Truppenstärke ist angesichts moderner Waffentechnik längst kein wichtiger Indikator für militärische Stärke mehr. Der Blick muß sich deshalb auf die Umstrukturierung der Bundeswehr und auf ihr Waffenarsenal richten.
Es ist eine Illusion zu glauben, der Imperialismus gehöre der Vergangenheit an. Zwar geht es im Zeitalter der sogenannten Globalisierung den Nationalstaaten nicht mehr um die Erweiterung ihres territorialen Besitzes oder um Landnahme durch Krieg. Die "Gier nach Land" – so die klassische Imperialismustheorie – entspricht dem notwendigen Habitus von Feudalklassen. Diese sind inzwischen untergegangen. Doch Krieg dient nach wie vor als letztes Mittel, um die "Gier nach Märkten" – oder mit Marx ausgedrückt: den "Heißhunger nach Mehrarbeit" – durchzusetzen.
Schon der Aufbau militärischer Überlegenheit gegenüber anderen Staaten dient der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen. Dies gilt nach wie vor, auch wenn die Interessen des Kapitals immer weniger national ausgerichtet sind. Die "Gier nach Märkten" hat sich seit etwa Mitte der 1980er Jahre quantitativ gesteigert und damit eine neue Qualität bekommen, die man mit dem Wort "Globalisierung" zu begreifen versuchte. Dahinter steckt ein Trend, massiv Produktionsstätten im Ausland zu errichten, d.h. Kapital statt Waren zu exportieren. Seit 1985 dominiert die Warenproduktion im Ausland gegenüber dem Warenexport.[1] Man spricht vom Transnationalen Kapital.
Am staatlichen Interesse, die ausländischen Märkte zu gestalten, veränderte sich seine Eindringlichkeit; denn der Kapitalexport muß wesentlich intensiver als der Warenexport durch eine kapitalfreundliche Infrastruktur im Ausland abgesichert werden. Das Militär erfüllt dabei den Zweck des Schutzes der Umsätze und Profite nationaler wie transnationaler Kapitale.
Seit 1945 hat es auf der Welt weit über 150 Kriege gegeben. An den meisten waren unmittelbar oder vermittelt die USA, England oder Frankreich mit eigenen Truppen oder Kriegsgerät beteiligt. Dem deutschen Staat blieb das militärische Mittel der Durchsetzung nationaler Interessen nach 1945 für mehrere Jahrzehnte versagt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, dem zweiten gescheiterten deutschen Versuch, nach der Weltmacht zu greifen, war Deutschland von den alliierten Sieger- und Befreiungsmächten die staatliche Souveränität aberkannt worden.
Die Voraussetzung für die Souveränität eines kapitalistischen Staates besteht in der Abgestimmtheit und Funktionabilität der Triade aus Wirtschaft, Politik und Militär nach innen und außen. Die Bemühungen Deutschlands um die Wiedererlangung staatlicher Souveränität begannen im Jahre 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik. Vor dem Hintergrund des Koreakrieges und der zugespitzten Blockkonfrontation hatte die Adenauer-Regierung in den 1950er Jahre die deutsche Wiederbewaffnung erreicht. Die bereits damals geforderte "volle Gleichberechtigung" der Bundesrepublik ließ sich aber erst im Zuge der deutschen Einigung in den Jahren 1989/90 durchsetzen. Seitdem wird intensiv daran gearbeitet die militärpolitisch depotenzierte Macht Deutschlands wieder in Einklang zu bringen mit der ökonomischen Stärke des Landes. Dieser Prozeß läßt sich als Normalisierung bezeichnen.
Die Normalisierung besitzt zwei Dimensionen: Zum einen ist sie eine Restauration militärischer Potenzen, so daß der deutsche Staat als gleichberechtigtes politisches Subjekt gegenüber anderen souveränen Staaten auf der internationalen Bühne in Erscheinung treten kann (Normalität als Anpassung an das Seiende). Zum anderen besteht die Normalisierung in der Anpassung an die neuen, sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse, die über den status quo der souveränen Nationalstaaten hinausgehen und diese zur teilweisen Aufgabe ihrer Souveränität und zur Integration in Staatenbündnissen zwingen (Normalität als Anpassung an das Werdende). Die Normalisierung besteht auch in einer subjektiven Komponente: in der Gewöhnung der Bevölkerung an den Einsatz militärischer Gewalt zur Durchsetzung nationaler Interessen.
