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Das geistige Erbe der Konservativen

Zum Begriff der "Konservativen Revolution"

von Gregor Kritidis (sopos)



Die "Konservative Revolution" stellte nur eine Variante der Gegenrevolution des Nationalsozialismus dar, keine Alternative zu ihm.

Der Begriff "Konservative Revolution", als Sammelbezeichnung für das Spektrum der politischen Rechten zwischen der DNVP und NSDAP, von Hugo von Hofmannsthal eingeführt und von Armin Mohler[1] nach dem Krieg weiterverbreitet, stellt eine "semantische Absurdität"[2] dar. Mit der historischen Strömung des Konservatismus hatten die "konservativen Revolutionäre" nichts gemein. Als Konservatismus wurde ursprünglich der politische Kampf des Adels gegen den Liberalismus des aufsteigenden Bürgertums und die sich herausbildende bürgerliche Gesellschaft bezeichnet. Den Bezugspunkt der Konservativen bildeten die feudalen Strukturen einer agrarisch dominierten Wirtschaft.[3] In der Weimarer Republik sammelten sich die in dieser Tradition stehenden Kräfte - besonders die ostelbischen Großagrarier - in der DNVP. Die Restauration der Monarchie bildete ein wichtiges Element ihrer Programmatik.

Die "Konservative Revolution" war hingegen "eine Erscheinungsform eigener Art".[4] Als "konservative Revolutionäre" faßte Armin Mohler fünf Gruppen der politischen Rechten der Weimarer Republik zusammen: die "Völkischen", die "Jungkonservativen", die "Nationalrevolutionäre", die "Bündischen" und die "Landvolkbewegung".[5] Ihre Protagonisten gehörten zur Bildungselite des Kaiserreiches und stammten aus dem bürgerlichen Spektrum. Zu ihnen gehörten Selbständige, absteigendes Kleinbürgertum, Angestellte sowie Angehörige des Bildungssystems und der staatlichen Verwaltungen.[6] Die "konservativen Revolutionäre" standen in der spezifischen deutschen Tradition des Bildungsbürgertums, dessen gesellschaftliche Stellung durch die wirtschaftliche Entwicklung nach der Gründung des Deutschen Reiches zunehmend brüchig geworden war. Der traditionelle bildungsbürgerliche Fächerkanon wurde gegenüber den Anforderungen der Industriegesellschaft dysfunktional. Diese "kulturelle Enteignung"[7], die der materiellen Enteignung in der Inflationszeit vorausging, führte zu einer Radikalisierung besonders der bürgerlichen Jugend vor dem Ersten Weltkrieg. Dieser Radikalisierungsprozeß wurde durch Krieg, Revolution und Bürgerkrieg beschleunigt. Der Weimarer Republik standen die Vertreter der "Konservativen Revolution" mit offener Feindschaft gegenüber.

2. Entwicklung und Krise des Bildungsbürgertums in Deutschland

Die Krise des Bildungsbürgertums Ende des 19. Jahrhunderts wurzelte in seiner besonderen Rolle, die es in Deutschland seit der Aufklärung gespielt hatte. Unter den Bedingungen rückständiger sozialer und politischer Verhältnisse kam es unter dem Eindruck der französischen Revolution zu einem geistigen Aufbruch der bürgerlichen Intelligenz. Die verzögerte Herausbildung eines modernen Teritorialstaates führte zum Ideal der "Kulturnation". "Sprache, Literatur und Kunst dienen als Berechtigungstitel für die erhoffte nationale Erneuerung. Als ‘Kultur’ zusammengefaßt, erlangen sie in Deutschland gerade infolge der nicht vorhandenen staatlichen Einigung eine hohe kompensatorische Bedeutung".[8]

