Die Zukunft läßt sich nur gewinnen, wenn man sich die Vergangenheit vergegenwärtigt. Die Aneignung des historischen Erbes der alten Arbeiterbewegung kann dabei helfen.
In einem bemerkenswerten Beitrag im "Freitag" vom 22. November 2002 hat Hans Thie die Frage aufgeworfen, was die Linke in einer Welt, die nach Veränderung schreie, zu bieten habe. Die Antwort: Nichts, oder zumindest nur sehr wenig, da man sich in Fragen der ökonomischen Analyse und Kritik weitgehend zurückhalte. Die Linke, so Thie, werde erst dann wieder eine Perspektive in der Gesellschaft haben, wenn sie selbst Perspektiven für diese Gesellschaft entwickle: "Um wieder Visionen zu gewinnen, sollte sie sich daher mit aller gedanklicher Konsequenz auf den Standpunkt begeben: 'Wir müssen diesen Laden (d.h. die gesellschaftliche Produktion- und Reproduktion; GK) übernehmen'". Linke Utopien sollten sich nicht auf Projekte oder Randbereiche konzentrieren, sondern müßten aufs Ganze gehen, so Thie. "Warum sollte nicht die Frage nach einer Vision für die Kernbereiche der Wirtschaft zumindest einmal gestellt werden. Und daß hieße auch, daß sich Sozialisten in die Höhle des Löwen begeben müssen. Konkret: Was soll mit den Konzernen passieren?" so seine programmatische Frage. Es geht also um nichts weniger als um die Aufgabe, aus den gegenwärtigen kapitalistischen Produktions- und Verkehrsformen eine neue sozialistische Konzeption zu entwickeln. Thie setzt sich im folgenden mit den Veränderungen der Produktions- und Arbeitsprozesse auseinander, die zu einer Aufwertung der Position eines Teils der Lohnabhängigen geführt habe. "Ohne motivierte, qualifizierte, selbst handelnde, selbst kontrollierende Beschäftigte geht nichts.
Die Entwicklung der Produktivkräfte unterstützt diesen Trend zur Dezentralisierung, Partizipation und Eigenverantwortung, indem sie mit Informations- und Kommunikationstechnologien die notwendigen Mittel liefert." Noch seien die neuen Formen des Arbeitens innerhalb der Ideologie der allseitigen Konkurrenz gefangen. Die Möglichkeit der Emanzipation sei aber durchaus gegeben, zumal sich die Marxsche Prophezeiung bewahrheitet habe, die Entwicklung der Produktivkräfte würde die Arbeitsprozesse von den manuellen zu überwachenden und wissenschaftlichen Tätigkeiten verlagern. "Könnten Ingenieure und Forscher möglicherweise irgendwann auf die Idee kommen, nach dem Sinn des wahnwitzig beschleunigten Hamsterrennens zu fragen?" Ansätze dazu sieht Thie insbesondere in den ökologischen Auswirkungen kapitalistischen Wirtschaftens, etwa im Bereich des Verkehrs oder der Biotechnologie. Die Frage wie und was produziert wird, werde an Bedeutung gewinnen.
Die Diagnose, daß die sozialen und ökologischen Zerstörungen, die Ausbeutung der inneren und äußeren Natur einer programmatischen Antwort bedürfen, ist zweifelsohne zutreffend. Die Defensive, in der sich die (Rest-) Linke befindet, ist jedoch keineswegs nur hausgemacht und der Abneigung gegenüber "ökonomischen" Fragestellungen geschuldet, wie Thie vermutet. Diejenigen, die an gesellschaftskritischen Positionen festhalten, sehen sich nicht selten dem Vorwurf ausgesetzt, Stasi-Mitarbeiter gewesen zu sein (Beispiel Wallraff) oder mit ihrer Kapitalismuskritik antisemitischen Vorurteilen Vorschub zu leisten (Beispiel Attac).[1] Je tiefer die bestehenden Institutionen in die Krise geraten, desto nachdrücklicher wird eine stärkere Anpassung an die herrschende Ideologie und Unterordnung unter die politisch organisierten Zwänge des Marktes gefordert. Nichtanpassung, und sei sie zunächst nur ideell, wird unter diesen Umständen zu einer Gefahr für die herrschenden Eliten. Die zermürbenden Kampagnen gegen alte und junge Aktivisten verweisen auf die Sprengkraft einer fundierten und konkreten Kritik an den bestehenden Verhältnissen, aus denen es die Vorstellung einer anderen Form der Vergesellschaftung zu entwickeln gilt.
