Zur normalen Fassung

Transatlantische Spannungen

Zur vorherrschenden einseitigen Betrachtungsweise der US-Hegemonie

von Felix Heiduk

Ist die "imperialistisch" anmutende Politik der USA gegenüber der großen Mehrheit der Staatenwelt wirklich "neu" und "amerikanisch"?

Vordergründig waren es vor allem die unterschiedlichen Antworten auf die Frage, ob und wie gegen den Irak vorgegangen werden sollte, welche die ehemals harmonischen transatlantischen Beziehungen in den letzten Monaten belasteten. Doch der Riß zwischen den USA und "Old Europe" reicht erheblich weiter als bis zum Irak: Der konservative US-Intellektuelle Robert Kagan beispielsweise hält es sogar schon für eine "Illusion", anzunehmen, "Europäer und Amerikaner lebten in ein und derselben Welt oder besäßen gar ein gemeinsames Weltbild".[1] Auch viele Europäer konstatieren einen sich verschärfenden Gegensatz zwischen der "Militärmacht" USA und der "Zivilmacht" Europa. Das transatlantische Gerangel um die Irak-Frage erscheint ihnen als Paradebeispiel für den Konflikt zwischen amerikanischem "Realismus" und europäischem "Institutionalismus". Kritiker der USA wie der Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel sprechen schon von einer drohenden "amerikanischen Weltordnung"[2] , in der sich der Unilateralismus der Vereinigten Staaten auf folgende Formel herunter brechen ließe: "Wenn möglich, dann handeln wir zusammen mit unseren Verbündeten und im Sinne der UN-Charta, wenn nötig, dann aber auch alleine und unter Bruch geltender internationaler Rechtsnormen".

Die offenkundige Mißachtung geltender internationaler Rechtsnormen und der zunehmende Unilateralismus der USA werden innerhalb wie außerhalb Europas zu Recht scharf kritisiert. Es ist jedoch zu fragen, ob die USA die Verantwortung für die "neue" Weltordnung, die sich nach dem Ende der Bipolarität und dem daraus resultierenden Aufstieg der USA zur alleinigen Supermacht langsam herausbildete, gänzlich alleine tragen. Sind die USA in ihrem offensichtlich von der "Arroganz der Macht" geprägten Vorgehen wirklich einzigartig? Ist ihre "imperialistisch" anmutende Politik gegenüber der großen Mehrheit der Staatenwelt wirklich "neu" und "amerikanisch"? Nein, denn es ist weder etwas Neues noch spezifisch Amerikanisches in der Außenpolitik der USA unter George W. Bush erkennbar. Es ist ahistorisch und verkürzt, wenn die zahlreichen europäischen Beiträge zur "amerikanischen" Weltordnung kaum erwähnt werden. Solche Beiträge finden sich keineswegs nur in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Man braucht nur einen Blick auf die letzten fünf Jahre zu werfen, um zu verstehen, daß der Begriff "amerikanische Weltordnung" vor allem zur Ideologieproduktion zu gebrauchen ist.

Ein US-europäischer Krieg

Der NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien, der unter Bruch des Völkerrechts von den NATO-Mitgliedsstaaten unter militärischer Führung der USA vollzogen wurde, gilt der Mehrzahl der Analysten als "Wendepunkt" in den internationalen Beziehungen. Dieser Krieg hat sowohl das "Selbstverständnis Europas" als auch das Völkerrecht verändert, schreibt beispielsweise der Publizist Thomas Schmid. Und weiter: "Das politische Credo der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe - es ist verabschiedet. Daß die NATO ein reines Verteidigungsbündnis ist - es ist vorbei. Daß militärische Interventionen in Krisenregionen ein Mandat der Vereinten Nationen voraussetzen - es gilt de facto nicht mehr".[3]

Die Selbstverständlichkeit, mit der beispielsweise die deutsche Regierung diesen Krieg - der sich vom US-Kriegsgebaren gegenüber dem Irak allein in Hinblick auf die damals dominierende Menschenrechtsrhetorik unterscheidet - vorangetrieben hat, wirft Fragen hinsichtlich einer eigenständigen Rolle Deutschlands innerhalb der "amerikanischen" Weltordnung auf. Der von deutschen politischen Eliten fast gebetsartig wiederholte Verweis auf das Leid der Kosovo-Albaner, durch das Deutschland zusammen mit seinen NATO-Partnern in den Angriffskrieg gegen das Milosevic-Regime "gezwungen" wurde, ist mittlerweile von verschiedenen Seiten als propagandistische Lüge entlarvt worden.[4]