Während des Kalten Krieges konnten der westdeutsche Staat und das ihm zugeordnete Kapital nur darauf hoffen, daß die USA die deutschen Interessen militärisch mit vertreten würden. Immer mal wieder gab es kleinere Konfrontationen, in denen die us-amerikanischen und die deutschen Interessen nicht deckungsgleich waren; zumeist mußte sich zwangsläufig der deutsche Staat unterordnen. Nach dem Ende der Systemkonfrontation beziehen sich die von den USA bzw. von Deutschland und den EU-Staaten vertretenen Interessen wieder stärker auf den systemimmanenten Konkurrenzmechanismus zwischen kapitalistischen Staaten. Seitdem wird die Militarisierung der deutschen Außenpolitik vorangetrieben.
Nach der Auflösung der bipolaren Weltordnung haben sich für das vereinigte Deutschland die Rahmenbedingungen seiner Außenpolitik maßgeblich verändert. In Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion sind neue Nationalstaaten entstanden, zu denen politische und ökonomische Beziehungen neuer Qualität aufgenommen wurden.
Gleichzeitig sind nach dem Untergang der Sowjetunion in Osteuropa neue Probleme (Nationalismus, ethnische Konflikte) entstanden, an deren Lösung der deutsche Staat massiv interessiert und beteiligt ist. Unverblümt reklamiert Deutschland eine ordnungspolitische Rolle als europäische Hegemonialmacht für sich. So erklärte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Mai 1995: "Wir sind Nummer 1 in Europa." Er erläuterte: "Die Führungsrolle ist da. Nicht weil wir sie suchen. Sie ist einfach da."[2] Und der SPD-Außenpolitiker Hans-Ulrich Klose meinte im NDR-Fernsehen: "Was die USA für die Welt sind, das ist Deutschland für Europa."
In dem 2+4 Vertrag über die deutsche Einigung war mit den ehemaligen alliierten Siegermächten vereinbart worden, daß die Stärke der deutschen Streitkräfte eine Obergrenze von 370.000 Soldaten nicht überschreiten dürfe. So sollte eine Militärmacht Deutschland verhindert werden. Inzwischen liegt die Zahl der deutschen Soldaten noch niedriger. Doch Truppenstärke ist angesichts moderner Waffentechnik längst kein wichtiger Indikator für militärische Stärke mehr. Der Blick muß sich deshalb auf die Umstrukturierung der Bundeswehr und auf ihr Waffenarsenal richten.
1991 begannen die deutschen Militärs eine Debatte über den Aufbau nationaler militärischer Streitkräfte, die neuen Anforderungen auf internationalem Terrain gewachsen seien müßten. Im besonderen ging es dabei um die Frage, wie deutsche Kapitalinteressen weltweit zu schützen seien. Betont wurde, bei kollektiven Bemühungen um militärische Krisenreaktion müsse deutschen Interessen größerer Einfluß verschafft werden.[3]
Der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, verfaßte neue Leitlinien für die zukünftige Rolle der Bundeswehr,[4] in denen er eine grundlegende Umrüstung der Armee von einer Territorialstreitkraft zu einer global agierenden Interventionsarmee forderte. Der damalige Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU) nahm Naumanns Leitlinien zur Basis für eine grundlegende Umwälzung der bisherigen militärpolitischen Strategie. Manifestiert wurde dies in den sogenannten Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR), die im November 1992 vom Verteidigungsministerium veröffentlicht wurden.[5]
In den VPR war zum ersten Mal nicht mehr die Rede bloß von der Verteidigung der Nation an den Landesgrenzen, sondern von nationalen Interessen, die weltweit zu verteidigen seien. Im wesentlichen bestünden diese Interessen nicht nur im "Schutz Deutschlands und seiner Staatsbürger vor äußerer Gefahr" sowie der "Beendigung von Krisen und Konflikten, die Deutschlands Unversehrtheit und Stabilität beeinträchtigen" könnten, sondern auch in der "Aufrechterhaltung des freien Welthandels" sowie im "ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen".[6] Zur Wahrung der in den VPR formulierten nationalen Sicherheitsinteressen sei das Mittel der militärischen Intervention legitim.