Für ein solches Unterfangen gibt es Anknüpfungspunkte, die nicht leichtfertig übergangen werden sollten. Wir wollen daher in loser Folge programmatische Texte vorstellen, die sich zu ihrer Zeit mit den Voraussetzungen und Möglichkeiten einer sozialistischen Vergesellschaftungsform auseinandergesetzt haben und die auch heute noch - selbst dort, wo sie offensichtlich überholt sind - Einsichten in die theoretisch wie praktisch zu lösenden Probleme vermitteln können.
Der folgende Beitrag "Arbeiterräte in der spanischen Revolution" (siehe unten im Kontext-Kasten) stammt aus der Feder von Erich Gerlach und erschien in der linkssozialistischen Zeitschrift "Sozialistische Politik" (SoPo), die in den 50er Jahren neben den "Funken" eines der wichtigsten sozialistischen Organe am Rande der SPD war.[2] Diesem kommt nach meiner Auffassung aufgrund seiner grundsätzlichen Kritik an den traditionellen Organisationsformen der Arbeiterbewegung in Deutschland auch heute noch Aktualität zu. Der bürgerlichen Trennung von Ökonomie und Politik, wie sie sich innerhalb der Arbeiterbewegung der II. Internationale als organisatorische Trennung in Gewerkschaft und Partei reproduzierte - die Genossenschaften bleiben ohnehin ein ungeliebtes Kind -, gilt die Hauptkritik Gerlachs.
Gerlach, Sohn eines sozialistischen Eisenbahners, studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und gehörte 1930/31 zum Studienzirkel "Kritischer Marxismus" von Karl Korsch. Über die SPD und KPD, aus der er wegen "Linksabweichung" ausgeschlossen wurde, stieß er 1932 zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Nach Phasen der Illegalität und des Exils gehörte Gerlach 1945 zu den Mitbegründern der SPD in Northeim. Von 1947 bis zu seinem Tode am 13. November 1972 war er Mitglied des Niedersächsischen Landtages. Seit 1969 war er Lehrbeauftragter an der Universität Hannover.
Als einer der wenigen Sozialisten versuchte Gerlach, den spanischen Anarchosyndikalismus in der Bundesrepublik bekannt zu machen. Als versierter, auch mit der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre bestens vertrauter Ökonom, war er einer der fundiertesten linken Kritiker des Wirtschaftswunders. Profilieren konnte er sich damit freilich nicht; ein großer Teil seiner Beiträge erschien - wie innerhalb der Linken in den 50ern aus Sicherheitsgründen üblich - unter Pseudonym. Ab Mitte der 60er Jahre begann er, die Schriften von Karl Korsch neu zu editieren; seine einleitenden Kommentare haben die Korsch-Rezeption innerhalb der Neuen Linken maßgeblich mitbestimmt.
