeutung der Hegemonialisierung dieser Problemkonstruktion ergibt sich aus der veränderten globalen Konstellation nach dem Zweiten Weltkrieg und der anti-kolonialen Stoßrichtung des Entwicklungsdiskurses: Im Gegensatz zum »alten Imperialismus« ist nun das Ziel die Prägung von (afrikanischen, asiatischen, lateinamerikanischen) Subjekten, die aus freien Stücken eine Weltordnung unterstützten, die den Interessen der Metropolen entsprach.
Die Dependenztheorien setzen dieser modernisierungstheoretischen Konzeption in den sechziger und siebziger Jahren einen alternativen Entwurf entgegen. Er bricht die Beschränkung des Entwicklungsdiskurses auf die nationalstaatliche Ebene auf und analysiert »Unterentwicklung« wie auch »Entwicklung« als zwei Seiten einer Medaille, nämlich des kapitalistischen Weltsystems. Dementsprechend lautet die Therapieempfehlung nicht Weltmarktintegration, sondern Abkopplung und »autozentrierte« Entwicklung. Hinsichtlich der Problemkonstruktion verbleiben die Dependenztheoretiker jedoch im Entwicklungsdiskurs. So wird z.B. bei Hernando Enrique Cardoso und Enzo Faletto die im Süden zu verwirklichende »echte« (im Gegensatz zu »assoziativ-abhängiger«) Entwicklung definiert als »eine Verringerung der Abhängigkeit und die Wandlung des Wirtschaftssystems von einer peripheren zu einer zentralen Ökonomie«.[4] Mit anderen Worten: anzustreben ist der Übergang zur metropolitanen Industrienation. Das Differenzsystem des Entwicklungsdiskurses bleibt weitestgehend intakt.
Der von dependenztheoretischer Seite nur partiell unterminierte Dualismus »helfende vs. hilfsbedürftige Länder« hat noch weitere Implikationen. Nachdem die »barbarischen Massen« der Kolonialzeit nun als Menschen angesehen werden, gerät das Problem der globalen Armut in den Blick. Die Entwicklungshilfe dient jedoch nicht nur dem Kampf gegen die Armut, sondern auch ihrer Überwachung, ihrer Verwaltung und ihrem Management – gerade auch im Hinblick auf ihre potenziell bedrohlichen Konsequenzen für die kapitalistische Weltordnung. Dazu notwendig sind Institutionen, die Wissen über die Dritte Welt und ihre Subjekte produzieren und diese sichtbar, messbar und zum Objekt von Sozialtechnologie machen.[5] Die Rolle der Entwicklungsländerforschung ist hierbei durchaus kritisch zu sehen. Die Scharen von EntwicklungshelferInnen und ExpertInnen, die von Nord nach Süd wandern, tragen zur Verfestigung dieser Struktur bei: die Menschen im Süden haben Probleme, und die Menschen aus dem Norden verfügen über Lösungen. Dass es im Norden Probleme gibt, für die im Süden problemlösendes Wissen vorhanden ist, ist eine Aussage, für die im Entwicklungsdiskurs kein Raum ist.
Festzuhalten bleibt, dass der Entwicklungsdiskurs gegenüber dem kolonialen Diskurs in stärkerem Maße auf die Identitätsproduktion im Süden ausgerichtet ist, da in ihm die gewaltsame Durchsetzung metropolitaner Interessen nicht vorgesehen ist.[6] Dies ist die logische Konsequenz aus der Delegitimierung rassistischer Ungleichheitsvorstellungen, welche die Grundlage für Herrschaftsstrukturen auf internationaler Ebene darstellten. Aus dieser Perspektive erscheint die neue Diskursordnung zunächst als emanzipatorischer Fortschritt.
Die trotz der vielen Veränderungen unübersehbaren Konstanten zwischen Kolonial- und Entwicklungsdiskurs beziehen sich zum einen auf die grundlegende Diskursstruktur, zum anderen auf die geschichtsphilosophischen und sozialtechnologischen Elemente sowie daraus resultierend auf den Eurozentrismus und das Gewaltpotenzial. Die grundlegende Struktur beider Diskurse ist die Zweiteilung der Welt in einen fortgeschrittenen, überlegenen Teil und einen zurückgebliebenen, minderwertigen Teil. Das Eigene dient als Norm, anhand derer die Minderwertigkeit des Fremden objektiv nachgewiesen wird. »Entwicklung« wird immer noch mit Fortschrittsindikatoren wie Bruttosozialprodukt, Lebenserwartung oder Schulbildung »gemessen«, während beispielsweise Gastfreundschaft, nicht monetäre soziale Netze oder ein nicht rein instrumenteller Umgang mit der Natur unberücksichtigt bleiben. Das Differenzsystem der Entwicklungsära schließt unmittelbar an das der Kolonialperiode an, seine Zweiteilungen erscheinen durch die umfangreiche Vorarbeit des Vorgängerdiskurses geradezu selbstverständlich.