Betont wurde: "Trotz prinzipieller Übereinstimmung" der deutschen Interessen mit denen der europäischen und transatlantischen Partner verfolge Deutschland "seine legitimen nationalen Interessen", die "nicht in jedem Einzelfall mit den Interessen der verbündeten und anderer Partner" übereinstimmen mögen. Die "nationale Interessenlage" – nicht die multilaterale – sei daher auch "Ausgangspunkt der Sicherheitspolitik eines souveränen Staates"; sie sei "Maßstab für die Beurteilung von Risiken und der Handlungserfordernisse zur Wahrnehmung der Chancen zukünftiger Entwicklung", heißt es in den VPR.[7]
Gemeint ist damit, daß der deutsche Staat sich im Zweifel vorbehält, ohne Absprache mit seinen Verbündeten und gegebenenfalls auch gegen deren Interessen militärisch vorzugehen, wenn es denn den eigenen Interessen nützlich erscheint. Eigens für diese Zwecke wurde in der Bundeswehr ein "Führungszentrum" aufgebaut, das mit der Kommandostruktur der ehemaligen Obersten Heeresleitung der Wehrmacht vergleichbar ist. So kann das deutsche Militär auch unabhängig von der NATO geführt werden.[8]
Naumanns und Stoltenbergs Vorstoß löste eine innenpolitische Debatte über verfassungspolitische Rechtmäßigkeit der angestrebten Neuausrichtung der Bundeswehr (out-of-area-Einsätze) aus. Bereits im August 1990 hatte Helmut Kohl eine Grundgesetzänderung gefordert, um out-of-area-Einsätze auf eine sichere rechtliche Basis zu stellen. Die Bereitschaft dazu war auch bei der SPD vorhanden. Es kam nicht dazu, weil die Union – anders als damals SPD-Politiker – out-of-area-Einsätze der Bundeswehr nicht von UN-Mandaten abhängig machen wollten; schließlich wäre das eine Beschränkung der nationalstaatlichen Souveränität.
Wäre es nach der us-amerikanischen Regierung gegangen, hätten deutsche Soldaten bereits im Vietnamkrieg mit gekämpft. Der damalige US-Präsident Johnson hatte 1965 eine entsprechende Anfrage an die deutsche Regierung gestellt. Doch das Auswärtige Amt ließ mitteilen, daß man "durch die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs und durch die aus der Teilung Deutschlands entstandenen Probleme in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt" sei. Deutsche Soldaten in Vietnam wären damals nicht unbedingt undenkbar gewesen, aber den deutschen Eliten ist es wohl vor allem darum gegangen, Schritt für Schritt zunächst einmal einen souveränen Staat zu restaurieren. So verwies die Bundesregierung auf das Grundgesetz: die Verfassung lasse den Einsatz von deutschen Soldaten nur zur Landesverteidigung im Falle eines Angriffs auf die Bundesrepublik zu.[9]
Das blieb gültige Richtlinie deutscher Außenpolitik, bis der deutsche Staat 1989/90 souverän geworden war. Da veränderte sich die Interessenlage. Der offene Bruch kam schließlich mit dem Somalia-Einsatz der Bundeswehr im Frühjahr 1993 bzw. mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu out of area-Einsätzen im Juni 1994.[10]
Zuvor waren bereits Fakten geschaffen worden. So hatte die Bundesregierung im Frühjahr 1992 mehrere Großverbände der Bundeswehr dem sogenannten Allied Rapid Reaction Corps (ARRC) der NATO zugeordnet. Das ARRC ist eine Großformation, die auf militärische Eingreifzwecke spezialisiert ist; sie umfaßt Heeresverbände im Umfang von mehr als 140.000 Soldaten aus 14 NATO-Staaten. Das ARRC dient nicht nur zur Verteidigung des Bündnisgebietes, sondern vor allem für out-of-area-Missionen unter der Führung entweder der NATO, der UNO oder der OSZE; es kam zum ersten Mal zum Einsatz im Rahmen der IFOR-Mission in Bosnien/Herzegowina im Dezember 1995.[11]