Anknüpfend an die spanische Revolution 1936 zeichnet Gerlach in diesem Aufsatz in großen Zügen die Entwicklung der Arbeiterbewegung seit der Gründung der I. Internationalen Arbeiterassoziation nach; die Blickrichtung, die er dabei wählt, entspricht dabei nicht der gängigen Betrachtung der politischen Spaltung der Arbeiterbewegung in eine sozialdemokratische (reformistische) und eine kommunistische (revolutionäre) Richtung; sein Augenmerk liegt auf dem Ausgangspunkt der sozialistischen Konzeption: Wird der Entwurf eines "Vereins freier Menschen" (Marx) von der Sphäre der Produktion, d.h. des Betriebes aus entwickelt, oder steht das Konsumenteninteresse, also die gesellschaftlichen Bedürfnisse in ihrer Gesamtheit - das idealtypisch vom Staat vertretene Allgemeinwohl - im Mittelpunkt? Ist die soziale und politische Freiheit des Einzelnen oder die soziale und demokratische Organisation des Gemeinwesens der theoretische Angelpunkt? Der Streit zwischen sozialistischen Etatisten und anarchistischen Antietatisten, also die Frage, ob die Emanzipation der Arbeiterklasse über den Staat verlaufen oder ob der Staat als Instrument der Klassenherrschaft in der Revolution unmittelbar abgeschafft werden soll, knüpfte unmittelbar an diese Grundfragen an: Ist eine Agentur des Allgemeinwohls, d.h. eine staatliche Organisation, notwendig oder lassen sich die Interessen zwischen dem Individuum bzw. Kollektiven und der Gesellschaft auch anders vermitteln? Steht in der Revolution der sozial-ökonomische Prozeß der Umwälzung oder der politische Prozeß der Machtergreifung im Vordergrund?[3]
Innerhalb der Arbeiterbewegung, so stellt Gerlach fest, seien diese beide Momente auseinandergefallen; zwar habe sich in der II. Internationale das Modell der Emanzipation über den Staat durchgesetzt - mit der Konsequenz der Arbeitsteilung zwischen der (parlamentarisch-) politisch agierenden Partei einerseits und den auf ökonomischem Gebiet tätigen Gewerkschaften andererseits. Mit der (apolitischen) syndikalistischen Bewegung hätten sich jedoch die abgespaltenen Motive der Arbeiterbewegung, auch die Sphäre der Produktion zu demokratisieren, Bahn gebrochen; die Rätebewegung sei der originäre Versuch, die Verhältnisse im Betrieb demokratisch umzuwälzen.[4]
Die Krise des Sozialismus, so Gerlach, fuße auf dieser ideellen und organisatorischen Spaltung der Arbeiterbewegung in Syndikalismus und Staatssozialismus. Beide Momente, die soziale und die politische Emanzipation, seien jedoch nicht voneinander zu trennen. Ohne es explizit auszusprechen, bezieht Gerlach damit die Marxsche Kritik der Mystifikationen gesellschaftlicher Beziehungen in der bürgerlichen ökonomischen Theorie auf die Organisationsformen der Arbeiterbewegung.
In der gegenwärtigen Organisationsdebatte innerhalb der Antiglobalisierungsbewegung taucht genau diese, den kapitalistischen Verhältnissen eigentümliche Problematik wieder auf, jedoch in einer anderen Konstellation. Im Kern steht eine sehr alte Fragen auf der Tagesordnung, die es unter veränderten Bedingungen neu zu beantworten gilt: Wie gestaltet sich das Verhältnis von "Politik" und "Ökonomie"? Welche Rolle spielen die Staatsapparate in der "Globalisierung"? Welche Position soll man gegenüber den politischen Parteien einnehmen? Soll gar eine neue Arbeiterpartei gegründet werden, wie es nach dem Metaller-Streik innerhalb von Teilen der Linken diskutiert wird? Sind nicht vollkommen andere Organisations- und Aktionsformen als die bestehenden notwendig?
