Im Marxismus-Leninismus war der Materialismus noch eine klare Sache. Hier war "die Materie gegenüber dem Bewußtsein das Primäre". Der Marxismus-Leninismus unterstrich erstmals, "daß für die Entstehung und Entwicklung des menschlichen Bewußtseins nicht die Natur allein bestimmend ist, sondern vor allem die Arbeit, die materielle produktive Tätigkeit, in der und durch die sich der Mensch in der Gemeinschaft (...) auseinandersetzt". Bewußtsein ist Anhängsel unterhalb der "materiellen Produktion seines Lebens".[1] Mit diesem Materialismus emanzipiert sich der Mensch allerdings nicht, sondern er schafft eine neue verbindliche Weltanschauung: "Der dialektische und historische Materialismus ist die Weltanschauung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei." Die philosophische Folge dieses Vulgärmaterialismus war die Rückwendung zum a priori: Der Materialismus wurde metaphysisch, weil er Vorstellungen vor die materielle Analyse setzte.[2]
Dabei ist Materialismus nur eine subversive Denkweise wenn er ideologiekritisch ist. Dann verweist er darauf, wie alles vom Kapital determiniert ist. Nur in diesem Bezug läßt sich gesellschaftliche Totalität denken, die - im Unterschied zur Ganzheitlichkeit - keine regressive Mythenbildung ist. Dafür gibt es diese Totalität allerdings nur negativ. Und: Im Materialismus soll lediglich ein Begriff von gesellschaftlich geprägten Rahmenbedingungen existieren, wobei dieser Rahmen kein äußerer, sondern einer in den Subjekten ist. Alles andere ist eine Frage der Praxis. Denn die Subjekte sind Individuen, die handeln - wobei auch das Handeln gleichzeitig determiniert und offen ist. Auch die scheinbar lückenlos herrschende Warengesellschaft ist Resultat individueller Praxis und historischen Wandels. So bringt sie immer wieder ihre eigenen Widersprüche hervor, die aus dem Widerstand gegen die Zumutungen der verallgemeinerten Konkurrenz entspringen.
Gesellschaftskritik muß ihrerseits - weniger dramatische - Widersprüche aushalten: etwa das Bewußtsein, Kultur, Religion zwar ideologisch determiniert sind, es sich aber dennoch verbietet, sie allein aus einer materiellen Basis abzuleiten. Denn Eigendynamik und die Möglichkeit des Handelns durchkreuzen den Determinismus, der ebenso falsch wie der bürgerliche Subjektivismus ist: "Es sind gar nicht die wirklichen empirischen Individuen, die denken, sondern nur ihr in die Subjektform gebannter unbedingter Wille zur Selbsterhaltung, der nichts anderes reflektiert als den Zwang zu eben dieser privatistischen Existenz."[3]
Wenden wir uns lebenspraktischen Fragen zu. Das Bedürfnis nach Spiritualität vermittelt sich über die Psyche und basiert auf der Interaktion der Lebensverhältnisse mit dem Ich. Auf dieser Grundlage widerstreiten in der Psychologie spirituelle und materielle Ansätze: Psychoorganik, Seufzerkurse, Aura-Healing versus Freuds Psychoanalyse und seiner Würdigung von Religion als Zwangsneurose und Vaterprojektion. Den "entsetzlichen Richtergott" führt der Psychoanalytiker Tilmann Moser in seinem Buch "Gottesvergiftung" als häufige Ursache von Seelenstörungen an. Hier läßt sich der Zusammenhang der materiellen Lebensverhältnisse mit der spirituellen Projektion erschließen: Moser argumentiert, daß allen Religionen "elementare Wünsche nach Belehrung, Trost und ethischer Anleitung zugrunde [liegen] - angesichts der Bedrohtheit und Hilflosigkeit des Menschen". Magie, Tabu und Vaterreligion basieren auf dem weltlich verursachten Bedürfnis "nach Rettung aus Ohnmacht, Kleinheit, Unvollkommenheit, Abhängigkeit, Unsicherheit - und dem Wunsch nach eigener Macht, Größe, Vollkommenheit, Sicherheit durch Teilnahme an solchen Eigenschaften eines über alle Nöte erhabenen Wesens"[4].