Die eigenständige Rolle Deutschlands bei der Anbahnung des Kosovo-Krieges wird heute von den europäischen Kritikern der USA geflissentlich verschwiegen, obwohl sich Deutschland beispielsweise im Sommer 1998, als die USA noch über eine Zerschlagung der damals noch mit dem Begriff "terroristische Vereinigung" versehenen kosovo-albanischen Terrormiliz UCK nachdachten, bereits direkt auf die Seite der UCK stellte. Der damalige Außenminister Klaus Kinkel wandte sich offen gegen eine Unterbindung des Waffenschmuggels in die Bürgerkriegsregion und ermutigte die Kosovo-Albaner zum Kauf von Waffen zur ‚Selbstverteidigung'.[5] Der ehemalige Bundeswehrgeneral Heinz Loquai berichtete in einem Interview zudem von Waffen-, Geld und Personallieferungen von deutscher Seite an die UCK bereits im Sommer 1998.[6]

Die USA sind nicht die einzige Nation der Welt, die in vielerlei Hinsicht von der aktuellen "neuen" Weltordnung profitiert. Sie sind lediglich die lauteste und mächtigste.

Die nachfolgende Eskalationsstrategie der UCK ließ eine bürgerkriegsähnliche Situation entstehen, deren Hauptleidtragende die zivile Bevölkerung war. Der NATO-interne Streit, ob gegen oder zusammen mit der UCK gegen Milosevic agiert werden sollte, entschied sich einige Monate später zugunsten der deutschen Position und damit der kosovo-albanischen Guerilla. Der Unterstützung der UCK ist nur eines von vielen möglichen Beispielen, die allesamt aufzeigen, daß die NATO-Partner (allen voran Deutschland) keineswegs auf Drängen der USA in den Angriffskrieg gegen Serbien "hineingeschlittert" sind. Eine der 1998 am stärksten auf den Krieg drängende Kraft saß nicht in Washington oder London, sondern in Berlin. Auch die Frage nach einer Intervention ohne UN-Mandat wurde erstmals von deutscher Seite gestellt. Die Selbstmandatierung der NATO zur weltweiten Eingreiftruppe und ihre Loslösung von UN-Charta und Völkerrecht wurde im Falle Jugoslawiens von den europäischen NATO-Mitgliedern aufgrund handfester Eigeninteressen (Verhinderung von Flüchtlingsströmen nach Westeuropa, Marktöffnung etc.) und gemeinsamen Ordnungsvorstellungen für die Balkanregion mitinitiiert sowie mitgetragen. Der eigentliche Krieg gegen Serbien wurde dann zwar zum größten Teil von amerikanischen Kampfjets durchgeführt - aber nur, weil die europäischen Staaten schlichtweg nicht über die militärischen Potentiale dazu verfügten.

Das Bild von der "Zivilmacht" Europa hat somit wenig Grundlage. Darauf verweist auch die französische Intervention in der Elfenbeinküste zu Beginn des Jahres 2003. Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit hat die französische Regierung einige Tausend Soldaten in die von Unruhen geplagte ehemalige französische Kolonie entsandt. Offiziell zum Schutz französischer Staatsbürger in das westafrikanische Land geschickt, sichern die Interventionstruppen auch handfeste Eigeninteressen ab. Frankreich ist nicht willens, den Rebellengruppen im Norden die wichtigste von ihm abhängige Wirtschaft in Westafrika zu überlassen. Insbesondere die von Rebellen kontrollierten Kakaoplantagen (die Elfenbeinküste ist der größte Kakaoproduzent der Welt) sollen wieder unter die Verfügungsmacht des von Frankreich unterstützten Präsidenten Gbagbo gelangen. Um "zivile" Werte geht es bei Frankreichs Intervention wohl kaum: Gbagbos Regime ist alles andere als ein Hort von Demokratie und Menschenrechten.