Das Bürgertum als politisch-ökonomische Klasse blieb zunächst schwach und fragmentiert. Emanzipation wurde daher nicht klassenpolitisch, sondern individuell gedacht: Bildung und Kultur sollten die Bürger befähigen, die bürgerliche Herrschaft zu antizipieren. Die Reformbestrebungen der bürgerlichen Intelligenz fielen zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit einer Reformbereitschaft der feudalen Staaten zusammen, die in den napoleonischen Kriegen die Überlegenheit Frankreichs zu spüren bekommen hatten.[9] Ohne das Ziel der bürgerlichen Freiheiten aufzugeben, orientierte man sich auf den reformbereiten Staat. Den feudalen Verhätnissen wurde von Seiten des Bildungsbürgertums "das Ideal des schöpferischen Individuums"[10] entgegengestellt. "’Bildung’ und ‘Kultur’ dienen dem Liberalismus als Fluchtpunkte vor den Restriktionen des Obrigkeitsstaates, aber auch als semantische Vollmacht für Forderungen ihm gegenüber".[11] Institutionellen Rückhalt verschaffte sich das Bildungsbürgertum in der Humboldtschen Reformuniversität, die einerseits einen emanzipatorischen Freiraum ermöglichte, andererseits auf den Staat als ihren Garanten angewiesen blieb. Der Obrigkeitsstaat wurde nicht im Sinne politischer Teilhabeansprüche kritisiert, sondern einem "kulturstaatlichen Appell"[12] unterzogen.

Die politische und ökonomische Praxis als Gegenstand der Reflexion und des kritischen Eingriffs trat dabei in den Hintergrund. Der Begriff der Zivilisation, der die politische und ökonomische Entwicklung einschloß, verlor gegenüber dem der Kultur und der Bildung an Bedeutung. "Innerhalb weniger Jahre wertet die deutsche Intelligenz mit dem Ideal einer zweckfreien geistigen ‘Bildung’ die Ökonomie und Nützlichkeit, die Berufserziehung und die Technik ab".[13]

Während die bildungsbürgerlichen Ideale in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ihrem individuellen Leistungsethos zur Mobilisierung produktiver Kräfte beitrugen, gerieten sie mit der zunehmenden Industrialisierung in Widerspruch zu den gesellschaftlichen Anforderungen. Der sich entwickelnde Kapitalismus führte zu einer Entwertung des bildungsbürgerlichen Wissens.[14] Praktischen Ausdruck bekam dieser Prozeß durch die staatlicherseits betriebene Aufwertung der technisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung. Die Reaktion auf diese Abwertung der Stellung des Bildungsbürgertums während des Kaiserreiches schlug sich in der Kritik an der Arbeitsteilung, am Leistungswissen und an politischen Partizipationswünschen nieder. Im Namen der Bildung und der Kultur wurde die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft kritisiert.[15] Dieser Kulturpessimismus führte zu einer weiteren Desorientierung des Bildungsbürgertums und trug nicht zum Verständnis der Dynamik der industriellen Gesellschaft bei. "Die pessimistische Kulturkritik bringt ein kollektives antimodernes Ressentiment zum Ausdruck".[16] Die Unfähigkeit, die eigene gesellschaftliche Situation zu reflektieren, mündete zunehmend in nationalistisch-chauvinistischem Fahrwasser. Der Nationalismus, der vor der Reichseinigung teilweise eine fortschrittliche Funktion erfüllt hatte, wandelte sich im Kaiserreich zu einer reaktionären Integrationsideologie. Das vormals fortschrittliche Bildungsbürgertum, beeindruckt von den militärischen Erfolgen der von Adeligen geführten preußisch-deutschen Armeen, wandte sich nach rechts.[17]

Die Orientierung auf den autoritären, imperialistischen Obrigkeitsstaat konnte die Fragmentierung der bürgerlichen Klasse insgesamt und die Fragilität der Existenz des Bildungsbürgertums im besonderen allerdings nur oberflächlich überdecken.[18] Neben der pessimistischen Kulturkritik brachte die bürgerliche Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg das Unbehagen an der wilhelminischen Gesellschaft zum Ausdruck. Ihr "Kult der Natur, der eigenen Gruppe", ihre "privatistische Spontaneität" war romantisch- spekulativ, "Flucht aus der Welt statt Erkenntnis ihrer Zusammenhänge".[19] Aus dieser Jugendbewegung ging ein großer Teil der Protagonisten der "Konservativen Revolution" hervor.[20] Ihren Vertretern erschien die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg "wie eines der seit damals die deutschen Städte zierenden Häuser im ‘Gründerstil’: hinter der pompösen Stuckfassade voll aufgeklebter Embleme sinnerfüllterer Zeiten ist längst die Wirtschaft zum Schicksal geworden, und zwischen Zimmerpalme und dem handkolorierten Niederwalddenkmal macht sich der bösartige Dämon der Langeweile breit".[21]