Wo aber kann gefunden werden, was es nicht gibt? Die Diskrepanz zwischen Möglichem und Wirklichem kann individuell nur in der Fantasie aufgehoben werden. Die "kindliche Andacht" gilt Moser als Ort, in dem sich die spezifisch menschliche Eigenschaft ausbildet, Grundgefühle zu transzendieren. An diesem Punkt der seelischen Entwicklung setzt die Gestaltung der menschlichen Psyche an: "Alle Religionen und alle Ideologien, vor allem wenn sie sich mit Machtsystemen verbinden, scheinen zu ahnen, daß es für ihre Zwecke darauf ankommt, das Andachtspotential des Kindes früh mit den erwünschten Inhalten zu verknüpfen, und zwar so, daß es quasi vor-argumentativ in der Seele verankert wird."
Nun ist die Verbindung mit Machtsystemen nach Erich Fromm der Religion genuin. "Ich glaube, daß das Gottesbild ein historisch bedingter Ausdruck einer inneren Erfahrung war. Der Begriff "Gott" war durch die sozio-politische Struktur bedingt, in der Stammeshäuptlinge die höchste Macht innehatten. Der Begriff des höchsten Wertes wurde verstanden in Analogie zur höchsten Macht in der Gesellschaft. "Gott ist eine der vielen poetischen Ausdrucksweisen für den höchsten Wert im Humanismus und keine Realität an sich."[5] Weil in der aktuellen sozio-politischen Struktur Herrschaft diffuser wird, hat sich ebenso das Bild von "Gott" verändert. Und auch menschliche "Andacht" entsteht nicht metaphysisch. Sie transzendiert, was vordergründig gegeben ist, auf der Basis der Interaktion: "Entfaltete Andacht ohne körperliche Signale scheint undenkbar" (T. Moser). Erst später wird die Summe erhebender Erlebnisse eventuell als Spiritualität interpretiert.
Führt Esoterik von hier zwangsläufig zum "entsetzlichen Richtergott" der Religion? Esoterisches Denken vom Karma als verdientem Schicksal hält diese Pforte jedenfalls weit offen.
Neben das Materielle muß also offenbar etwas Immaterielles gesetzt werden - menschliche Psyche und Geist. Deren historische Verfeinerung - etwa in der Poesie - ist mit ihrer alleinigen Anknüpfung an materielle Ursachen nicht zu klären, sie findet im Gemenge vielfältiger sozialer Auseinandersetzungen statt. Und: Materialismus ist eine Denkweise, Poesie eine (nicht entgegengesetzte) andere. Wahrscheinlich ist gute Poesie auch unter materialistischen Gesichtspunkten passabel. Aber Poesie ist zu sensibel, als daß sie den Vergleich mit anderen Kriterien ertragen würde, sie ist eine Grenze des Materialismus.
Es gibt Tatsachen, die für ein besseres Leben von hohem Wert sind, und die schwer zu fassen sind: der feine Zauber, der im geheimen, unbewußten Einverständnis zwischen Menschen aufscheinen kann, die Leichtigkeit in einem Prosastück, die Poesie der Stadt in Baudelaires Gedichten, Zauber und Magie im Alltagsleben. Eine materialistische Analyse birgt die Gefahr, diese Momente zu verscheuchen. Die Geschichte des Materialismus ist auch die Geschichte der Vulgarisierung des Alltagslebens (vgl. den ihm entsprungenen "Vulgärmaterialismus"). Materialismus kommt aus der Aufklärung zeitgleich mit dem Bild vom "Mensch als Maschine" daher. Seele, Geist, Magie, Poesie werden aber leicht verschüttet. Sie sind nicht religiös (auch wenn sie so begriffen werden können), sondern verfeinerte, z.T. kaum bewußte Zonen im Alltagsbewußtsein. Die Poesie kann regressiv wie progressiv über das Bestehende hinausweisen, und letzteres glückt nur mit einer gewissen Autonomie.
Der hohe Wert der Poesie ist vielen schlicht ein Rätsel, weil ihre Betrachtung zum Wechsel der funktional-identitären Perspektive des jeweiligen Subjekts zwingt - beispielsweise sich aus der politischen (oder antipolitischen) Fixierung zu lösen. Eine materiell abgesicherte Denkweise mag in guter Poesie Standard sein - aber dieses Kriterium ist ungenügend, um Poesie zu erleben. Manche Realitäten lassen sich durch eine glatte Lüge besser treffen als durch jede Analyse. Wer verliebt ist, hat Schmetterlinge im Herzen, das weiß jede/r, mögen auch Hirnforscher etwas anderes behaupten.
