von Aras Fatah
Der staatsbürgerliche Status wurde praktisch durch Parteimitgliedschaft ersetzt, die zugleich den Nachweis des individuellen Patriotismus lieferte.
Im postkolonialen Irak herrscht seit der Machtübernahme der Ba'thpartei[1] im Jahr 1968 ein Ein-Parteien-Regime. Deren Führungsrolle in Gesellschaft und Staat wurde im Gesetz Nr. 142 von 1974 noch zementiert, so dass im weiteren jegliche Existenz anderer Parteien im Irak ausgeschlossen war. Der Ba'th-Partei gelang es aber erst, sich endgültig im Staatsapparat zu etablieren, als sie sich auf ethnisch-konfessionelle (arabisch-sunnitische) und später auf klientel-kommunale (verwandtschaftlich-takritische)[2] Bindungen stützen konnte. Durch die gegenseitige Verschränkung von Staat und Partei mit dem charismatischen Führer Saddam Hussein als Kristallisationspunkt entstand ein extrem personenzentriertes System. Die totale Konzentration der Macht in den Händen der Partei und ihres Führers, die maßlose Anwendung der staatlich legitimierten Gewalt und die Erzeugung von Furcht führten ab Ende der 70er Jahre zur weiteren Konsolidierung der Ba'th-Herrschaft.
Der Ba'thismus versprach die Schöpfung einer Gemeinschaft, die apolitisch, atribalistisch und akonfessionell geformt ist. Die so beschaffene moderne Nation konnte aber erst durch die Vereinheitlichung des Volks mit der Partei erreicht werden. Die bislang existierende irakische Gesellschaft, die durch die Verschiedenheit ethnischer, religiöser und ideologischer Parteien und Gruppen gekennzeichnet war, sollte der Vergangenheit angehören. Das Ziel der Partei war wie bei allen totalitären Systemen, "alle Menschen in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit so zu organisieren, als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellten". (Hannah Arendt) Damit verabschiedete sich die irakische Gesellschaft von der Autonomie sowohl des Individuums als auch der lokalen, ethnischen und religiösen gesellschaftlichen Bezüge. Der staatsbürgerliche Status wurde praktisch durch Parteimitgliedschaft ersetzt, die zugleich den Nachweis des individuellen Patriotismus lieferte.
Alle sozialen oder ethnischen Konflikte, die die irakische Gesellschaft vor 1968 zerrütteten, wurden in der Ära des Ba'thismus in eine einzige Konfliktform umgewandelt, nämlich in den Konflikt zwischen der Nation und ihren Feinden. Der Ba'thismus ist damit eine Herrschaft, die sich zu ihrer Verteidigung gegen Liberalismus, Pluralismus oder kommunistische Ideen gleichermaßen wenden muss. Der Staat kann seine Pflichten nur dann erfüllen, wenn er Legislative, Exekutive und Judikative in sich vereint und damit den nationalen Willen ausführt.
Frantz Fanon stellte in den "Verdammten dieser Erde" die These auf, dass es in postkolonialen Staaten zur Entwicklung einer "Schmalspur des Faschismus" kommen kann. Tatsächlich weist der Ba'thismus in seiner totalitären Herrschaftspraxis zwar phänomenologische Ähnlichkeiten mit dem europäischen Faschismus auf: Einparteienherrschaft, Scheinwahlen, staatliches Propagandamonopol, Geheimpolizei, Verfolgung und Vernichtung der politischen Opposition, Vorherrschaft militärischer Organisationsformen in Staat und Gesellschaft sowie Ideologisierung der Armee. Er ist aber aus völlig anderen gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen und aus einem anderen historischen Kontext erwachsen. So wie die Ursachen des europäischen Faschismus in der kapitalistisch geprägten Moderne zu suchen sind, so ist das Phänomen des Ba'thismus ein historisches Resultat der in der postkolonialen Phase entstandenen staatlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen im arabischen Raum. Der panarabische Nationalismus nahm darin als Kohäsionskraft eine wichtige Rolle ein. Als arabisch-sozialistisches Ein-Parteien-System hatte das Ba'thismuskonzept bei seiner totalen Kontrolle über den Staat aber in wachsendem Maße nur noch die Sicherung staatlicher Herrschaft im Sinn.