3. Krieg und Revolution als Flucht und Desillusionierung

Der Erste Weltkrieg, der als Kulturkrieg gegen den Materialismus, Utilitarismus und die Dekandenz Englands und Frankreichs stilisiert wurde, verband sich mit Hoffnungen, die Position des Bildungsbürgertums wieder befestigen zu können. "Mit der Verschränkung von imperialistischer Politik und ‘deutscher Kultur’ können die Professoren, die Generale des Bildungsbürgertums, wieder kurzfristig zu Meinungsführern werden".[22] Der Kriegsausbruch wird mehrheitlich als Sinn- und Einheitsstiftende Herausforderung empfunden, "welche alle Schranken von Parteien, Klassen, Konfessionen, Landschaften zusammenschmelzt und jene angestrebte Einheit und Ganzheit sichtbar werden läßt, die der wilhelminische Staat nur vortäuschte".[23] Der Krieg wird zu einem "Fegefeuer, das alle Halbheiten und Fälschungen des Wilhelminismus ausglühen soll".[24]

Die Umdeutung der militärischen Niederlage 1918, als durch den "Dolchstoß" des inneren Feindes herbeigeführt, kann die vorwärtsstrebenden "konservativ-revolutionären" Kräfte nicht zufriedenstellen.[25] Zunächst beteiligen sie sich - vielfach als Freikorps-Soldaten - an der militärischen Niederwerfung der revolutionären Arbeiterschaft und am Versuch, die Ergebnisse der Novemberrevolution gewaltsam zu revidieren. Die Kluft zu den konservativen Kräften des Kaiserreiches, die sich nun u.a. in der DNVP organisieren, wird jedoch größer. Die Kriegserlebnisse haben die ehemals jugendbewegten Frontkämpfer weiter von den bürgerlichen Normen der wilhelminischen Ära entfernt. Die Abgrenzung von den Alt-Konservativen erfolgt dann vor allem nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch. "Dieser Putsch zeigt, daß der Staat des Vorkriegs, bei seinem Zusammenbruch längst von innen her morsch geworden, nicht wiederhergestellt werden kann. Damit ist auch über die Monarchie das Urteil gesprochen. Die am Putsch beteiligten konservativrevolutionären Gruppen ziehen von nun an eine scharfe Grenze zwischen sich und den vorwiegend monarchisch gesinnten Alt-Konservativen".[26] Da die Restauration der alten Verhältnisse durch militärische Gewalt am Widerstand der Arbeiterschaft scheiterte, sahen sich die gegenrevolutionären Kräfte gezwungen, sich auf den Boden der neuen Verhältnisse zu stellen und den Bedingungen der industriellen Massengesellschaft, die vom Konservatismus vor dem Krieg weitgehend ausgeblendet worden waren, Rechnung zu tragen. "Die konterrevolutionären Teile des Bürgertums und des Militärs hatten begriffen, daß die Beseitigung der Demokratie nur dann erfolgversprechend sein konnte, wenn die Konterrevolution nicht die Form eines reaktionären Operettenputsches annahm, sondern selbst ins Gewand der Revolution stieg und eine Massenbewegung hinter sich brachte".[27] Die Übernahme und Umdeutung von Begriffen der sozialistischen Arbeiterbewegung Anfang der 20er Jahre bildete ein wichtiges Element der "Konservativen Revolution".[28] Nach Moeller van den Bruck hing die Zukunft der Nation davon ab, "ob es gelingen würde, die Arbeiterschaft zu integrieren und für den Befreiungskampf gegen die Weltbourgeoisie zu gewinnen".[29] In der Krise Ende der 20er Jahre setzten sich schließlich die Kräfte durch, die mit ihrer den sozialen und nationalen Mythos verbindenden Agitation eine breite Massenbewegung an sich binden konnten.