Bleiben wir bei diesem Beispiel. Daß Esoterik die feineren Sphären sozialer Beziehungen einerseits beschwört, um im nächsten Moment darauf herumzutrampeln, zeigt ein Blick in ihre Broschüren. Liebe ist determinierter Zweck. Kausal-biologistisch erfahren wir, "Leben ist immer sexuell, denn wir werden als Mann oder als Frau geboren. Sexualität beruht auf der Anziehungskraft zwischen diesen beiden polaren kosmischen Ur-Prinzipien" (in Prisma 28/02), und die weibliche Sexualität führt zur "Spur unserer Ahninnen" zurück, als Frauen noch Respekt genossen, weil die "meisten Gottheiten jener Zeit weiblich waren". Zur Wertlosigkeit inflationiert sich Liebe in "Geliebt sei jedes Geschöpf, denn alles ist eins, alles ist ein Ausdruck Gottes" (Mandala 41/98), und neue Aspekte erschließen sich im Tao-Seminar, "Geld und Liebe sind beide Ausdruck der Lebensenergie." (Labyrinth 196/01).
Nehmen wir zur Erholung einen ernsthaften Vertreter des Idealismus zur Hand. In Hermann Hesses "Lektüre für Minuten" fällt auf, daß viel von "der" Eigenliebe, Nächstenliebe, wahren Liebe die Rede ist, ja daß man "die Liebe überhaupt lieben muß". Der Idealist Hesse liebt mehr im Jenseits. Im Gegensatz dazu bietet die weltliche Belletristik ein "wahrhaftiges" Forum für Liebe und anderen produktiven Wahnsinn. Sei es in irritierend enger Anbindung an materielle Grundlagen wie bei Brecht oder Joyce: "und wie er mich geküßt hat unter der maurischen Mauer und ich hab gedacht na schön er so gut wie jeder andere und hab ihn mit den Augen gebeten er soll doch noch mal fragen ja und dann hat er mich gefragt ob ich will ja sag ja meine Bergblume ...", oder sei es Heines "Als sie mich umschlang mit zärtlichem Pressen, Da ist meine Seele gen Himmel geflogen! Ich ließ sie fliegen, und hab unterdessen Den Nektar von ihren Lippen gesogen".
Gerade in surrealistischen Gedichten lassen Metaphern den Raum, der für die individuelle Interpretation der Liebe nicht verzichtbar ist, etwa bei Breton: "Wenn der Vorhang unsichtbar gelüftet wird Geraten alle Blumen in Aufruhr". Als weiteres Beispiel adäquaten Umgangs mit der flüchtigen Thematik sei der magische Realismus genannt: "´Schön´, sagte er, ´hier bin ich.´ Er hatte seine Wäschetasche mitgebracht, um dazubleiben, und eine weitere gleiche Tasche mit den von ihr empfangenen, fast zweitausend Briefen. Sie waren nach dem Datum geordnet, in Bündeln, mit bunten Bändern umwickelt, und alle ungeöffnet." (Gabriel García Márquez, Chronik eines angekündigten Todes) Literatur schafft es, konkret zu sein und dennoch den Zauber, der manchmal zwischen Menschen aufscheint, nicht zu verjagen.
Bleibt noch die Frage nach dem Sinn. Der Sinn wird außerhalb des eigenen Lebensumfeldes gesucht - geradezu im Jenseits. Hier gibt es eine Analogie zwischen Linken und Religion, die beide jenseits des Bestehenden nach der besseren Welt suchen. Der Unterschied ist jedoch bedeutend. Linke möchten die vorgefundenen Zustände ändern und weisen gleichzeitig die Vorstellung des vorgegebenen übergeordneten Prinzips zurück. Beispielsweise ist die Krise der Arbeitsgesellschaft nicht mit Sinnsuche zu beheben, sondern in der revolutionären Zuspitzung einer Epoche. Das Befreiende des Verlustes von Identität und Sinn steht am Beginn des Neuen. Sinnsuche hingegen ist restaurativ. Das Sinn-Defizit kann nicht durch irgendwelchen Sinn nachgefüllt werden. Die Sinnfrage und die Offenlegung weiterer Defizite in der kapitalistischen Welt (und linken Milieus) ist ein neuralgischer Punkt, von dem aus der Weg in einerseits Vernunfthuberei oder andererseits Esoterik führt.
