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Wa(h)re Bildung

Bildungsreform als Zerstörung von "Humankapital"?

von Gregor Kritidis (sopos)

Dem neoliberalen Bildungs(un-)verständnis, das der gegenwärtigen Politik zugrunde liegt, wird häufig ein an der Aufklärung orientierter "emanzipatorischer" Bildungsbegriff entgegengestellt. Der Begriff des "Humankapitals" beinhaltet die Reduzierung des Menschen auf eine verwertbare Größe. Doch was heißt dagegen emanzipatorische Bildung?

Bildung hatte und hat immer einen Zweck: die Vermittlung von kulturellem, technischen und historischem Wissen, von Fertigkeiten und Methoden, welche notwendig sind, das gesellschaftliche Leben zu reproduzieren und weiterzuentwickeln. Auch die bürgerlichen Bildung zu Beginn des 19. Jahrhunderts war keinesfalls so zweckfrei, wie gerne unterstellt wird. Die Humboldtsche Forderung nach Bildung in Abgeschiedenheit und Freiheit entsprach dem Klassenkompromiß zwischen dem sich emanzipierenden Bürgertum und dem feudalen Staat: Da es der bürgerlichen Bewegung in Deutschland nicht gelungen war, die Kleinstaaterei zu überwinden und die politische Herrschaft zu ergreifen, sah man sich gezwungen, erkämpfte Freiräume wie die Universitäten politisch abzusichern. Der feudale Staat sollte sich nicht in die Angelegenheiten des Bürgertums einmischen - im Gegenzug versprach man, von grundlegenden Aktionen gegen den Adel Abstand zu nehmen. Die Bildungsinstitutionen sorgten - auch im Interesse des regierenden Adels - für eine Entfaltung der Wissenschaften und die Ausbildung von Akademikern, die u.a. als Staatsbeamte für die Vermittlung der ökonomischen Interessen des Bürgertums und des Adels sorgten. Wissenschaft und Bildung waren keinesfalls zweckfrei; der Bildungsbegriff des Bürgertums in Deutschland war vielmehr den sozialen und politischen Verhältnissen angemessen.[1]

Mit der Entwicklung der Industrie wurde das klassische bildungsbürgerliche Wissen zunehmend an den Rand gedrängt. Die naturwissenschaftlichen Disziplinen gewannen an Bedeutung, so daß sich eine immer stärkere Kluft zwischen ihnen und den vom Bildungsbürgertum hochgehaltenen Geisteswissenschaften auftat. Ohne den Anspruch, eine die gesellschaftlichen Strukturen analysierende und gestaltende Kraft zu sein, wurden die Geisteswissenschaften zunehmend ideologisch.[2] Die Begeisterung, mit der junge Akademiker in den Ersten Weltkrieg zogen, hatte hier ihre Wurzel. Erst in den 60er Jahren begann wieder eine Generation von Studierenden unter dem Schlagwort der "Politisierung der Wissenschaften" den Versuch, mit der Verantwortung der Wissenschaftler für die Gesellschaft ernst zu machen.[3]

Wenn Geisteswissenschaften keinen gesellschaftlichen Gebrauchswert hätten, wären sie in der Tat überflüssig.[4] Mit einigem Recht können daher die neoliberalen Bildungsreformer fordern, Wissenschaft und Bildung müßten einen gesellschaftlichen Nutzen haben. Eine Kritik an der zunehmenden Unterwerfung der Bildungsinstitutionen unter die Interessen der stärksten Marktteilnehmer auf der Basis des Ideals einer "zweckfreien" Bildung muß daher zahnlos bleiben. Es ist die Fragwürdigkeit der gesellschaftlichen Zwecke selbst und die Reduzierung komplexer Bildungsprozesse auf die Aneignung von unmittelbar auf dem "Markt" verwertbaren Wissens, welche die neoliberalen Dogmen angreifbar macht. Die vielbeklagten Blockaden im Bildungssystem sind unmittelbar mit dem Versuch verknüpft, Bildung einer stärkeren sozialen Kontrolle zu unterwerfen - das tatsächliche Interesse hinter der Forderung nach marktgängiger Bildung.