In der Periode von 1918 bis 1923 orientierten sich die gegenrevolutionären Kräfte neu.[30] Die "Konservative Revolution" bestand dabei aus einem Geflecht verschiedener Gruppen: "Zahlenmäßig kleine literarische Kreise, Gefolgschaften von Zeitschriften, nicht an die Öffentlichkeit tretende Elite-Zusammenschlüsse, bewußt außerhalb des Parlamentarismus stehende und stoßkräftige Kampfbünde, geheime Orden - das sind die Organisationsformen, welche der ‘Konservativen Revolution’ angemessen sind".[31] Die NSDAP war zu diesem Zeitpunkt eine Gruppierung unter vielen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den bei Mohler genannten Gruppen und dem Nationalsozialismus war dessen nach dem Hitler-Ludendorff-Putsch eingeschlagener Kurs, sich im politischen Kampf auch der Institutionen der Republik zu bedienen.

Die "konservativen Revolutionäre" teilten - wie die übrige Weimarer Rechte auch - eine gemeinsame Frontstellung gegen die marxistische Arbeiterbewegung einerseits und das liberale parlamentarisch-demokratische System mit den sie tragenden Parteien andererseits, das sich auf Basis des Vertrages von Versailles konstituiert hatte. Gemeinsame ideologische Elemente bestanden zudem im Antirationalismus, in einer konservativ-romantischen Staatsverklärung, einem aggressiven Nationalismus und Militarismus, einem durch die Niederlage 1918 kaum gebrochenen Imperialismus, in den Entwürfen einer autoritären Eliteherrschaft und einem in unterschiedlichem Maße ausgeprägten Rassismus und Antisemitismus.[32] Die politische Rechte der Weimarer Republik war bestrebt, die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges zu revidieren. Entsprechend ausgeprägt waren antiwestliche, antiparlamentarische und autoritäre Orientierungen. Die Revision des Versailler Vertrages schien jedoch nur möglich, wenn mit der Arbeiterbewegung und den die Republik tragenden bürgerlichen Parteien der innere Feind besiegt würde.

Die "Konservative Revolution" knüpfte innerhalb dieses Spektrums ideologisch an die Tradition der bürgerlichen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg an. Die verschiedenen Gruppen zeichneten sich durch ein nicht-christliches, zyklisches, mit apokalyptischen Vorstellungen verbundes Weltbild der Wiederkehr, durch Ästhetizismus und Voluntarismus aus.[33] Hinzu kam eine schon in der Wandervogelbewegung anzutreffende Mentalität des Männerbündlertums und eine durch die Kriegserlebnisse bewirkte Gewaltbereitschaft.

4. Die Abgrenzung zum traditionellen Konservatismus und zum Nationalsozialismus

Im Gegensatz zu den traditionellen Konservativen im Umkreis der DNVP versuchten die Vertreter der "Konservativen Revolution", gesellschaftliche Herrschaft ideologisch neu zu begründen. Von der Industrie- und Technikfeindlichkeit der Konservativen wandte sich die jüngere Generation ab. Theoretiker wie Hans Freyer und Carl Schmitt "vertrauen allerdings nicht mehr dem alten ‘rechtsstaatlichen’ Obrigkeitsstaat, sondern sie setzen auf ein zukünftiges Konzept totalitärer Vergesellschaftung; ein Konzept, das die Technik bejaht, die Freund-Feind-Unterscheidung zum Kriterium des Politischen macht, das mit der Mobilisierung der Massen rechnet, sie aber dem allgewaltigen Staat und dem Führer als Gefolgschaft unterstellt".[34] Ernst Jünger propagierte die Beschleunigung des technischen Fortschritts, der in einen neuen Gesellschaftstypus umschlagen sollte.
Die Totalisierung der Technik ermögliche eine totale Herrschaft, die wiederum imstande sei, die Technik zu beherrschen und als bloßes Instrument zu betrachten.[35] Franz Schauwecker brachte diese Position wie folgt auf den Punkt: "Denn diese Zeit ist nur wert, vernichtet zu werden. Aber um sie zu vernichten, muß man sie zuerst genau kennen. Sonst erliegt man ihr (...). Man mußte die Technik völlig sich unterwerfen, indem man sie bis ins letzte durchformte. Dann war sie kein Problem mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit, über die man nicht mehr staunte. Die Bewunderung des Apparates - das war das Gefährliche. Er verdiente keine Bewunderung, er mußte nur benutzt werden. Mehr nicht".[36]