Das geschichtsphilosophische Element besteht in der (vom sozialwissenschaftlichen Evolutionismus des 19. Jahrhundert übernommenen) Vorstellung eines einheitlichen menschlichen Entwicklungswegs, auf dem die westlichen Industrienationen weiter fortgeschritten als die nicht-westlichen Länder seien. Die unzähligen Möglichkeiten menschlicher Gesellschaft werden auf den Nachvollzug des westeuropäischen Industriekapitalismus reduziert, dessen Herausbildung als notwendiges Stadium der Menschheitsgeschichte verklärt wird. Der Diskurs der »Entwicklung« ist somit durch und durch eurozentrisch. Das sozialtechnologische Element, die Länder des Südens (und die dort lebende Bevölkerung) nach rationalen Gesichtspunkten umzugestalten, ist ebenfalls erhalten geblieben. Allerdings sind es jetzt die von entwicklungspolitischen Organisationen unterstützten staatlichen Institutionen in den so genannten Entwicklungsländern selber, die »im Interesse der nationalen Entwicklung« entsprechende Maßnahmen auch autoritär umsetzen.
Das koloniale Konzept der Treuhandschaft geht in der postkolonialen Ära auf die Entwicklungsexperten über, ohne jedoch sein Gewaltpotenzial einzubüßen.[7] Zwar ist hierbei oft eine Überschneidung von Staats- und Entwicklungsdiskurs festzustellen, das autoritäre Element ist jedoch untrennbar auch in letzterem verankert. Das Wissen von der »Entwicklung« ist Wissen über die Falschheit anderer Lebensweisen. Es verleiht Eingriffen in diese die Aura der guten Tat. Das autoritäre Element ergibt sich aus einer Formationsregel des Entwicklungsdiskurses: eine Äußerung im Entwicklungsdiskurs bedingt die Position einer Person, die weiß, was »Entwicklung« ist und wie man sie erreichen kann. Andersartige Äußerungen erscheinen inhaltsleer. Dies bedingt die Unterordnung der Vorstellungen anderer Personen.[8]
Namhafte Entwicklungstheoretiker belegen regelmäßig, dass die eurozentrischen und sozialtechnologischen Elemente auch heute noch im Entwicklungsdiskurs präsent sind: So z.B. die Entwicklungssoziologen Volker Lühr und Werner Schulz, wenn sie als Ziel der Entwicklungstheorie die »Globalisierung des ‘Projekts der Moderne' nach europäisch-angelsächsischem Muster« formulieren[9], der ehemalige Dependenztheoretiker Dieter Senghaas, wenn er von »zurückgebliebenen Gesellschaften« spricht[10], oder der Modernisierungstheoretiker Wolfgang Zapf, wenn er das Ziel der Entwicklung als moderne Gesellschaft mit den »Basisinstitutionen der Konkurrenzdemokratie, der Marktwirtschaft, des Wohlfahrtsstaates und des Massenkonsums« beschreibt und dabei die Umwandlung der Gesellschaftsmitglieder in »gut ausgebildete, mobile, flexible, leistungsbewußte Persönlichkeiten« fordert.[11] Die Experten aus dem Norden wissen eben immer noch, wie der Süden umgestaltet werden muss: nach ihrem Vorbild und ihren Wertvorstellungen.
Seit Mitte der achtziger Jahre ist diese Diskursordnung aus mehreren Gründen in der Krise. Erstens: Mit dem Ende des Kalten Krieges fällt die strategische Notwendigkeit von Entwicklungshilfe weg. Zweitens: Neoliberale stellen den Sinn von Entwicklungshilfe in Frage, weil sie den Marktgesetzen zu wider laufe. Drittens: Die Integration von zumindest ursprünglich kritischen Konzepten wie Nachhaltigkeit, Empowerment oder Partizipation in den herrschenden Entwicklungsdiskurs bricht dessen duale Grundstruktur teilweise auf: unter ökologischen Gesichtspunkten können die Industrienationen nicht mehr als vorbildlich »entwickelt« gelten, und der Empowerment-Gedanke unterminiert das Wissen und die Definitionsmacht der Entwicklungsexperten. Die (nichtdiskursive) Praxis der Entwicklungszusammenarbeit ändert sich durch die letztgenannten Faktoren jedoch nur langsam. Das von manchen Beobachtern bereits konstatierte »Ende des Entwicklungsdiskurses« beruht daher vor allem auf dem Aufstieg des neoliberalen Diskurses, der auf marktorientierte Umstrukturierungen setzt – in »Entwicklungs-« wie auch in »entwickelten« Ländern.