Run auf irakisches Öl

Mit Sicherheit ist das Interesse der US-Regierung am irakischen Öl eine Hauptursache für den Irakkrieg. Zwar erwähnt die Bush-Administration dies tunlichst nicht, aber etwas anderes dürfte ihr bei den allzu leicht durchschaubaren personellen Verflechtungen mit der Ölindustrie kaum übrig bleiben. Zum Mißfallen der US-Regierung waren im Irak amerikanische (und britische ) Unternehmen bei der zukünftigen Ölförderung außen vor geblieben. Das Baath-Regime hatte in den letzten Jahren zahlreiche Ölförder- und Handelsabkommen mit Rußland und Frankreich geschlossen. Nach dem Sturz von Saddam Hussein werden die Karten im Spiel um das Öl hingegen neu gemischt. Das attraktive Abkommen des französischen Konzerns TotalFinaElf beispielsweise verkommt nun zu bloßer Makulatur.[7] Chirac war erklärterweise unter anderem deshalb gegen den Irak-Krieg der USA, weil dieser die recht exklusiven Handelsbeziehungen Frankreichs mit Saddam Hussein gefährdete. Hinzu kamen die erheblichen Schuldenforderungen von Frankreich an den Irak, die nach dem Regimewechsel verfallen dürften. Chiracs Nein zum Irakkrieg ist somit ein klarer Fall von opportunistischer (gleichwohl "ziviler") Machtpolitik, der jedoch im derzeitigen USA-Bashing europäischer Intellektueller kaum Erwähnung findet.

Die Differenzen zwischen Frankreich und den USA in der Irak-Frage spiegeln somit die unterschiedlichen Interessen der beiden Nationen wider. Eine grundsätzlich andere Auffassung von Außenpolitik ist daraus nicht ablesbar. Auch innerhalb der politischen Eliten Frankreichs und Deutschlands wurde und wird kanongleich verkündet, daß die transatlantischen Differenzen nicht prinzipieller Natur seien, sondern lediglich die Methoden beträfen.[8] Eine grundsätzliche Dichotomie zwischen einer "Militärmacht" USA und einer "Zivilmacht" Europa läßt sich aus den innerimperialistischen Konkurrenzverhältnissen jedenfalls nicht ableiten. Gegen die zukünftige "Zivilmacht Europa" spricht zudem der fortschreitende Aufbau einer eigenen europäischen Armee jenseits der NATO. Daß diese Militarisierung der EU-Außenpolitik kein bloßes Planspiel konservativer think-tanks mehr ist, wird z.B. dadurch deutlich, daß seit April 2003 die EU mit einer 400 Soldaten starken Einheit Schutzaufgaben von der NATO in Mazedonien übernommen hat.

Ungleiches internationales System

Die Widersprüchlichkeiten der Behauptung von der europäisch-amerikanischen Dichotomie und der Kritik einer "amerikanischen Weltordnung" verstärken sich beim Blick auf die Strukturen des internationalen Systems. Neben dem Irak beispielsweise verfüg(t)en nicht nur diverse andere "Schurkenstaaten" und die USA über chemische und biologische Kampfstoffe, sondern auch Frankreich. Ebenso schenkt kaum einer der Kritiker der US-Hegemonie dem strukturbildenden Umstand Betrachtung, dass die zwei europäischen der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates - England und Frankreich - sowie Rußland aus ehemaligen Kolonialmächten bestehen. Wer hat diese Mitglieder des Sicherheitsrates dazu autorisiert, dem Rest der Welt vorzuschreiben, was richtig und was falsch ist? Gibt es ein rationales Argument, welches belegen könnte, daß Frankreich größere politische und moralische Integrität hat als beispielsweise Indien? Warum hat Frankreich mit seinen 60 Millionen Einwohnern die Möglichkeit, bei UN-Resolutionen ein Veto einzulegen, während Indien mit einer Milliarde Einwohnern dieses Recht nicht besitzt?