Aus all diesen Gründen ist die Geschichte der Opposition im Irak eine der Unterdrückung, Verfolgung und Liquidierung von anders Denkenden und Seienden. Abgesehen von den kurdischen Parteien im Norden und den schiitischen Gruppen im Süden befinden sich die irakischen Oppositionsgruppen daher hauptsächlich im Exil. Zwar wurde das Regime immer wieder aus den unzugänglichen kurdischen Gebirgen und den Sumpfgebieten des Südens angegriffen, konnte jedoch nicht wirklich gefährdet werden. Denn die schiitischen und kurdischen Oppositionsparteien konnten keine gemeinsamen Handlungsformen entwickeln. Die Herrschaft blieb somit im sunnitisch geprägten Zentrum.
Schon seit der Gründung des irakischen Staats im Jahr 1921 bestimmte die Angst um die Einheit des Landes die politischen Geschehnisse. Das Militär und die nationalistischen und panarabischen Regimes unterdrückten jegliches partikulares Interesse z. B. der Kurden und Schiiten als "Separatismus" oder "fremdgesteuert". Doch dieses Beharren auf der Einheit der Nation ist nicht nur typisch für die irakische Politik inklusive des Ba'thismus, sondern zeichnet auch die regionale und internationale Politik gegenüber dem Irak nach dem Zweiten Golfkrieg aus. Die stillschweigende Billigung der brutalen Niederschlagung des spontanen Volksaufstandes der Schiiten und Kurden im Jahr 1991 wurde von den Alliierten damit begründet, dass sie das Auseinanderfallen des Iraks sowie eine Machtausweitung der Schiiten und damit die Verstärkung des iranischen Einflusses fürchteten.
Doch der Volksaufstand 1991 war zumindest in der Anfangsphase weder vom Iran noch von schiitischen Oppositionellen im iranischen Exil organisiert worden. Und auch die Nicht-Anerkennung des regionalen Parlaments in der staatsfreien Zone in Irakisch-Kurdistan seitens der internationalen Gemeinschaft ist kaum mit dem Prinzip der "Nichteinmischung" zu begründen. Die Alliierten haben vielmehr die Demokratiebestrebungen in diesem zeitweilig befreiten Teil des Ba'th-Staats nicht für prioritär erachtet. Die Stärke des Regimes ist daher nicht nur mit der Schwäche der Opposition zu erklären. Zehn Jahre Irakpolitik seit dem II. Golfkrieg haben gezeigt, dass weder die internationalen noch die regionalen Mächte ein großes Interesse an einem Demokratisierungsprozess im Irak hatten. Allenfalls hoffte man auf eine "Palast-Revolution", derer es in der irakischen Geschichte zahllose gab.
Entscheidend aber ist, wie im Irak ein demokratischer Weg eingeschlagen werden kann. Diese Frage schließt aus, dass erneut das Militär (und sei es nur ein Teil von ihm) oder ein anderer Träger von totalitären Ideologien das Schicksal des Landes bestimmen darf. Denn sie betrachten die Vielfältigkeit des Landes als Gefahr, statt sie endlich als Reichtum zu begreifen. Aber das ist eine Prüfung, die auch die irakische Opposition noch zu bestehen hat.
[1] Im Zentrum des panarabischen Nationalismus steht das Konzept des Ba'thismus (= Wiedergeburt), das vom syrischen Intellektuellen Michel A`flaq entwickelt wurde. Grundideen des Ba'thismus sind die "Wiedergeburt einer panarabischen Nation" und die "Reinigung der korrumpierten arabischen Seele". Die Ba'th-Partei ergriff 1963 durch einen Staatsstreich in Bagdad und kurz darauf in Damaskus die Macht. Aufgrund politischer und ideologischer Differenzen innerhalb der Regierung entstand jedoch sofort ein heftiger Machtkampf, durch den die Ba'th-Partei im Irak nicht länger als ein Jahr regieren konnte. In Syrien blieb die Partei trotz interner Auseinandersetzungen an der Regierung. Im Irak gelang es der Ba'th-Partei erst durch einen erneuten Staatsstreich im Jahr 1968, wieder an die Macht zu kommen.