Ob die gegenwärtige Transformation in eine neue hegemoniale Diskursordnung mündet, die entweder von Wettbewerbsimperativen und der Ökonomisierung des Sozialen, von »verantwortungsvoller Regierung der Einen Welt« oder von neokolonialen Protektoraten und Treuhandschaften gekennzeichnet ist, ist derzeit noch nicht ausgemacht. Zu erwarten ist, dass auch die neue Ordnung primär von Kräften und Kämpfen im Norden geprägt werden wird.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt - iz3w, Nr. 276.
[1] vgl. Stuart Hall, 1992: Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht, in: ders., 1994: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg, S. 137-179
[2] zit. nach Roxanne Lynn Doty, 1996: Imperial Encounters. The Politics of Representation in North-South Relations, Minneapolis, University of Minnesota Press, S. 40
[3] vgl. Javier Gonzalo Alcalde, 1987: The Idea of Third World Development. Emerging Perspectives in the United States and Britain, 1900-1950. Lanham, NY, University Press of America
[4] Fernando H. Cardoso / Enzo Faletto, 1976 (1969): Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika, Frankfurt a.M., S. 18
[5] vgl. Morgan Brigg, 2002: Post-Development, Foucault, and the Colonisation Metaphor, in: Third World Quarterly, Vol. 23, No. 3, S. 421-436, sowie Arturo Escobar, 1988: Power and Visibility. Development and the Invention and Management of the Third World, in: Cultural Anthropology, Vol.3, No.4, S. 428-43
[6] Das heißt nicht, dass die gewaltförmige Durchsetzung von Interessen nicht vorgekommen wäre. Die Achtung vor dem ‚Selbstbestimmungsrecht der Völker' und den Menschenrechten stieß schnell an Grenzen. Die Counter-Insurgency-Politik der USA in Lateinamerika und Asien beispielsweise zeichnete sich dabei jedoch durch den Rückgriff auf diskursive Strategien der kolonialen Ära aus, etwa hinsichtlich der »Unfähigkeit« der Filipinos, Vietnamesen oder Chilenen, sich selbst verantwortungsvoll zu regieren, so dass in ihrem eigenen Interesse (militär-)politische Interventionen notwendig seien. Die Entscheidung darüber wird natürlich – ebenso wie in neueren Diskursen über »humanitäre Interventionen« – hauptsächlich im Kreise der »entwickelten« Industrienationen diskutiert.
[7] Nach vorsichtigen Schätzungen sind allein in Indien etwa 33 Mio. Menschen durch Staudammprojekte zu Flüchtlingen geworden.
[8] Zu dieser und weiteren Formationsregeln vgl. Aram Ziai, 2004: Zur Ordnung und Transformation des Entwicklungsdiskurses, in: Susanne Kollmann/Kathrin Schoedel (Hg.), 2004: PostModerne DeKonstruktionen, i.E. Zur empirischen Fundierung vgl. ders., 2004: Entwicklung als Ideologie?, Hamburg, Deutsches Übersee-Institut
[9] Volker Lühr/ Manfred Schulz, 1997: »Einleitung«, in: Schulz, Manfred (Hg.), 1997: Entwicklung. Die Perspektive der Entwicklungssoziologie, Opladen, S. 7-28, S.11
[10] Dieter Senghaas, 1997: »Die Entwicklungsproblematik. Überlegungen zum Stand der Diskussion«, in: Schulz (Hg.) 1997, a.a.O., S. 47-64, S. 59
[11] Wolfgang Zapf, 1997: »Entwicklung als Modernisierung«, in: Schulz (Hg.) 1997, a.a.O., S. 31-45, S. 31 u. 34
Aram Ziai ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft der RWTH Aachen und arbeitet an einem DFG-Forschungsprojekt über Globale Strukturpolitik und das Entwicklungsdispositiv.
https://sopos.org/aufsaetze/408aa83c03940/1.phtml
sopos 4/2004