Zur normalen Fassung

Die Bürde des starken Mannes

Die US-Eliten wollen einen "neuen Imperialismus"

von Michael Hahn

Unter dem Label der "failing states" wird ein "Recht auf Intervention" in fast allen Regionen der Welt angemeldet.

Die Renaissance des "Empire"-Begriffs in den USA begann bald nach dem Ende des Kalten Krieges (und lange vor dem Erscheinen des gleichnamigen Buches von Toni Negri/ Michael Hardt). Nach der US-Invasion in Somalia erschien beispielsweise 1993 im Wochenendmagazin der New York Times unter dem Titel "Der Kolonialismus ist wieder da - und keine Sekunde zu früh" ein damals viel diskutierter Beitrag. Darin hieß es: "Das Grundproblem ist offensichtlich, aber es wird nie öffentlich angesprochen: Einige Staaten sind unfähig, sich selbst zu regieren. Dies ist eine Frage der Moral: Die zivilisierte Welt hat eine Mission, zu diesen verzweifelten Orten hinzugehen und sie zu regieren." Der bekannte Journalist und Buchautor Robert Kaplan warnte 1994 vor der "Coming Anarchy" durch weltweite Armut, Kriminalität, Überbevölkerung, Stammeskonflikte oder Krankheiten, wobei er übrigens auch Gefahren für den inneren Zusammenhalt der US-Gesellschaft witterte. Und auch der äußerst einflußreiche Neokonservative Irving KristolIrving Kristol beschrieb schon 1997 im Wall Street Journal das "entstehende amerikanische Imperium": "Eines Tages werden die Amerikaner die Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß wir eine imperiale Nation geworden sind. (...) Dies ist geschehen, weil die Welt es so wollte."

Seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 gibt es kein Halten mehr. "Amerika muß seine imperiale Rolle annehmen", forderte etwa Max Boot im tonangebenden neokonservativen Wochenmagazin Weekly Standard. In der respektablen außenpolitischen Fachzeitschrift Foreign Affairs legte Sebastian Mallaby mit einem Aufsatz über die USA als "reluctant imperialist" (widerstrebend) nach: "Ein neuer imperialer Moment ist gekommen, und dank seiner Macht muß Amerika die führende Rolle übernehmen." Das sei nun mal die "Bürde des reichen Mannes", ein Verweis auf den britischen Kolonial-Autoren Rudyard Kipling ("White Man's Burden"). Philosophischen Feuerschutz gibt es von konservativen Intellektuellen, die die Theorie des "gerechten Krieges" wiederbelebt haben. Trotz vereinzelten Widerspruchs ist die Idee eines wohlwollenden "American Empire" unter den US-Eliten hegemonial geworden.

Gescheiterte Staaten

Zentral bei den Überlegungen für diesen wohlwollenden Imperialismus ist der Begriff der "failed states", der gescheiterten Staaten. Im Unterschied zu den "rogue states", den Schurkenstaaten, geht es dabei nicht um stabile Diktaturen à la "Achse des Bösen", sondern um Länder, in denen Warlords und Drogenbarone das staatliche Gewaltmonopol übernommen haben. Von dort, so befürchten die US-Autoren, gehen internationaler Terrorismus, Drogenhandel und unkontrollierte Migrationsbewegungen aus. Die Beispiele reichen von Kolumbien über die afrikanische Sub-Sahara bis nach Zentralasien; aber auch Saudi-Arabien und Pakistan gelten als "scheiternde Staaten". Noch unter Präsident Clinton warnte die Hart-Rudman-Kommission (benannt nach zwei ehemaligen Senatoren) vor dem Sicherheitsrisiko durch "failing states" und empfahl, die USA sollten zur Stabilisierung notfalls auch militärisch eingreifen. Hervor gehoben wurden Mexiko, Kolumbien, Saudi Arabien und Rußland.