Kurz nach der Gründung des ARRC wurde das deutsch-französische Eurokorps gegründet, dem sich später Spanien und Belgien anschlossen. Auch hier beteiligte sich wie im ARRC die deutsche Bundeswehr mit gepanzerten Formationen, die keinesfalls nur Verteidigungszwecken dienten. Mit dem Eurokorps ist die Regierung dazu übergegangen, eine eigenständige deutsche Militärmacht – zunächst eingebunden in das westeuropäische Verteidigungsbündnis (WEU) – aufzubauen. Die WEU hatte während des Kalten Krieges keine bedeutungsvolle Aufgabe gespielt, dominierend war die NATO. Aber nach 1989/90 spielte die WEU zumindest als Mittel europäischer Profilierung gegenüber den USA eine wichtigere Rolle. Das deutsch-französische Eurokorps umfaßt ein Truppenkontingent von ca. 50.000 Soldaten. Es soll den Kern einer WEU-Armee bilden; dies wurde vom WEU-Rat unter deutscher Präsidentschaft im Juni 1992 beschlossen.[12]
Damit war der Umbau der Bundeswehr zu einer weltweiten Interventionsarmee voll im Gange. Der Plan sieht vor, die deutsche Armee in zwei Bereiche zu teilen: in eine "Mobilmachungsarmee" zur Landesverteidigung und in eine sogenannte "schnelle Eingreiftruppe". Während zur Mobilmachung im Verteidigungsfall knapp 300.000 Soldaten sowie die gleiche Anzahl an Reservisten vorgesehen wurden, sollte die "schnelle Eingreiftruppe" 53.000 Berufssoldaten umfassen (Stand: 1998). Mit entsprechender Spezialausbildung und Ausrüstung sollen diese als "Krisenreaktionskräfte" binnen 30 Tagen überall in der Welt eingesetzt werden können.[13]
Die Ausrüstung der Krisenreaktionskräfte läßt darauf schließen, daß dem massiven Gewalteinsatz gegenüber einer deeskalierenden Strategie der Vorzug eingeräumt wird. Nicht nur vom Umfang, sondern auch von der Struktur her sind mit dem Krisenreaktionspotential der Bundeswehr politisch-symbolisch Signale gesetzt, die eine Militarisierung der internationalen Beziehungen begünstigen.[14]
Auffallend hoch ist das Kontingent der Marine im Arsenal der Eingreiftruppe. Es dominiert mit einem Anteil von 40 Prozent gegenüber dem der Luftwaffe mit 25 Prozent und dem des Heeres mit nur 15 Prozent.[15] In der Zeitschrift "Wehrtechnik" erläuterte Dieter Stockfisch, ein Mitglied im Führungsstab der Marine: Sieben Zehntel der Erde bestünden aus Wasser, die Meere seien die größte Rollbahn in Frieden und Krieg. "See- und Seeluftstreitkräfte sind Kräfte der ersten Stunde. In der Regel können sie aus dem Stand heraus flexibel und weiträumig eingesetzt werden – und damit eine zunächst politische Aufgabe erfüllen, nämlich Flagge zeigen und Präsenz und Entschlossenheit demonstrieren." Mit Seestreitkräften habe man "immer die Wahl zwischen einer Cocktailparty oder einer Bombardierung." Die Marine stelle darüber hinaus die "Politikfähigkeit" der Nation sicher: "Deutschland zählt zu den größten Handelsnationen der Welt. Mehr als 50 Prozent unseres Imports und Exports werden über See abgewickelt. Unsere Rohstoffe werden überwiegend über See importiert. Die Zugehörigkeit zum Seebündnis der NATO und unsere Beteiligung an der Sicherung der Seeverbindung besitzen für unsere Handelsnation den Rang einer Überlebensfrage", schrieb er.
Die Marine hat denn auch noch während der Regierungszeit von Helmut Kohl sieben neue Zerstörer und vier neue U-Boote bekommen in einem Gesamtwert von 7,7 Milliarden Mark. Außerdem wurde der Bau eines neuen Großlandungsschiffes ("Mehrzweckschiff") begonnen, das für lange Distanzen ausgestattet ist und eine Kapazität von 800 Soldaten inkl. Ausrüstung und schwerem Gerät umfaßt.[16] Um den Lufttransport über sehr große Entfernungen bewältigen zu können, beschloß der Bundestag im Dezember 2001 die bislang größten Rüstungsinvestition in der Geschichte der Bundesrepublik: 73 neue Großraumtransportflugzeuge vom Typ A400M zu Kosten von mindestens 8,3 Milliarden Mark wurden bestellt.