Die Abgrenzung zum Nationalsozialismus basierte weniger auf einer inhaltlichen Grenzziehung, sondern auf Vorbehalten gegenüber der "Radauhaftigkeit" und dem "destruktiven Radikalismus" der Nationalsozialisten.[37] "Oft sind es Abstoßungen durch den ‘Stil’: die nationalsozialistischen Methoden mit ihrer oft unbedenklichen Demagogie stoßen ab oder das Preisgeben der ‘Idee’ zugunsten ‘realpolitischer’ Erfolge".[38]Die "konservativen Revolutionäre" setzten sich in bildungsbürgerlicher Tradition von der Massenbewegung der Nazis ab, ohne ihren Anspruch auf gesellschaftliche Herrschaft damit aufzugeben. Ihr Nationalismus begründete sich - mit Ausnahme der "Völkischen" - weniger auf rassistische und antisemitische Ideologeme, sondern auf eine Vorstellung der Nation als Glaubens-, Schicksals- und Willensgemeinschaft. Das Nationalgefühl als Gemeinschaftglauben basiere, so Carl Schmitt, auf einem Mythos im sorelschen Sinne. Der nationale Mythos erweise sich dabei aber stärker als der Klassenmythos Sorels.[39] Das Blut, betonte Ernst Jünger im Gegensatz zu den Vertretern eines rassistischen Biologismus, sei für den Nationalismus kein vorwiegend biologischer, "sondern ein vorwiegend metaphysischer Begriff".[40] Der Antisemitismus der "konservativen Revolution" war daher auch eher kulturell begründet[41], z.B. in der Charakterisierung des Liberalismus als "jüdisch". Aber auch hier gab es fließende Übergänge zu rassistischen Argumentationen. Die "Konservative Revolution" war insgesamt, so Stefan Breuer, "mit rassistischen Denkfiguren kontaminiert".[42]

5. Autoritäre Herrschaft und imperialistische Expansion

Die Protagonisten der "Konservativen Revolution" standen dem parlamentarischen System der Weimarer Republik in schroffer Feindschaft gegenüber. In ihrer Vorstellung galt es, im Namen der Nation den bestehenden Staat zu vernichten. Ihnen schwebte ein Gesellschaftsmodell vor, das hierarchisch gegliedert sein sollte. "Das heißt, daß nicht alle Menschen einmal gleich waren oder gleich sein werden, sondern daß der Zustand der Ungleichheit, den wir vorfinden, Ausgangspunkt für jeden Staatsaufbau sein muß".[43] Es wurde sich dabei in unterschiedlicher Weise an den Reichsgedanken angelehnt, womit das mittelalterliche Reich oder das Preußen Friedrich des II. gemeint sein konnte.[44] Fluchtpunkt aller Herrschaftsvorstellungen bildete ein starker, autoritärer Staat, in dem ein charismatischer Führer an der Spitze stehen und qua Akklamation die Nation repräsentieren und führen sollte.[45] Über die divergierenden Einzelinteressen hinweg sollte das "Volk" dynamisch zu einer Einheit zusammengeschweißt werden. So schwärmte Hans Freyer von der "’raumschaffenden, zusammenhaltenden, vorauseilenden Tat’, durch welche der Führer das Volk vereinheitliche und zum Reich bereit mache".[46] Träger des neuen Staates sollte eine Wissens- und Leistungselite sein, die nach Jünger über "Können, Weitblick und Tatsachenkenntnis verfügte und es verstand, die modernen Apparaturen in Wirtschaft und Technik mit einem Maximum an Effizienz zu nutzen".[47] Dem autoritären, hierarchischen und diktatorischen Staat sollte das Individuum vollständig untergeordnet werden, aber es sollte immerhin ein Staat sein, "der all das sein würde, was das NS-Regime nicht war: Einheit, Organisation, Disziplin, ein Gefüge mit festen Zuständigkeiten und damit auch einer gewissen Verantwortlichkeit".[48]