Gerlachs Antwort ist in jeglicher Hinsicht programmatisch: Ein einseitiger Bezug auf den Staat - und sei es mit einer Konzeption, außerparlamentarischen Druck auf Parteien auszuüben, wie sie von Teilen der Antiglobalisierungsbewegung verfolgt wird - verengt den Begriff des Politischen und beraubt der sozialistischen Bewegung ihren Aktionsradius; emanzipative Politik muß insbesondere dort ansetzen, wo die Existenz des Lohnabhängigen unmittelbar erfahrbar ist: im Betrieb (und, das sei hinzugefügt, in allen Bereichen, in denen Menschen tätig sind, auch z.B. in der Familie, in der Schule etc.). Eine schlichte Negierung des (bürgerlichen) Politikbetriebes hingegen ignoriert dessen Funktion, die allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft zu regeln und diesen Regelungen Legitimation zu verschaffen. Zumindest ein negativer Bezug auf den Staat, etwa im Sinne der Verteidigung demokratischer Freiheitsrechte, muß gegeben sein.[5] Entscheidend ist jedoch ein Aspekt, den Gerlach besonders hervorhebt: Die verschiedenen Sozialismuskonzeptionen standen in unmittelbaren Zusammenhang mit der organisatorischen Form, die die jeweilige Arbeiterbewegung entwickelte. Insofern handelte es sich nicht um ideologische Kunstprodukte, sondern war der originäre Ausdruck der jeweiligen Emanzipationsbewegung. Andererseits ist die Entwicklung von Bewußtseinsformen und -inhalten kein determinierter Prozeß, sondern ein schöpferischer, veränderbarer Vorgang. Die Zukunft freilich läßt sich nur gewinnen, wenn man sich die Vergangenheit vergegenwärtigt. Die Aneignung des historischen Erbes der alten Arbeiterbewegung kann dabei helfen, Orientierungen für die Gegenwart und Zukunft zu erarbeiten - nicht, um eine ohnehin schon bestehende Praxis zu legitimieren, wie das die verschiedenen politischen Sekten versuchen, sondern um neue Praxisformen zu entwickeln. Es sind die unabgegoltenen Motive und unerledigten Fragen und nicht die gescheiterten Konzeptionen, an die es anzuknüpfen und die es weiterzuentwickeln gilt.
[1] Keinesfalls soll damit behauptet werden, es gebe innerhalb der Linken Antisemitismus. Die Behauptung jedoch, alle Formen eines verkürzten Antikapitalismus - etwa die unbestimmte Unterscheidung von produktiven und spekulativen Kapital - sei antisemitisch, geht fehl. Die gegenwätige Debatte hat mehr den Charakter, jegliche Gesellschaftskritik zu denunzieren.
[2] Sozialistischen Politik Nr. 12/1956 - 1/1957 (Doppelnummer). Zur Redaktion der SoPo gehörten neben Gerlach Wolfgang Abendroth, Siegfried Braun, Georg Jungclas, Willi Boeppele, Peter von Oertzen und zeitweise Theo Pirker.
[3] Schärfer formuliert: Muß die Staatsmacht erobert werden, um die soziale Umgestaltung zu realisieren? Dieses primär politisch verstandene Revolutionsmodell geht auf die jakobinischen Traditionen der französischen Revolution zurück. Vgl. Michael Buckmiller, Gewalt und Emenzipation in der Arbeiterbewegung. Unerledigte Fragen. In: Loccumer Initiative Kritischer WissenschaftlerInnen (Hrsg.), Gewalt und Zivilisation in der bürgerlichen Gesellschaft. Kritische Interventionen Bd. 6. Hannover 2001.
[4] Die antipolitische Haltung vieler Syndikalisten vor dem Ersten Weltkrieg stürzte diese bei Kriegbeginn in theoretische Konfusion. Der Krieg stellte den Syndikalismus unmittelbar vor die Frage, wie man sich gegenüber dem nationalen Staat, den man vorher ignorieren zu glauben meinte, verhalten soll; ein Teil der Syndikalisten, insbesondere in Frankreich und Italien, ging in der Folge ins nationale Lager und unterstützte die Kriegpolitk ihrer Regierung. Benito Mussolini gehörte zu diesen "Nationalrevolutionären".
[5] Welche Probleme mit dem modernen (Rest-) Wohlfahrtsstaat verbunden sind, soll an anderer Stelle ausführlich thematisiert werden.
https://sopos.org/aufsaetze/3fa9586bce463/1.phtml
sopos 11/2003