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Ya Basta!

10 Jahre Aufstand in Chiapas

 

Am 1. Januar 1994, als der Vertrag über die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA in Kraft trat, begann der Aufstand der Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) mit der Besetzung der früheren chiapanekischen Privinzhauptstadt San Cristóbal de las Casas sowie weiterer Städte in der mexikanischen Provinz Chiapas. Die Weltöffentlichkeit rieb sich die Augen: Fünf Jahre nach dem Zusammenbruch des staatssozialistischen Blocks trat in der besten aller denkbaren Welten eine neue Guerilla auf den Plan. Nicht zuletzt durch die poetischen Erklärungen ihres Sprechers, dem Sucomandante Insurgente Marcos, die die marxistische Rhetorik der 70er Jahre weit hinter sich ließen, fanden die Aktionen der EZLN ein weltweites Echo und internationale Solidarität.

Mittlerweile befindet sich der ganze lateinamerikanische Kontinent im Umbruch: Ob in Brasilien, Argentinien, Bolivien oder Venezuela - überall haben sich neue Bewegungen formiert, sind neoliberale Regierungen gestürzt, werden neue Vergesellschaftungsformen erprobt. [1] Dabei handelt es sich keinesfalls nur um Mobilisierungen von Bauern, Pächtern und Landarbeitern, sondern ebenso von Lohnabhängigen und Arbeitslosen. Eine besondere Schärfe bekommen diese Mobilisierungen dadurch, daß sie der herrschenden Wirtschaftslogik eine eigene Produktionslogik entgegenzustellen beginnen. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist die Besetzung der Kachelfabrik Zanon in Argentinien, die seit Oktober 2001 von den Arbeitern selbst verwaltet wird. Es handelt sich dabei keineswegs um einen Kleinbetrieb, sondern um eine moderne, vollautomatisierte Fabrik mit mehreren hundert Beschäftigten. [2]

Diese Bewegungen in Lateinamerika blicken auf eine lange Tradition zurück, die jedoch selten Erwähnung findet. In Bezug auf die Zapatisten ist von Beobachtern immer wieder ihr neuartiger, "postmoderner" Charakter betont worden. Das ist zwar nicht ganz falsch, blendet jedoch den Teil der Geschichte aus, den die EZLN sogar in ihrem Namen trägt. Wir veröffentlichen daher einen Beitrag von Erich Gerlach zur mexikanischen Revolution, der 1960 in der linkssozialistischen Zeitschrift "Sozialistische Politik" (SoPo) erschienen ist.

 

Emiliano Zapata und Fidel Castro

(Zum 50. Jahrestag der mexikanischen Revolution) [3]

von Erich Gerlach

 

Am 20. November 1910 besetzten revolutionäre Verbände die nordmexikanischen Städte Chihuahua und Pueblo. Der Schumacher Serdan rief in einem Manifest zur freiheitlich-sozialistischen Neugestaltung Mexikos auf. Das war der Anfang vom Ende des Regimes des Militärdiktators Porfirio Diaz, das gleicherweise eine Agentur des feudalen Großgrundbesitzes und des Auslandskapitals war. Rafael Barret nennt Diaz treffend den Syndikus eines wirtschaftlichen Unternehmens, an dem alle kapitalistischen Länder Anteile hatten, mit Ausnahme der Mexikaner, die das Land und die Arbeitskraft stellten, von den Erträgen jedoch nichts bekämen. Das System ist leicht zu beschreiben: Feudalistische Ausbeutung der Bauern, die in direkter Hörigkeit an den Boden gebunden sind und den größten Teil des Ertrages an den Grundherren abgeben müssen. Unzureichende Lebensmittelproduktion. Entwicklung von Monokulturen, die billige Rohstoffe für die kapitalistischen Industriestaaten herstellen. Der volkswirtschaftliche Überschuß wird von einheimischen Parasiten verzehrt oder ins Ausland transferiert. Unmenschliche Arbeitsverhältnisse und Hungerlöhne in den Fabriken. Verelendung der kleinen Handwerker.