In einer Gesellschaft, die darauf beruht, daß eine Minderheit sich das körperliche und geistige Arbeitsvermögen der Mehrheit aneignet, ist Bildung eine zweischneidige Angelegenheit. Bildung ist selbst ein komplexer Produktions- und Aneignungsprozeß, der schlechterdings schwer kontrollierbar ist. Die mit dem Lernen verbundene Mühe nimmt nur derjenige auf sich, der eine Liebe zum Fach entwickelt.[5] Ob Schüler, Studentin oder Azubi - bleibt das Lernen dem Menschen äußerlich und reine Paukerei, leidet die Qualität des Bildungsprozesses. Diese innere Bindung zum Gegenstand hat jedoch etwas Gefährliches: Sie ist mit Sinnfragen behaftet. Ein Medizinstudent, der sich ernsthaft die Gesundheit seiner Mitmenschen zum Ziel setzt, muß zwangsläufig mit der Organisation seines Studiums und später des Gesundheitssystems in Konflikt geraten; ein Ingenieur, der Dinge entwickeln soll, deren gesellschaftlicher Nutzen aus sozialen und ökologischen Erwägungen zweifelhaft ist und bei denen die Sollbruchstelle schon miteingeplant ist, kann die Form und den Inhalt der Produktion als Angriff auf seine berufliche Identität auffassen.[6] Menschen sollen aber in dieser Gesellschaft im vorgegebenen Rahmen funktionieren und den Sinn ihrer Tätigkeit nicht grundlegend in Frage stellen. Diesem Zweck dient die Propagierung eines völlig abstrakten Leistungsethos', das mit den konkreten Inhalten von Bildung nichts zu tun hat und diesen völlig äußerlich ist. Die Schule ist eine Institution, die über die Vergabe von Noten dafür sorgt, daß der Lerneifer von Kindern durch Arbeitseifer ersetzt wird.[7] Die Stärke und zugleich die Schwäche der Bildungsinstitutionen liegt darin, Lernprozesse zu organisieren und zu kontrollieren, gleichzeitig aber unerwünschte Nebenwirkungen zu blockieren.

Dieser grundlegende Widerspruch hat sich in den letzten Jahren zunehmend verschärft. Die Krise der "Arbeitsgesellschaft" und die politisch gewollte Entfesselung eines allseitigen Konkurrenzverhaltens, das nur die Kehrseite des vielbeklagten Verlustes an gesellschaftlicher Solidarität ist, hat sich in alle Lebensbereiche hineingefressen und massive Existenzängste erzeugt: Schüler nehmen Beruhigungs- oder Aufputschmittel, etwa 20% der Studierende leiden unter "psychologischen Problemen" und in regelmäßigen Abständen werden Untersuchungen veröffentlicht, nach denen ein großer Teil der Arbeitnehmer bereits innerlich gekündigt hat. Damit korrespondiert in der Universität der Verlust an positiven Motiven: Die Produktion und Vermittlung von Wissen trägt immer weniger dazu bei, gesellschaftliche Widersprüche zu überwinden.[8] Im Gegenteil: Die Fragmentierung der Wissenschaften, die sich im Begriff des "Fachidioten" niedergeschlagen hat, und ihre politische erzwungene Selbstbeschränkung auf den Bereich des universitären "Elfenbeinturms" lassen Bildung zunehmend sinnlos erscheinen. Die Forderung, in noch kürzerer Zeit ökonomisch verwertbares Wissen und verwertbare Arbeitskräfte zu produzieren, verschärfen diese ohnehin bestehende Dauerkrise von Wissenschaft und Bildung.