[2] Takrit ist der Geburtsort von Saddam Hussein.
Aras Fatah ist Co-Herausgeber von: Saddam Husseins letztes Gefecht? Der lange Weg in den III. Golfkrieg (konkret-Texte 33).
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 266 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.
Trotz ihrer gemeinsamen Feindschaft zum Regime ist die irakische Opposition in ein Dutzend Gruppen zersplittert: Liberale, schiitische Islamisten, kurdische Parteien, Kommunisten, Nationalisten und Royalisten. Gegenüber der hochgerüsteten Übermacht der irakischen Armee sind sie machtlos. Abgesehen von einer kurzen Phase nach dem II. Golfkrieg, als ein gemeinsamer Konsens über die Zukunft des irakischen Staats nach Saddam gefunden wurde und die in der Gründung des Irakischen Nationalkongresses (INC) gipfelte, besteht innerhalb der irakischen Opposition kein gemeinsamer Nenner.
Der INC wurde 1992 in der befreiten kurdischen Stadt Salah al-Din von mehreren Parteien und Einzelpersonen aus Politik und Wissenschaft gegründet. Sein Ziel ist die Gründung eines demokratischen und föderativen Staats und die Schaffung eines Rechtsstaats mit garantierter Gewaltenteilung. Während der Präsidentschaft von Bill Clinton war der INC von den USA als Dachverband der irakischen Oppositionsgruppen vorgesehen. In den letzten Jahren wurde er mit Skepsis betrachtet, steht aber offenbar als Sammlung der irakischen Oppositionsgruppen noch immer im Zentrum strategischer Planungen der USA. Der Chef des INC Chalabi, der aus einer schiitischen Bankiers-Familie stammt, pflegt gute Kontakte mit dem US-Kongress und dem Pentagon.
Innerhalb des Irak bildet der SCIRI die wichtigste Oppositionsgruppierung gegen Saddam Hussein. Die Organisation vertritt die schiitische Mehrheit des Landes. Das militärische Hauptquartier befindet sich im Iran, und auch das geistliche Oberhaupt, Mohammed Baker al-Hakim, lebt in Teheran. Da der SCIRI die Unterstützung des Iran genießt, gilt es als unwahrscheinlich, dass er sich ohne die Zustimmung der iranischen Regierung an einem von den USA geplanten Umsturz in Bagdad beteiligen würde. Obwohl der SCIRI sich in der letzten Zeit nicht gegen eine Zusammenarbeit mit den USA sperrt, lehnt er jedoch eine bedingungslose Beteiligung an einem möglichen US-Militärschlag ab.
Die seit 1991 bestehende Staatsfreie Zone in Irakisch-Kurdistan wird hauptsächlich von der Patriotischen Union Kurdistans (von Dschalal Talabanis) und der Kurdischen Demokratischen Partei (von Massud Barsani) kontrolliert. Nach einigen innerkurdischen Kämpfen haben PUK und KDP einen Konsens gefunden und damit eine relative politische Stabilität erreicht. Da die Kurden seit 1991 im Nordirak den Schutz durch die nördliche Flugverbotzone genießen, meiden sie eine Gefährdung ihres Status durch einen Krieg gegen Saddam Hussein. Beide Parteien haben erklärt, sie würden sich an einem Sturz Saddams nur dann beteiligen, wenn sie Garantien bekämen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Klarheit darüber, wer Saddam ersetzen soll, und ob ein demokratischer und föderativer Staat gegründet wird.
Die älteste Partei des Landes ist unter der Ba'th-Herrschaft zu einer unbedeutenden Gruppe geschrumpft. Die ICP bildet gemeinsam mit der islamistischen Dawa-Partei den "Anti-Kriegs-Flügel" innerhalb der irakischen Opposition, der Verhandlungen mit der US-Regierung ablehnt.
Der Iraqi National Accord mit Sitz in Jordanien wurde 1990 gegründet. Er besteht aus ehemaligen Mitgliedern von Armee und Sicherheitskräften. Ziel der Organisation ist es, weite Teile der irakischen Armee für einen Umsturz in Zusammenarbeit mit den USA zu gewinnen.
https://sopos.org/aufsaetze/3e29b80024036/1.phtml
sopos 1/2003