Der Formierung im Inneren korrespondierte der Wunsch nach imperialistischer Expansion. Die Vorstellungen reichten dabei von einer Hegemonie im mittel- und südosteuropäischen Raum bis zur Weltherrschaft.[49] Eine Orientierung auf Erwerbungen in Übersee im Sinne der alten Kolonialpolitik wurden dagegen kaum ins Auge gefaßt.

6. Die praktischen politischen Ambitionen der "konservativen Revolutionäre"

Mit dem Ende der wirtschaftlichen Aufschwungphase Ende der 20er Jahre entwickelten die Vertreter des "Intellektuellen-Nationalismus"[50] eine rege publizistische Tätigkeit. Im Gegensatz zur NSDAP gelang es ihnen aber nicht, eine Massenbewegung hinter sich zu sammeln. Die "Konservative Revolution" wirkte aber in die bürgerliche Öffentlichkeit hinein und beeinflußte die Organisationen der politischen Rechten, etwa den Stahlhelm oder die DNVP, die Edgar Jung vorübergehend als "staatspolitische Abteilung der nationalen Revolution"[51] bezeichnete.

Den ambitioniertesten Versuch, das eigene politische Gewicht zu erhöhen, unternahm der Kreis um die Zeitschrift die Tat, die Anfang der 30er Jahre eine erhebliche publizistische Wirkung entfaltete. Mit ihrer Agitation gegen die "kapitalistische Restgruppe"[52] und die Großagrarier versuchte der Tat-Kreis, eine auf dem Strasser-Flügel der NSDAP, dem Reichswehrgeneral von Schleicher und den Gewerkschaften basierende antikapitalistische "dritte Front" aufzubauen.[53] Man hoffte darauf, daß die KPD nationalistischer und die NSDAP sozialistischer werde. Mit dem Sturz des Kabinetts von Schleichers wurden diese Bestrebungen jedoch hinfällig.

Das Verhältnis zur NSDAP blieb bei den "konservativen Revolutionären" ambivalent. Ein Teil lehnte die Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten ab, ein anderer trat wegen der gemeinsamen Ablehnung der Republik für ein Bündnis mit ihnen ein.[54] Die Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde von den Protagonisten der "Konservativen Revolution" zunächst teils begrüßt, teils mit Skepsis aufgenommen.[55] Gegen die Zerstörung der liberalen parlamentarischen Verfassung hatten sie ihren eigenen Zielsetzungen gemäß nichts einzuwenden. Auch gegen die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen wurde von ihrer Seite kein Widerstand entwickelt; im Gegenteil, vom Tat-Kreis etwa wurde Terror des neuen Regimes gegen Juden und Sozialisten positiv besprochen oder verharmlost.[56] Von denen, die nicht im neuen Regime Karriere machten, wurde nur verhalten und graduell Kritik geübt. Insofern stellte die "Konservative Revolution" nur eine Variante der Gegenrevolution des Nationalsozialismus dar, keine Alternative zu ihm.



Literatur

Bollenbeck, Georg, Bildung und Kultur, Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/Main und Leipzig 1994.

Breuer, Stefan, Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1993.

Buckmiller, Michael, Die existentielle Krise des Marxismus und der europäischen Arbeiterbewegung, in: Karl Korsch, Krise des Marxismus, Schriften 1928-1935, Gesammelte Schriften Bd. 5, hrsg. und eingeleitet von Michael Buckmiller, Amsterdam 1996.

Faber, Richard (Hrsg.), Konservatismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 1991.

Fritsche, Klaus, Politische Romantik und Gegenrevolution. Fluchtwege in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft: Das Beispiel des ‘Tat’-Kreises, Frankfurt/Main 1976.

Gangl, Manfred/ Raulet, Gérard (Hrsg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt/Main und New York 1994.

Mohler, Armin, Die konservative Revolution in Deutschland, Stuttgart 1950.