Wir weisen auf den Jahrestag der mexikanischen Revolution nicht deshalb hin, weil wir ihrer Helden gedenken wollen. In einer Zeit wie der unserigen, in der das Mittelmaß herrscht und in der man die Helden daran mißt, wieviel Dollars sie machen können, wäre auch das Grund genug. Es geht uns um das Verständnis der kubanischen Revolution. Ein Heer von Journalisten, die entweder selbst unwissend sind, oder auf unsere Unwissenheit spekulieren, bemüht sich, zu beweisen, daß Fidel Castro ein Agent Chruschtschows, die kubanische Revolution das Werk Moskaus ist. Eine Rückbesinnung auf die mexikanische Revolution, die ihren Höhepunkt lange vor der russischen Revolution hatte, zeigt, daß die Revolution Fidel Castros nur die Fortsetzung der großen lateinamerikanischen Revolution, die 1910 in Mexiko begann, auf einer höheren Stufe ist.

Wie alle lateinamerikanischen Revolutionen hatte die mexikanische Revolution drei große Akteure. Das sind die liberal-fortschrittliche Mittelklasse, die modernen Arbeiter und, die große Mehrheit der Bevölkerung umfassend, die Landarbeiter, Pächter und Kleinbauern. Ihr sozialer Inhalt ist die Agrarrevolution, die Rückübereignung des Bodens an die besitzlosen bäuerlichen Massen und die Schaffung der Voraussetzungen für eine schnelle Industrialisierung des Landes. In Mexiko waren alle drei Gruppen einig in ihrer Gegnerschaft zum korrupten und ausbeuterischen Diaz-Regime und zum ausländischen Kapital, d.h. praktisch zu den USA. Ihre Vorstellungen über Weg und Ziel der Revolution waren jedoch verschieden.

Den Anstoß zur Revolution gab die "Mexikanische Liberale Partei", ihre Taktik war der Putsch. Obgleich viele ihrer Führer, wie die Brüder Magón und Soto y Gama dem Anarchismus zuneigten, vertrat sie ein gemäßigtes Programm: Demokratische Verfassung, öffentliches Schulwesen ohne klerikale Beeinflussung, Achtstunden-Tag, Mindestlohn, Verbot, Mexikanern einen geringeren Lohn für die gleiche Arbeit zu bezahlen als Ausländern. Der revolutionäre Zündstoff aber war das - durchaus gemäßigte - Agrarprogramm. Die Grundbesitzer sollten allen Boden, den sie nicht bebauten, gegen Entschädigung an den Staat abgeben, der ihn besitzlosen Bauern gratis zur Verfügung stellen würde.

Die Liberalen kamen schnell zur Macht. Ihr Führer Madero wurde Präsident. Wenn es keine anderen revolutionären Kräfte gegeben hätte, hätte das nicht mehr bedeutet als daß eine neue Mannschaft sich der öffentlichen Ämter bemächtigt und einige Reformen eingeführt hätte. Ein ernsthafter Versuch zur Lösung der Agrarfrage wäre kaum unternommen worden. Mexikos neuer Präsident Madero war ohnmächtig gegenüber der einheimischen Reaktion und dem USA-Kapital. Die Revolution war jedoch vor allem eine Bewegung der Bauern und Arbeiter. Eine Welle von Streiks und Bauernaufständen leitete sie ein. Wir erwähnen als typisch den Streik von 8.000 Bergarbeitern in Cananea im Staate Sonora (1906).

Da amerikanische Interessen im Spiel waren, schickte die USA-Regierung Truppen nach Cananea, die den Streik brachen und 200 Arbeiter erschossen. Sonora wurde später die Basis des sozialistischen Bauernführers Pancho Villa.

