Weltweite Zerstörung des Rechts

Eckart Spoo

Die USA haben eine unbemannte Flugmaschine entwickelt, die stundenlang unbemerkt mit eingebauter Kamera über einem Ziel kreisen kann, bevor sie es auf Knopfdruck eines Tausende Kilometer entfernten CIA-Beamten mit einer Rakete zerstört. Am 4. November haben sie damit im Jemen ein Auto angegriffen und die sechs Menschen, die darin saßen, unter ihnen einen US-Amerikaner, getötet. Hatten sie dazu ein Recht? Nein. Doch: das Recht des Stärkeren, das sie sich selber zuerkennen. Es ist das Gegenteil des geschriebenen, des vereinbarten Rechts.

Nach dem geschriebenen Recht - Grundlage der Zivilgesellschaft - hat auch und gerade ein Angeschuldigter Rechte: Er muß gehört werden, er muß sich verteidigen können. Sonst darf er nicht verurteilt, nicht seiner Freiheit und schon gar nicht seines Lebens beraubt werden. Darüber setzen sich die USA in ihrem sogenannten Anti-Terror-Krieg hinweg, weltweit. Wen sie verdächtigen, den lassen sie möglichst nicht mehr zu Wort kommen. Den ermorden sie einfach. Mit dem Recht des Stärkeren.

Vor dem Recht sind alle Menschen gleich, auch alle Völker. Die USA, die sich allen überlegen glauben, akzeptieren dieses Prinzip nicht mehr und ruinieren dadurch alle Rechtsordnungen. Präsident George Bush II., der sich herausnimmt, willkürlich jeden Staat der Welt zum Schurkenstaat zu erklären und mit der größten Militärmacht der Welt zu überfallen, um ihn den eigenen Interessen zu unterwerfen, wird damit zum Sniper. Apropos: Der Mann, der vor einigen Wochen in der Nähe von Washington zehn oder mehr Menschen erschoß, war im Irakkrieg des Präsidenten George Bush I. psychisch entgleist.

Der gegenwärtige Chef des Weißen Hauses, der sich als Richter der ganzen Welt aufspielt, Urteile nicht wegen erwiesener Schuld, sondern wegen vermuteter oder schlicht unterstellter böser Absichten verhängt und, ohne eine Berufung zuzulassen, von seinen Leuten vollstrecken läßt, ist kein einsamer Psychopath. Als Gouverneur in Texas hatte er gezeigt, wie wenig er Recht und Leben anderer achtet. Business first. Gerade deswegen erachteten ihn die hundert größten US-Konzerne für würdig, mit Spenden in nie geahnter Höhe in den Präsidentschaftswahlkampf zu ziehen. (Als er dennoch nicht gleich das Ziel erreichte - der andere Kandidat hatte eine halbe Million Stimmen mehr erhalten -, halfen befangene Richter nach. "Lausige Justiz", merkte Herta Däubler-Gmelin an.)

Die ins Gigantische gewachsenen Konzerne, nicht nur die amerikanischen, entziehen sich im Wettlauf um den Maximalprofit allen sozialen Verpflich tungen. Das sollten wir nicht beklagen. Daran müssen wir sie nur hindern. Zu diesem Zweck sind einst Gewerkschaften gegründet worden. Was tun sie heute gegen den Massenmord am irakischen Volk, dessen Pech der Ölreichtum seines Bodens ist? Was tun sie gegen die Entrechtung, die Enteignung der Armen hierzulande? Daß sich jetzt ein Bundesland - ausgerechnet das "rot-rot" regierte Berlin - vom Tarifvertragsrecht verabschieden will, um die Fondsanleger weiter bedienen zu können, fordert Protest heraus. Wir werden alle Rechte verlieren, wenn wir nicht von ihnen Gebrauch machen: vom Recht auf Information (das die Medienkonzerne beiderseits des Atlantik tagtäglich zu usurpieren versuchen), vom Versammlungsrecht (eine Million Demonstranten in Florenz waren schon eine Ermutigung), von allen Grundrechten, die zu schwer erkämpft wurden, als daß wir sie leichthin preisgeben dürften. Der Sinn aller dieser Rechte ist ein und derselbe: daß wir uns der Willkür, der Gewalt, dem Verbrechen verweigern. - Wer dem Mächtigen die Stiefel leckt, kann schnell zertreten werden. Wer ihn aber nicht mehr bedient, entzieht ihm Macht.

Erschienen in Ossietzky 23/2002