Müller, Hans-Harald/ Segeberg, Harro, Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, München 1995.

Theweleit, Klaus, Männerphantasien, Bd. 1, Frankfurt/Main 1977.



Anmerkungen

[1] Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland, Stuttgart 1950.

[2] Struve, W., Elites against Democracy, Princeton 1973, zitiert nach Stefan Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1993, S. 4.

[3] Breuer, a.a.O., S. 10f.

[4] Ebenda, S. 4.

[5] Mohler, a.a.O. S. 165ff. Die Eingrenzung des Begriffs auf diese fünf Gruppen bzw. der Begriff selbst ist durchaus problematisch, da eine inhaltliche Abgrenzung zu den konservativen bürgerlichen Parteien einerseits und dem Nationalsozialismus andererseits recht unscharf ist. Z. B. sind die "Völkischen" dem Nationalsozialismus wesentlich näher als den Nationalrevolutionären.

[6] Breuer, a.a.O., S. 25f.

[7] Ebenda, S. 21.

[8] Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur, Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/Main und Leipzig 1994, S. 21.

[9] Ebenda, S. 99.

[10] Ebenda, S. 113.

[11] Ebenda, S. 219.

[12] Ebenda, S. 183.

[13] Ebenda, S. 99.

[14] Ebenda, S. 232.

[15] Ebenda, S. 172.

[16] Ebenda, S. 283.

[17] Ebenda, S. 235.

[18] Breuer, a.a.O., S. 22.

[19] Klaus Fritsche, Politische Romantik und Gegenrevolution. Fluchtwege in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft: Das Beispiel des ‘Tat’-Kreises, Frankfurt/Main 1976, S. 40.

[20] Ebenda.

[21] Mohler, a.a.O., S. 36.

[22] Bollenbeck, a.a.O., S. 274.

[23] Mohler, a.a.O., S. 44f.

[24] Ebenda, S. 45.

[25] Ebenda, S. 49.

[26] Ebenda, S. 56f.

[27] Michael Buckmiller, Die existenzielle Krise des Marxismus und der europäischen Arbeiterbewegung, in: Karl Korsch, Krise des Marxismus, Schriften 1928-1935, Gesammelte Schriften Bd. 5, hrsg. und eingeleitet von Michael Buckmiller, Amsterdam 1996.

[28] Vgl. Breuer, a.a.O., S. 59ff.

[29] Ebenda, S. 188.

[30] Mohler, a.a.O., S. 51

[31] Ebenda, S. 91.

[32] Fritsche, a.a.O., S. 35f.

[33] Breuer, a.a.O., S. 5.

[34] Bollenbeck, a.a.O., S. 291.

[35] Breuer, a.a.O., S. 76. Vgl. auch Uwe-K. Ketelsen, "Nun werden nicht nur die historischen Strukturen gesprengt, sondern auch deren mythische und kultische Vorraussetzungen", zu Ernst Jüngers Die totale Mobilmachung (1930) und Der Arbeiter (1932), in: Hans-Harald Müller/ Harro Segeberg, Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, München 1995, S. 77-95.

[36] Zitiert nach Mohler, a.a.O., S. 178.

[37] Fritsche, a.a.O., S. 238.

[38] Mohler, a.a.O., S. 67.

[39] Breuer, a.a.O., S. 82.

[40] Zitiert nach Ebenda, S. 83.

[41] Vgl. Ebenda, S. 86ff.

[42] Ebenda, S. 93.

[43] Mohler, a.a.O., S. 161.

[44] Ebenda, S. 185.

[45] Breuer, a.a.O., S. 96.

[46] Ebenda, S. 97.

[47] Ebenda, S. 100.

[48] Ebenda, S. 193.

[49] Ebenda, S. 108.

[50) Ebenda, S. 115.

[51] Zitiert nach Breuer, a.a.O., S. 119.

[52] Fritsche, a.a.O., S. 269.

[53] Ebenda, S. 182.

[54] Breuer, a.a.O., S. 136.

[55] Ebenda, S. 166ff.

[56] Fritsche, a.a.O., S. 303.

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sopos 12/2002