Entscheidend für den weiteren Gand der Revolution aber war die Bauernbewegung. Ihr Führer war im Norden Pancho Villa und im Süden der Indio Emiliano Zapata. Zapata ist die bedeutendste Gestalt der mexikanischen Revolution, vielleicht der bedeutendste Bauernführer der modernen Geschichte. Zentrum des Zapatismus war der Staat Morelos. Eine kleine Zahl von Grundbesitzern hatte hier mit Hilfe von bewaffneten Banden unter Billigung der Regierung Diaz die Ländereien der Dorfgenossenschaften und den bäuerlichen Kleinbesitz an sich gebracht. Auf den gestohlenen Ländereien bauten sie Zuckerrohr für den Export. Zapata schuf aus der Landbevölkerung eine Armee von Guerilleros, vertrieb die Grundbesitzer und brannte ihre Haciendas nieder. Dann wurde das Land an die Gemeinden und an die Kleinbauern zurückgegeben und ein System der bäuerlichen Selbstregierung geschaffen. Zapata schuf kein stehendes Heer. Er sagte: "Wenn die Bauern Soldaten werden, verlernen sie, Bauern zu sein." Aber die Bauern blieben bewaffnet. In einem Milizsystem organisiert, waren sie jederzeit bereit, die wiedergewonnenen Äcker mit der Waffe zu verteidigen. Nach einem Turnus war jeder abwechselnd Soldat und Bauer. Zapata war von den Ideen Kropotkins beeinflußt. Ihm schlossen sich bald Intellektuelle an. Soto y Gama, einer der Führer der liberalen Partei, ging nach Morelos und wurde der Theoretiker der Bewegung. Der niedere Klerus unterstützte ihn gleichfalls.

1911 wurde von den Zapatisten das Programm der Agrarrevolution, der "Plan von Ayala", veröffentlicht. Er forderte die Enteignung des nichtbäuerlichen Bodenbesitzes und die Rückgabe der Gemeindeländereien an die Gemeinden.

Dieses Programm, das in Morelos durchgeführt war, gab der Agrarrevolution einen gewaltigen Auftrieb. Zapata und Villa marschierten 1915 nach Mexiko und vertrieben den liberalen Präsidenten, der die Lösung der Agrarfrage sabotierte. Leider führte dieser Sieg nicht zu einem Bündnis mit den Gewerkschaften. Wenn es zur Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung gekommen wäre, hätte die Agrarreform im ganzen Lande durchgeführt und der sozialistische Aufbau der Industrie eingeleitet werden können. So blieb die Einnahme der Hauptstadt eine Demonstration. Die Bauernarmeen zogen sich in ihre Ausgangsgebiete zurück.

Aber die Demonstration der bewaffneten Macht der Bauern war nicht völlig vergebens. Der nach Mexiko zurückgekehrte Präsident machte das Agrarprogramm Zapatas zum Gesetz. 1917 wurde die Agrarreform sogar in der Verfassung verankert. Das heißt jedoch nicht, daß sie durchgeführt wurde. 1926 hatte die Regierung von insgesamt 126 Mill. ha ganze 3 Mill. verteilt. Erst unter Cardenas, 1934, stieg die verteilte Fläche auf 9 Mill. ha an. Wirklich durchgeführt wurde - auch bis heute - die Agrarreform nur in Morelos, wo die Bauern erst handelten, ehe sie Gesetze machen ließen.

Bald nach dem Rückzug der Bauern trat ein zweites Ereignis ein, durch das die rückläufige Bewegung der Revolution endgültig wurde. Präsident Caranas schloß mit den (anarcho-sydikalistisch orientierten) Gewerkschaften einen Pakt, in dem sich die Regierung verpflichtete, soziale Gesetze zur Besserung der Lage der Arbeiter zu erlassen. Die Gewerkschaften verpflichteten sich dafür, Arbeiterbataillone "zur Beschleunigung des Sieges der Revolution" aufzustellen. Diese "roten Bataillone" (es gab Schneider- Maurer, Tischler-Bataillone usw.) schlugen die Bauern-Armee Pancho Villas. [4] Nach dem Sieg löste der Präsident sie auf. Die fortschrittlichen sozialen Gesetze wurden eingeführt, um die Arbeiter an der Seite der Mittelklassen zu halten.

Die Regierung wagte es nicht, Zapata in seinem Gebiet anzugreifen. Dieser organisierte hier eine freiheitliche, bäuerliche Gesellschaft auf der Basis der Selbstregierung der Kommunen. Alle Dokumente und Einrichtungen, die der Wiederherstellung der alten Ordnung hätten dienen können, wurden vernichtet. Die materielle Lage der Bevölkerung besserte sich außerordentlich. Während die Bauern früher 80 Prozent des Ertrages an die Großgrundbesitzer hatten abgeben müssen, erhielten sie jetzt den vollen Ertrag. Sie brauchten auch keine zahlreiche revolutionäre Bürokratie und Armee zu ernähren. Zum ersten mal in ihrem Leben hatten sie ausreichend zu essen. Auch die vorhandenen wenigen kleinen Industrien und Gewerbe wurden ausgebaut. Die Zapatisten trieben auch Handel mit den Nachbargebieten. Zu diesem Zweck schuf Zapata eine eigene Münze. Diese wurde überall gerne genommen, da ihr Metallwert höher war als ihr Nominalwert.