Diese und die vielen anderen strukturell verankerten Ungleichheiten im internationalen System sind nicht alleine Produkt einer amerikanischen, sondern vielmehr einer westlichen Weltordnung. Dieser liegt die Überzeugung zugrunde, daß die wirklich wichtigen Entscheidungen über internationale Politik in den westlichen Metropolen getroffen werden sollten. Die Ansichten und Bedürfnisse von Bevölkerungen und Regierungen der jeweils betroffenen Staaten, augenblicklich die der Golfregion, finden nach wie vor kaum Gehör.

Die Mißachtung internationaler Abkommen und militärische wie ökonomische Dominanzpolitik haben eine lange Geschichte. Sie sind schon in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg in wesentlich umfangreicherem und blutigerem Ausmaß von europäischen Mächten vorexerziert worden. Die Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der Mehrheit der Weltbevölkerung ist keineswegs in den think-tanks der derzeitigen US-Administration erfunden worden. Alle europäischen Großmächte der vergangenen Jahrhunderte haben ihren Reichtum und ihre weltweite Vormachtstellung, die erst mit dem Zweiten Weltkrieg endete, durch die Ausplünderung des Restes der Welt erreichen und festigen können. Der europäische Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts bildet durch die von ihm durchgeführte Aufteilung der Welt in "Industrienationen" und "Entwicklungsländer" zum überwiegenden Nutzen der Metropolen das Fundament der heutigen Weltordnung und somit auch für die amerikanische Hegemonie. 1945, nach dem "Ende der Imperien" (Eric Hobsbawm) änderte sich zwar die Machtbalance im internationalen System zu Gunsten der USA. Die "amerikanische" Weltordnung war und ist aber zu einem großen Teil auch Produkt europäischer Akteure im Konzert der Mächte.

Die berechtigte und notwendige Kritik der gegenwärtigen US-Außenpolitik bleibt so lange unglaubwürdig, wie sie die weitreichenden Interessenskonvergenzen zwischen den Mitgliedern der "zivilisierten Welt" nicht berücksichtigt. Denn abgesehen von wenigen Ausnahmen, wie z.B. der Irak-Frage, handeln die USA primär im Interesse aller reicher Industrienationen. Zu Recht stellt daher eine der wichtigsten Zeitschriften der US-amerikanischen Linken mit Blick auf die europäischen Regierungen fest: "Die Kritik der US-Außenpolitik, sofern sie überhaupt vorkommt, ist halbherzig und dient vor allem kurzfristigen Eigeninteressen, wie z.B. bei der Wahl 2002 in Deutschland."[9] Die USA sind nicht die einzige Nation der Welt, die in vielerlei Hinsicht von der aktuellen "neuen" Weltordnung profitiert. Sie sind lediglich die lauteste und mächtigste.


Anmerkungen:

[1] Robert Kagan, Macht und Schwäche - Was die Vereinigten Staaten und Europa auseinandertreibt", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 10/ 2003, S. 1194.

[2] Ernst-Otto Czempiel, Die amerikanische Weltordnung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 48/ 2002, S. 3

[3] Thomas Schmid, Krieg im Kosovo, Hamburg 1999, S. 2.

[4] z.B. von Noam Chomsky, People without rights: Kosovo, Ost-Timor und der Westen, Hamburg 2002, insbes. S. 38 ff.

[5] Matthias Küntzel, Lebendige Vergangenheit - Die Kontinuität von Deutschlands völkischer Balkan-Politik", in: iz3w 256, S. 9; Jürgen Elsässer, Kriegsverbrechen - Die tödlichen Lügen der Bundesregierung und ihre Opfer im Kosovo-Konflikt, Hamburg 2001, S. 37 ff.

[6] In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 03/2001.

[7] Steffen Hertog, Irak: Der neue Hauslieferant des Westens? Die politische Ökonomie des anstehenden Irak-Krieges, in: WoZ, 31.10.2002.

[8] Vgl. Interview mit Karim Pakzad, Sprecher der französischen Sozialistischen Partei, in: World Socialist website), 06.03.2003.

[9] Andre Vltchek, Western Terror from Potosi to Baghdad, in: Z-Magazine Online.


Felix Heiduk schreibt derzeit am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften in Berlin seine Diplomarbeit.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 269 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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https://sopos.org/aufsaetze/3eea08589b0ea/1.phtml

sopos 6/2003