Die Folgen sind unproduktive Formen depressiver Lähmung, "verwilderter Selbstbehauptung" (Adorno) und blanker Karrierismus. Die in Schulen und Universitäten vorherrschende Stimmung allgemeiner Motivations- und Perspektivlosigkeit sind nur die Kehrseite fortschreitender Herrschaft im Bildungsbereich; alle Versuche seitens der politischen und sozialen Eliten, durch eine Erhöhung des Leistungs- und Existenzdrucks das Input-Output-Verhältnis der Bildungsinstitutionen zu verbessern, wird daher notwendigerweise die qualitative Seite von Bildungsprozessen weiter beschädigen. Die Menschen sind aber im Kapitalismus die wichtigste ökonomische Potenz (marxistisch gesprochen: die wichtigste produktive Kraft), deren Entfaltung durch die Ausweitung sozialer Herrschaftsmechanismen, wie sie beispielsweise die niedersächsische Landesregierung gegenwärtig exemplarisch verfolgt, blockiert, ja deren schöpferischen Potentiale nachhaltig beschädigt werden. Die Leiden aller Betroffenen sind mit Händen zu greifen: Welcher Studierende behauptet schon von sich, er sei glücklich und er sehe der Zukunft mit Zuversicht entgegen? Und wer kann schon behaupten, mit seinem Studium sei die Perspektive einer glücklichen Existenz verbunden? Dieser Frust wird früher oder später zur Quelle einer Rebellion werden, ohne daß damit allerdings schon zwingend etwas über deren Charakter gesagt wäre.

Diejenigen Studierenden, die ein ernsthaftes Interesse an einer emanzipativen Bildung haben, sollten sich daher nicht von der verbreiteten Apathie und Ohnmacht entmutigen lassen, sondern alles daran setzen, ihre eigenen schöpferischen Fähigkeiten und die ihrer Kommilitoninnen freizusetzen und geistige Aneignungsprozesse zu organisieren. Emanzipatorische Bildung bedeutet in der Konsequenz, die geistige und materielle Aneignung der (welt-)gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion in Angriff zu nehmen. Das mag abstrakt und utopisch klingen. Solange wir jedoch weit davon entfernt sind, unsere Lebensverhältnisse wirklich gestalten zu können, sind wir von diesen abstrahiert. Die Aneignung der Bedingungen der eigenen Existenz durch die breite Mehrheit mag utopisch sein, sie ist aber realistisch - realistischer als die Illusion, man könnte durch Anpassung an eine krisenhafte, völlig widersprüchliche Gesellschaft glücklich werden.

 

Fußnoten

[1] Vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/Main und Leipzig 1994.

[2] Die Furcht vor den Ansprüchen der Arbeiterbewegung hatte an dieser Entwicklung einen entscheidenden Anteil; ironischer Weise orientierte sich die frühe Arbeiterbewegung stark am Kultur- und Bildungsverständnis des Bildungsbürgertums. Vgl. Peter von Rüden/Kurt Koszyk, Dokumente und Materialien zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1848-1918. Frankfurt/M, Wien und Zürich 1979.

[3] Vgl. Uwe Bergmann/Rudi Dutschke/Wolfgang Lefévre/Bernd Rabehl, Rebellion der Studenten. Oder: Die neue Opposition. Reinbek bei Hamburg 1968.

[4] Natürlich hat es nie "überflüssige" Wissenschaft, Bildung und Kultur gegeben; im Zweifelsfall diente sie der Legitimation sozialer Ungleichheit oder der geistigen Kompensation.

[5] Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von libidinöser Besetzung des Gegenstandes, Pädagogen von entrinsischer Motivation.

[6] Wenn hochkarätige Fachleute ihre Profession in Frage stellen, wird es gefährlich: Während die Anti-Atomkraft-Bewegung etwa durch die Kritik des Atomwissenschaftlers Klaus Traube an Schwung gewann, sah sich der Staat dazu genötigt, Traube vom Verfassungsschutz überwachen zu lassen.

[7] Vgl. Peter Bichsel, Schulmeistereien. Darmstadt und Neuwied 1987.

[8] Vgl. Susanne Schmidt/Marcus Hawel (Hrsg.), Vom Nutzen der Kritik. Perspektiven der Studierenden und ihrer Proteste. Hannover 1998.

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sopos 11/2003