Die konsolidierte Revolution in Morelos war für die Regierung, die die Lösung der Bodenfrage verschleppte, eine ständige Gefahr. Zapata und Villa besaßen weiter eine ungeheure Popularität. Sie entledigte sich deshalb Zapata durch heimtückischen Mord. Unter dem Vorwand von Verhandlungen wurde er in einen Hinterhalt gelockt und dort durch das Feuer von 600 Scharfschützen getötet. Der Mörder wurde zum General befördert und erhielt eine Belohnung von 50.000 Dollar. Andere Führer setzten die Arbeit Zapatas fort. Sie verständigten sich später mit der Regierung. Die Agrarreform in Morelos blieb erhalten.

Diese Ergebnis ist auf den ersten Blick enttäuschend. Trotzdem ist Zapata die entscheidende Persönlichkeit der mexikanischen Revolution. Ohne seine Bauernarmee wäre die Revolution der von den USA unterstützten feudal-kapitalistischen Reaktion erlegen. Wenn Mexiko heute eine gemäßigt reformfreudige Regierung hat, so ist das ein Verdienst Zapatas. Für die bäuerlichen Massen Lateinamerikas aber ist sein Name ein unerfülltes Programm. Die Agrarrevolution steht weiter auf der Tagesordnung.. Sie kann jedoch nicht verwirklicht werden, wenn sie isolierte Bauernbewegung bleibt. Sie muß sich mit den Arbeitern der Städte verbinden. Das ist die große Lehre der mexikanischen Revolution.

Die kubanische Revolution hat diese Lektion verstanden. Die freiheitlichen Intellektuellen, die mit Fidel Castro landeten, marschierten mit einer Bauernarmee in die Städte. Sie gaben den Bauern den Boden zurück. Sie brachen die amerikanische Herrschaft der Monokultur, damit die Kubaner sich selbst ernähren können. Sie begannen mit der Industrialisierung, wie sie den Interessen des arbeitenden Volkes entspricht. Zum ersten mal wurde das "Räderwerk", das Sartie in seinem gleichnahmigen Buch beschrieb, zerbrochen, durch das alle lateinamerikanischen Revolutionen immer wieder unter die Kontrolle des amerikanischen Kapitals kamen.

Über Zapata gibt es wenig zuverlässige Literatur. Ein Manuskript des deutschen freiheitlichen Sozialisten Alfred Sanftleben, das aufgrund von Material aus erster Quelle geschrieben wurde, ist bisher leider nicht veröffentlicht. Sozialisten verfügen nicht über soviel Papier wie die Piraterie der Werbung.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. z.B. Immanuel Wallerstein, Bolivien, Bush und Lateinamerika. In: Wildcat Nr. 68. Januar 2004, S. 27ff. (siehe auch: http://www.wildcat-www.de ). Sowie: Clarita Müller-Plantenberg, Solidarische Ökonomie in Brasilien und ihre Zusammenarbeit mit der Universität. In: Loccumer Initiative Kritischer WissenschaftlerInnen (Hrsg.), Mut zur konkreten Utopie. Kritische Interventionen Bd. 8. Hannover 2003, S. 169-182.

[2] Vgl. Eine Fabrik in Patagonien. Zanon gehört den Arbeitern. Beilage zur Wildcat Nr. 68. Januar 2004.

[3] SoPo 1/1961, S. 7ff.

[4] Villa wurde später durch seinen Kampf gegen die amerikanischen Truppen, die Präsident Wilson in Mexiko einmarschieren ließ, zum mexikanischen Nationalhelden. Nachdem er sich in das Privatleben zurückgezogen hatte, wurde er 1923 im Auftrage der Regierung ermordet.

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https://sopos.org/aufsaetze/40619d837a98b/1.phtml

sopos 3/2004