Die Definition des "failed" (oder "failing") wird dabei ausgesprochen flexibel gehandhabt. Mal sind nur Länder gemeint, die Terroristen beherbergen, ein anderes Mal auch Staaten, die es nicht schaffen, ihre Bürger mit ausreichend Nahrung und Bildung zu versorgen. In jedem Fall, so argumentieren die "Neo-Imperialisten", haben diese Staaten ihr Recht auf Souveränität verwirkt und auswärtige Ordnungsmächte müssen eingreifen. Dies geschehe zum "Wohle der Eingeborenen", schreibt Boot, der sich mit Genugtuung auf linke und liberale Wegbereiter beruft, die in den 90er Jahren den Gedanken der "humanitären Intervention" salonfähig machten.

Unter dem Label der "failing states" wird theoretisch ein "Recht auf Intervention" in fast allen Regionen der Welt angemeldet, werden bestehende Regime destabilisiert und das herkömmliche Völkerrecht ausgehebelt. Gleichzeitig bleibt der Weltkapitalismus an stabilen Verhältnissen und starken Staaten interessiert, die gute Verwertungsbedingungen garantieren. Diesen Konflikt löst der "neue" US-Imperialismus mit durchaus herkömmlichen Methoden: mit eigenen Militärbasen in einer wachsenden Zahl von Ländern sowie einer riesigen Flugzeugträger-Flotte für den bisher unzugänglichen Rest. Schön auf den Punkt gebracht hat dies der New York Times-Kolumnist Thomas Friedman: "Wenn die Globalisierung funktionieren soll, dann darf Amerika nicht zögern, als unbesiegbare Supermacht zu handeln. (...) Die unsichtbare Hand des Marktes wird niemals funktionieren ohne die sichtbare Faust. McDonald's kann nicht florieren ohne (den Rüstungskonzern) McDonnell-Douglas (und das US-Militär)."

Uni versus Multi

Daß Dritte-Welt-Länder nach Belieben bekämpft, besetzt oder anderweitig "stabilisiert" gehören, ist unter den US-Eliten unumstritten. Kontrovers ist jedoch das "Wie". Hier stehen sich "Unilateralisten" und "Multilateralisten" gegenüber. Der Konflikt zwischen diesen beiden Konzepten bezieht sich nicht auf die so genannte Dritte Welt, sondern auf das Verhältnis zur imperialistischen Konkurrenz, also zu Europa (mit oder ohne Großbritannien), Rußland und Japan, sowie längerfristig zu China und Indien. Die Debatte verläuft quer zu den herkömmlichen politischen Lagern. Am heftigsten wird sie innerhalb der Republikanischen Partei geführt.

Zu den "Multilateralisten" zählen so knallharte Machtpolitiker wie die früheren Außenminister und Sicherheitsberater Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski, Ex-Präsident George Bush Senior, Außenminister Colin Powell, die CIA, der überwiegende Teil des US-Militärs und bürgerliche Medien wie die New York Times. Sie alle warnten im vergangenen Jahr vor einem amerikanischen Alleingang gegen den Irak und verlangten, den UN-Sicherheitsrat einzubeziehen.

Wohlgemerkt: Keine dieser Stimmen schließt grundsätzlich einen Alleingang aus, wenn ein solcher den US-Interessen dient, und keiner hat etwas gegen ein "amerikanisches Imperium" einzuwenden. Auch der relativ UNO-freundliche Präsident Clinton handelte unilateral, wenn es geboten schien. In der Regel allerdings, so argumentieren die Multilateralisten, sei den US-Interessen am besten gedient, wenn die "Verbündeten" einbezogen werden. Dies habe die Bush-Regierung seit dem 11. September vernachlässigt, kritisiert Kissinger: "Die anfängliche Solidarität wurde geschwächt, als die USA der Herausforderung eine militärische Wendung gaben und dem Terrorismus den Krieg erklärten. Und sie verschwand mit der Strategie der Präventivkriege, die allen bewährten Prinzipien der Souveränität zuwider läuft." Bushs Politik gefährde das Atlantische Bündnis, das "mehr als ein halbes Jahrhundert lang das Herzstück amerikanischer Außenpolitik" war (Spiegel, 19.4.2003).