Die Akzeptanz für die militärpolitischen Großmachtambitionen des deutschen Staates wurde seit Anfang der 1990er und mittlerweile mit beachtlichem Erfolg herzustellen versucht. In einer Art Salamitaktik wurde die Bevölkerung an weltweite Einsätze deutscher Soldaten gewöhnt. Im Mai 1992 wurden 150 Sanitäter und Ärzte der Bundeswehr nach Kambodscha entsendet, um dort ein Krankenhaus für UN-Soldaten aufzubauen. Am 4. Juli 1992 beteiligte sich dann die Bundeswehr an der Luftbrücke in das von serbischen Truppen eingekesselte Sarajevo. Zwei Wochen später wurden zwei Kriegsschiffe und drei Flugzeuge der Bundesmarine in die Adria verlegt, um das UN-Embargo gegen Staaten des früheren Jugoslawien zu überwachen. Als nächstes erfolgte die Beteiligung der Bundeswehr mit AWACS-Flugzeugen zur Überwachung der Flugverbotszonen für serbische Maschinen über Bosnien. Dann folgte 1993/94 der Somalia-Einsatz. Inzwischen hat sich die deutsche Bevölkerung weitgehend an die praktizierte imperialistische Großmachtpolitik gewöhnt.
Noch 1991 hatte der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr angesichts der antimilitaristischen Massenproteste gegen den Golfkrieg auf einer Kommandeurstagung gestöhnt: "Nicht die Überwindung von Angst, sondern das Ausleben von Angst ist zur Nationaltugend erhoben worden. (...) Es ist zu fragen, ob wir nicht den Gedanken an Krieg, Tod und Verwundung zu weit in den Hintergrund geschoben haben." Verteidigungsminister Stoltenberg sprach damals mit Blick auf die Friedensbewegung von einem "weit verbreiteten Friedensrigorismus". Sein Amtsnachfolger Volker Rühe antwortete im Juli 1992 in einem Interview auf die Frage, ob die Deutschen auf militärische Kampfaktionen der Bundeswehr vorbereitet seien: "Das ist ja meine These. Deswegen müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Es geht auch nicht nur darum, die Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf diese neuen Aufgaben vorzubereiten."[17] Und Hans-Ulrich Klose sagte 1995: "Anders als früher müssen sich heute auch deutsche Soldaten an den bitteren Gedanken des Waffeneinsatzes gewöhnen."[18]
Dies sind nur einige Beispiele einer Überzeugungsrhetorik, die darauf ausgerichtet war und ist, den Einsatz von Militär als legitimes Mittel der Politik zu rechtfertigen. Inzwischen herrscht ein breiter Konsens: Deutschland müsse aktiv in der Weltpolitik "mitspielen", um seine nationalen Interessen durchzusetzen und dürfe nicht länger auf der "Zuschauertribüne" sitzen.
Im Nürnberger Gefängnis plauderte Hermann Göring 1946 gegenüber dem amerikanischen Psychologen Gustave M. Gilbert über Kriegspropaganda: "Natürlich", sagte Göring, "das Volk will keinen Krieg. Warum sollte irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, daß er mit heilen Knochen zurückkommt. (...) Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt." Man brauche nicht viel mehr zu tun, als der Bevölkerung zu sagen, sie würde bedroht werden. Man müsse lediglich den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorwerfen und sie beschuldigen, daß sie das Land in Gefahr brächten. Die Methode funktioniere immer.
Wer sollte es besser wissen als die deutschen Nazis, wie man eine Bevölkerung auf Kriege einstimmt?