Esoterik ist kein Ersatz zur Vernunft, sondern nicht mal Vernunft. Trotzdem reicht Vernunft nicht aus. Ist Wahrheit doch vereinbar damit, "von den Tatsachen abzugehen, die doch bei der Wahrnehmung schon durch die herrschenden Usancen in Wissenschaft, Geschäft und Politik klischeemäßig zugerichtet sind (...), den Kunst, Literatur und Philosophie heute genügen sollen".[6] So materialisiert sich transzendierte Metaphysik nicht im Bild des "hygienischen Fabrikraums", in dem, wenn überhaupt, "Metaphysik stumpfsinnig liquidiert" ist, um wieder "im gesellschaftlichen Ganzen selbst zur Metaphysik [zu] werden, zum ideologischen Vorhang". (ebd.)
Die bürgerliche Esoterik-Kritik spaltet Esoterik von ihrer materiellen Grundlage ab und setzt ihr die Vernunft entgegen. Die Bedürfnisse nach Trost oder Magie zu verspotten, trägt aber nicht weit. Daß Steine, Sternkräfte, Pflanzen den Horizont von Menschen bestimmen, sollte vielmehr Anlaß sein, über das Ausmaß der erlittenen Verachtung zu sinnen, das Projektionen erträglicher macht als die reale soziale, psychologische, kulturelle Welt. Das Verständnis vom immanenten Sinn solcher Spiritualität hilft weiter als das bürgerliche Mantra auf die Vernunft - mit dem Ziel, beide zu überwinden.
Alle oben genannten Denkweisen suchen nach Zusammenhängen. In der Esoterik wird diese Suche, gerade durch ihren immateriellen Ansatz, als eine ihrer Stärken angesehen. Ein Mythos, wie sich gezeigt hat. Bleibt noch die Idee der "Ganzheitlichkeit", welcher die materialistische Rede der "Totalität" entgegensteht. Ganzheitlichkeit ist eine Karikatur des Willens, Gesellschaft in ihrer Totalität zu begreifen. Die reduzierte Vorstellung von Gesellschaft in den Kategorien von Natur, Gemeinschaft und vorausgesetztem Wesen glaubt nicht weniger als das ganze Universum zu begreifen. Je komplexer die Gesellschaft, desto stärker offensichtlich der Glaube, sie im Blick zurück oder im Wald erklären zu können. Dabei gelten "natur- oder schöpfungsgemäße" Differenzen wie Mann/Frau, Rasse & Klasse als vorausgesetzt. Biologismus und andere Determinismen werden als harmonische Ordnung der Dinge angesehen. Ganzheitlichkeit will das bestehende Lügengebäude zusammenhalten und harmonisieren - Materialismus will immerhin das Gegenteil.
[1] ...weil "der philosophische Idealismus seiner sozialen Funktion nach meistens die Interessen herrschender Ausbeuterklassen in abstrakt-theoretischer Form ausdrückte" (was die Staatssozialisten allerdings auch materialistisch schafften). Vgl. Kleines Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, Berlin (Ost) 1974
[2] Die neue Linke versuchte demgegenüber den Materialismus zu rekonstruieren. W.F. Haug etwa folgte Gramscis Marx-Lesart, die sich gegen ein reines Innenwelt-Außenwelt-Ableitungsschema im Materialismus wendet; vgl. Haug, Wolfgang Fritz: Historischer Materialismus und Philosophie der Praxis, das argument 236/00, S.390
[3] Bruhn, Joachim: Karl Marx und der Materialismus, Bahamas 33/02
[4] Moser, Tilmann: Von der Gottesvergiftung zum erträglichen Gott, Dr. med. Mabuse 139/02
[5] Fromm, Erich: Ihr werdet sein wie Gott, Hamburg 1980, S.19
[6] Horkheimer, Max, Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1971, S. 3f.
Winfried Rust ist Mitarbeiter im iz3w.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 266 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.
https://sopos.org/aufsaetze/3e4d42a05ef58/1.phtml
sopos 2/2003