Das Ergebnis dieser Debatte ist bekannt. Zwar machte die US-Regierung mit der Resolution 1441 noch einen Schlenker durch die UN-Zentrale, aber am Ende setzten sich die Unilateralisten durch. "Die Mission definiert die Koalition", erklärte Kriegsminister Donald Rumsfeld. Ein Alleingang erscheint Unilateralisten wie ihm nicht als notwendiges Übel, sondern geradezu als erstrebenswert, um den Weltsicherheitsrat (und damit die Vetomacht der Konkurrenten) vorzuführen und um die bisherige Weltordnung zu zertrümmern. Selbst die braven Briten wurden von Rumsfeld wiederholt brüskiert.

America First

Die Entscheidung für den Alleingang im Irak krönt den langjährigen, zielstrebigen Aufstieg der Neokonservativen ins außenpolitische Establishment der USA. Sie markiert die Entmachtung der traditionellen Rechten. Intellektuell geht die neue Strömung auf die antikommunistischen "Cold War Liberals" zurück; einige der heute führenden "Neocons" waren in den 60er Jahren noch Trotzkisten. In den 80er Jahren gelangten sie unter Präsident Reagan in Regierungsämter und überwinterten während der Clinton-Jahre in Stiftungen, Zeitschriftenredaktionen und Universitäten. Seit zwei Jahren sitzen sie an Schlüsselstellen der Bush-Regierung.

Ein Beispiel dafür ist der stellvertretende Kriegsminister Paul Wolfowitz. Der hatte 1991 schon unter dem damaligen Kriegsminister Dick Cheney Gelegenheit, eine strategische Neuorientierung der US-Außenpolitik zu formulieren. Sein Entwurf für neue verteidigungspolitische Richtlinien ("Defense Planning Guide") beruhte auf zwei Grundgedanken: Erstens sollten die USA mit allen Mitteln verhindern, daß nach dem Ende der Sowjetunion ein neuer weltpolitischer Konkurrent auftaucht ("No Rivals Plan"), und zweitens sollten die USA im Notfall auch "unabhängig" und "präventiv" handeln. Nachdem die New York Times diesen Entwurf bekannt machte, wurde er entschärft. Aber zehn Jahre später sind die Grundgedanken des Papiers als "Bush-Doktrin" offizielle Regierungspolitik geworden.

Im Gegensatz zu den traditionellen "Realisten" ziehen die Neokonservativen ausdrücklich moralische Begründungen wie Menschenrechte und Demokratisierung heran. Hier gibt es Überschneidungen mit der christlich-fundamentalistischen Rechten in den USA, die sich normalerweise auf soziale und gesellschaftspolitische Fragen wie Familienpolitik, Abtreibungen etc. konzentriert, aber mit ihrer Unterstützung für Israel auch eine reale Massenbasis für die gegenwärtige US-Außenpolitik mobilisiert.[1]

Weitgehend abgemeldet aus dem Washingtoner Diskurs sind dagegen die "Paläo-Konservativen", die in den 1990er Jahren über einen gewissen Einfluß verfügten. Dazu gehören elitäre Kommunistenfresser um die Zeitschrift National Review ebenso wie die rechtspopulistische Massenbewegung, die zum politischen (und in Einzelfällen sogar zum bewaffneten) Aufstand gegen die Washingtoner Zentralregierung rief. Ihr Sprachrohr war der Präsidentschaftskandidat Pat Buchanan, der unter dem Motto "America First" einen Rückzug aus der Rolle des Weltpolizisten verlangte - mit kaum kaschiertem, rassistischem und antisemitischem Subtext (keinen Dollar für Entwicklungshilfe, kein Soldatenblut für die Sicherheit Israels).