Die rhetorische Legitimation militärischen Aufrüstens hat innerhalb der letzten Jahrzehnte ihr Muster gewandelt. Noch im Kalten Krieg war es das antikommunistische Muster, die Beschwörung einer kommunistischen Bedrohung der vermeintlich freien Welt. Nachdem die Sowjetunion, das "Reich des Bösen", zusammengebrochen war, hatte der Antikommunismus als Legitimationsrhetorik ausgedient. Die Metapher des Bösen blieb aber bestehen. Aus dem Kampf gegen die Ausbreitung des Kommunismus wurde in den 1990er Jahren der "Kampf um die Menschenrechte". Rühe forderte 1991, deutsche Soldaten müßten helfen, internationales Recht wiederherzustellen. Man führe Krieg gegen "Schurkenstaaten", weil diese Menschenrechte verletzten. Die rhetorische Phrase von der "humanitären Intervention" ist allerdings so neu nicht; sie wurde bereits vor 200 Jahren von den europäischen Großmächten genutzt, um dem untergehenden Osmanischen Reich seine christlichen Gebiete wegzunehmen. Zum Beginn des Ersten Weltkrieges war es ebenfalls Menschenrechtsrhetorik, die bei der Zerschlagung der Zweiten Internationale half und die deutsche Sozialdemokratie bewog, den Kriegskrediten zuzustimmen: es gelte die zivilisatorischen Errungenschaften gegen das despotisch-rückständige Zaren-Regime zu verteidigen.
Anfang des vergangenen Jahrhunderts wurde noch eine Konfrontation zwischen Abend- und Morgenland beschworen, die etwa in der Wendung von der "asiatischen Despotie" ihren Ausdruck fand. Heute sind es vielfach einzelne "Schurken" wie Saddam Hussein, Slobodan Milosevic oder die Taliban, die zu Feinden der westlichen Zivilisation oder zu "Wiedergängern Hitlers" stilisiert werden. Hitler steht als rhetorische Chiffre für den Zivilisationsbruch, der sonst mit Auschwitz benannt wird, um antifaschistischen Widerstandswillen zu wecken. Auch dieses antifaschistische Muster wurde einige Zeit erfolgreich instrumentalisiert – vor allem in der Bosnien- und Kosovo-Krise. Die Rede war von "serbischen KZ", der "SS von Milosevic" oder auch von einem "serbischen Josef Mengele", der angeblich Frauen Hundeföten einpflanzte, wie der CDU-Abgeordnete Stefan Schwarz behauptete. Auch Joschka Fischer, der noch 1994 kritisiert hatte, "wie die Bundesregierung den Bundestag an der Nase, an der humanitären Nase, in den Bosnienkrieg führen will"[19] legitimierte so seine olivgrüne Wende und den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, den die NATO mit deutscher Beteiligung 1999 gegen Serbien führte. Das "Handelsblatt" schrieb: "Es ist eine Ironie der Geschichte, daß ausgerechnet ein grüner Außenminister dabei hilft, die Deutschen reif für den gerechten Krieg zu machen."[20] Eine konservative Regierung hätte es gegen eine rot-grüne Opposition gewiß schwieriger gehabt, einen solchen militärpolitischen Konsens in der Bundesrepublik herzustellen.
Die Legitimationsrhetorik hat sich mit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington vom 11. September 2001 ein bisher letztes Mal verändert. Gleichwohl sind auch hier die Grundmuster dieselben geblieben: Hitler spielt zwar keine Rolle mehr, aber dafür weiterhin die Dämonisierung des "Bösen", das nunmehr biblische Ausmaße angenommen hat. In diesem exorzistischen Muster taugt Bin Laden – schon in der Art, wie er sich selbst inszeniert – als das personifizierte "Böse": als der "gefallene Engel", der während des Kalten Krieges von den USA im Kampf gegen den sowjetischen Vormarsch in Afghanistan protegiert worden war und danach zum Erzfeind der USA avancierte, nachdem sich die Taliban nicht mehr so willfährig gegenüber den Wirtschaftsinteressen der Supermacht in der Region zeigten. Aus "Schurken" wurden "Terroristen", aus dem "Kampf gegen Schurkenstaaten" wurde ein Krieg gegen eine ganze "Achse des Bösen".