Auffallend ist, wie die konservative Strategiedebatte der vergangenen 15 Jahre trotz ihres unverkennbaren Sendungsbewußtseins und trotz aller großspurigen Wortwahl ("Projekt für ein neues amerikanisches Jahrhundert") von Pessimismus durchzogen ist. Schon 1987 warnte der Historiker Paul Kennedy in "Aufstieg und Fall großer Mächte" vor einer "imperialen Überdehnung" der USA (allerdings hat Kennedy mittlerweile seine Ansichten revidiert und hält neuerdings eine dauerhafte US-Hegemonie für möglich). Anfang der 90er Jahre fürchtete Samuel Huntington den "Zusammenprall der Zivilisationen", und der bereits erwähnte Robert Kaplan malte die "Anarchie" an die Wand. Erst allmählich beginnt sich auch in der europäischen Diskussion der Gedanke zu verbreiten, daß es mit der US-Weltherrschaft vielleicht gar nicht so weit her ist.

Abhängig vom Weltmarkt

Im Gegensatz zur militärisch gestützten Sicherheitspolitik spielt in der bürgerlichen US-Diskussion der ökonomische Charakter des neuen Imperialismus fast keine Rolle. Faktoren wie Wirtschaft, Technologie und Kultur gelten allenfalls als "soft power" zur Absicherung der "nationalen Sicherheit" der USA. Das war in den goldenen 90er Jahren noch anders. Für die Clinton-Regierung war die Handelspolitik ein zentrales Feld der Außenpolitik. Dazu gehörten das 1994 in Kraft getretene nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta), die Vorbereitungen für eine auch ganz Lateinamerika umfassende Freihandelszone (FTAA), der Umgang mit den asiatischen Finanzkrisen und die Verhandlungen innerhalb der Welthandelsorganisation WTO - alles vor dem Hintergrund einer beispiellosen Expansion der US-Ökonomie.

Doch seit die Börsenblase geplatzt und die neue Regierung am Ruder ist, geht es behutsamer zur Sache. Zwar hat der von den Republikanern kontrollierte US-Kongreß dem Präsidenten Bush (im Unterschied zu Clinton) ein so genanntes Schnellspur-Mandat verliehen und damit die Freihandelsverhandlungen mit Lateinamerika erleichtert. Doch kann von einer schlüssigen, zielstrebigen Strategie keine Rede sein. Allzu widersprüchlich sind die Partikularinteressen. So hat die Bush-Regierung trotz aller Freihandels-Bekenntnisse etliche protektionistische Maßnahmen ergriffen, hat strenge Kontrollen gegenüber mexikanischen Lkw-Spediteuren angeordnet und Sonderzölle auf Stahlimporte verhängt. Die WTO, die dagegen Einspruch erhebt, wird in den USA weniger als Speerspitze für eine weltweite Deregulierung denn als Fessel wahrgenommen. Nicht einmal das Ziel eines niedrigen Ölpreises ist unumstritten, weil damit die heimische Ölförderung (Texas, Alaska) unrentabel würde. Gleichzeitig ist die US-Ökonomie international viel zu sehr vernetzt und viel zu abhängig von einem ständigen Zufluß von Waren und Kapital, als daß sie einen ungehemmten Handelskrieg mit den europäischen und ostasiatischen Rivalen in Kauf nehmen könnte.

Diese Weltmarkt-Abhängigkeit machen Autoren wie der Franzose Emmanuel Todd für eine "wachsende Verwundbarkeit" der USA verantwortlich. Bei aller Begeisterung für das neue "wohlwollende" Empire nehmen somit auch in den USA die Warnungen vor einem imperial overstretch zu. Selbst Henry Kissinger mahnt zur Selbstbeschränkung. Denn ein Imperium trage stets eine Tendenz zum anti-demokratischen "Caesarismus" in sich. Angesichts der innenpolitischen Verschärfungen der vergangenen zwei Jahre ("Homeland Security") ist diese Gefahr nicht von der Hand zu weisen.


Anmerkungen:

[1] Die pro-israelische Haltung der christlichen Rechten ist meist antisemitisch begründet. Denn ohne einen Staat Israel gibt es keine Wiederkehr des Messias und kein Armageddon, in dem selbstverständlich alle bis dahin nicht bekehrten Juden sterben werden.


Michael Hahn ist Journalist in Tübingen.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 269 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/3ee0d76927cd5/1.phtml

sopos 6/2003