In Deutschland dient die Instrumentalisierung des Terrorismus dazu, den Prozeß der militärpolitischen Normalisierung zum Abschluß zu bringen. Bin Laden und Al Qaida – das hat Schröder von Bush jun. übernommen – fungieren als Chiffren für die nihilistische Bedrohung der "westlichen Wertegemeinschaft", für "reinen Vernichtungswillen" und "ungezügelten Haß". Der Name Bin Laden stehe, so Schröder, "für eine Struktur und für eine Kampfansage an Zivilisationen",[21] so daß eine neue Form der Selbstverteidigung notwendig geworden sei, für die die Deutschen als gleichberechtigte Partner der USA selbstverständlich ihren Beitrag leisten müßten. Deutschland als global-war-player, eingebunden in die sogenannte Anti-Terror-Koalition. Die deutsche Außenpolitik hat sich damit endgültig militärpolitisch normalisiert.
Dieser Beitrag erschien zuerst in dem Buch:
"Töten - Plündern - Herrschen. Wege zu neuen Kriegen", hrsg. v. Rainer Butenschön/Eckart Spoo, Hamburg 2003. - ISBN 3-89965-010-7, EUR 16,50.
Das Buch dokumentiert unterschiedliche konzeptionelle Zugänge zu den ökonomischen, militärischen und ethnischen Konfliktpotenzialen der Globalisierung. - Bestellen beim VSA-Verlag.
[1] Der Absatz ausländischer Tochterkonzerne übertraf im Jahre 1992 mit 5,2 Billionen Dollar den des Welthandels mit 4,9 Billionen Dollar.
[2] Zitiert nach Dietrich Heimann u.a. (Hrsg.): Weltmacht Deutschland?, Donat Verlag Bremen, 1996, S. 7.
[3] Vgl. Lutz Unterseher: ”Deutsche Militärpolitik – Unauffällige Festlegung für die Zukunft”, in: ZOOM 5/98.
[4] Vgl. ”Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtungen der Neugestaltung der Bundeswehr”, Bonn 1992.
[5] Vgl. ”Verteidigungspolitische Richtlinien” (VPR), Bundesministerium der Verteidigung, Bonn 1992.
[6] Vgl. VPR, a.a.O., Nr. 1, 2 und 8.
[7] Vgl. VPR, a.a.O., Nr. 7.
[8] Vgl. David Meienreis / Frank Renken (Hrsg.): Krieg und Globalisierung. Der Imperialismus: Vom Kolonialismus zu den Kriegen des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2002, S. 69.
[9] Vgl. Gunter Latsch, Klaus Wiegrefe: “Einsatz im Machtspiel”, in: SPIEGEL 46/2001, S. 37.
[10] Helmut Kohl ließ zu seinem Amtsantritt 1982 sogar den Bundessicherheitsrat eine Grundsatzentscheidung treffen: out of area Einsätze sollten verfassungswidrig sein, es sei denn, die BRD werde angegriffen.
[11] Vgl. International Institute of Strategic Studies: The Military Balance 1992-1993, S. 29ff.
[12] Vgl. FR vom 21.5.1992 und vom 22.5.1992.
[13] Vgl. Gero Koch: Krisenreaktionskräfte des Heeres, SuT, 7/1993, S. 404. - Vgl. auch Wiener Dokument: Bundesrepublik Deutschland, jährlicher Informationsaustausch über Verteidigungsplanung, Bonn 1998, S. 19.
[14] Lutz Unterseher, a.a.O.
[15] Vgl. David Meienreis / Frank Renken (Hrsg.), a.a.O., S. 68.
[16] Ebd.
[17] Zit. n. David Meienreis / Frank Renken (Hrsg.), a.a.O., S. 62.
[18] Die Woche vom 8.9.1995.
[19] Zitiert nach Jürgen Elsässer: Nie wieder Krieg ohne uns. Das Kosovo und die neue deutsche Geopolitik. Hamburg 1999, S. 7.
[20] Zit. n. David Meienreis / Frank Renken (Hrsg.), a.a.O., S. 65.
[21] ”Eine neue Form der Selbstverteidigung – Bundeskanzler Gerhard Schröder über die Bedrohung der westlichen Zivilisation und Deutschlands Rolle in der Welt. Ein ZEIT-Gespräch von Gunter Hofmann und Michael Naumann (Gesprächsführung)”, ZEIT 43/2001.
https://sopos.org/aufsaetze/3e690cf685abc/1.phtml
sopos 3/2003