Zur normalen Fassung

Weltgesellschaft ohne Revolution?

von Marcus Hawel (sopos)



"Die Geschichte wiederholt sich nicht; doch wo etwas nicht Geschichte wurde und Geschichte nicht gemacht hat, wiederholt sie sich durchaus."
Ernst Bloch


Neue Analysen brauchen den Durchgang durch Ideologiekritik. Es wird mit dem "Empire" ein kritischer Gegenbegriff aufgeboten, der mit der "Globalisierung" ausgerechnet die Ortlosigkeit teilt.

Obwohl die undogmatische Linke in den meisten Ländern der Welt gegenüber dem real existierenden Sozialismus eine ablehnende Haltung eingenommen hatte, war sie nach dem Epochenbruch von 1989 orientierungslos geworden. Mit zunehmender Distanz zum Marxismus ging ihr das theoretische Werkzeug verloren, diese Welt angemessen zu interpretieren, so daß viele auf den gefährlichen Quatsch der bürgerlichen Apologeten à la Friedman, Fukuyama oder Huntington hereinfielen. Der Anspruch, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu verändern, wurde ohnehin der Resignation preisgegeben. Nur mühselig und erst allmählich wurden die theoretischen Begrifflichkeiten der klassischen Kapitalismuskritik und der Imperialismustheorie wieder hervorgeholt und öffentlich zu aktualisieren versucht. In den letzten Jahren ist wieder ein reges Bedürfnis nach theoretischen Analysen und Strategiediskussionen in der Linken zu bemerken.

Neue Analysen brauchen immer auch den Durchgang durch Ideologiekritik. Denn das zu analysierende Neue begegnet uns in einer versprachlichten Form, die es nicht so sehr artikuliert als in der Artikulation verhüllt. Zentral geht es heute um die "Globalisierung" des "Freihandels". Diese Ausdrücke artikulieren das Neue um den Preis, daß sie seine Ortlosigkeit oder doch Ortsindifferenz unterstellen. Wie im Folgenden gezeigt wird, sind von dieser Unterstellung noch manche "globalisierungskritischen" Reaktionen beeinträchtigt. So werden Orte - die Nationen - als Widerstandsorte gegen die "Globalisierung" aufgeboten, die in Wahrheit deren Funktionieren mittragen, wenn auch auf neue Art. Das fällt eben deshalb weniger auf, weil die "Globalisierung" gar keine Orte zu haben scheint. Und so wird mit dem "Empire" ein kritischer Gegenbegriff aufgeboten, der mit der "Globalisierung" ausgerechnet die Ortlosigkeit teilt.

Erst wenn wir die Schwäche auch dieser Reaktionen erkannt haben, können wir einen Ansatz des Widerstands gegen das, was "Globalisierung" genannt wird, erfolgversprechend formulieren.

I. Wiedergewinnung des theoretischen Werkzeugs

1. Vom "Freihandel" zur "Globalisierung"

Seit die Welt ab 1973 in eine Weltwirtschaftskrise geriet, waren die Fundamente des "Goldenen Zeitalters"[1] des Nachkriegskapitalismus unwiederbringlich zerstört. Diese Krise erfaßte die gesamte Welt, mithin auch den real existierenden Sozialismus, wenngleich das ganze Ausmaß der Krise erst nach der Auflösung der Sowjetunion samt ihrer Satellitenstaaten sowie dem Wegfall der bipolaren Weltordnung erkennbar wurde. Doch der Zusammenbruch des Realsozialismus weckte zunächst euphorische Hoffnungen. Es werde nunmehr die Menschheit zu einer Weltgesellschaft zusammenwachsen, hieß es. Eine neue Ära des Friedens und der Entwicklung wurde feierlich verkündet. Die Rede war von der alternativlosen one world des Kapitalismus. Nicht nur der Realsozialismus wurde aber damit geschichtlich annulliert, sondern mit diesem wurde auch die russische Oktoberrevolution von 1917 in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung zurückgenommen - und damit auch die Utopie einer gegenüber dem Kapitalismus besseren, einer befreiten Gesellschaft ins utopistische Niemandsland unrealistischer Träumereien verbannt. Der Sozialismus war mit dem Stigma des Scheiterns versehen, und der Marxismus war nahezu vollständig diskreditiert, weil er im Realsozialismus zur Legitimationswissenschaft korrumpiert wurde.

Es ging um das viel diskutierte Ende der Geschichte, das im Kapitalismus als der besten aller möglichen Welten erreicht worden sei. Je ignoranter man von den geschichtlichen Errungenschaften der Russischen Revolution von 1917 keine Notiz mehr nahm und die Idee einer internationalistischen und befriedeten Weltgemeinschaft, in der der Widerspruch von Kapital und Arbeit aufgehoben ist, auf den Müllhaufen der Geschichte warf, desto reibungsloser konnte die Ideologie des freien Marktes als vermeintliches Erfolgsrezept nunmehr auf der ganzen Welt sich ausbreiten. Die Ideologie der Freihandelslehre sollte die weltweite ökonomische Krise beseitigen; nicht zuletzt durch ihre Umsetzung wurde genau das ausgelöst, was man ab Mitte der 90er Jahre "Globalisierung" nennen sollte und wodurch in jenen Krisenjahrzehnten der Nationalstaat zunehmend seine Macht einbüßte.

Auch die etatistisch ausgerichteten Gewerkschaften konnten weltweit ihren Einfluß immer weniger geltend machen. Mit dem Nationalstaat stehen nunmehr in Europa sogar Sozial- und Rechtsstaat auf dem Prüfstand. Der radikale Liberale Ralf Dahrendorf sprach nüchtern vom Ende der Sozialdemokratie und prognostizierte für das 21. Jahrhundert ein autoritäres Zeitalter. Während die Apologeten des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie den vermeintlichen Sieg feierten, warnten andere vor dem "Clash of Civilisation", in dem sich der christliche und reiche Westen gegen den barbarischen und armen Rest der Welt zu behaupten habe, wenn er nicht untergehen wolle. Der antikoloniale Befreiungskampf in der Dritten Welt begann in eine ethnisierende Revolte umzuschlagen. Die mißglückte Befreiung an der Peripherie, der mit dem Untergang des real existierenden Sozialismus eine Ersatzreligion abhanden gekommen war, gab dem islamischen Fundamentalismus Auftrieb.

Der Begriff "Globalisierung" täuscht Gleichzeitigkeit der Verhältnisse vor, wo Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeit treibender Impuls der modernisierenden Dynamik ist.

Durch die politischen Transformationsprozesse, die mit dem epochemachenden Jahr 1989 zusammenhängen, wurde ein qualitativer Wandel ausgelöst; er ist aber mit dem Wort "Globalisierung" unscharf bezeichnet. Denn Globalisierung ist kein historisches Novum, das mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung begann - wenn mit ihr die Tendenz des Kapitals gemeint ist, sich aufgrund des "Heißhungers nach Mehrwert" über den ganzen Erdball auszubreiten und alles Stehende zu verdampfen, d.h. die jeweiligen rückständigen gesellschaftlichen Verhältnisse an die für das Kapital erforderlichen modernen Standards anzupassen. Bereits Marx und Engels brachten vor mehr als 150 Jahren dieses politisch-ökonomische Zwangsverhältnis des Kapitalismus auf den Punkt.[2] Verändert hat sich an dem Sachverhalt bis heute nichts Wesentliches. Die Abkehr von der Marxschen Theorie, die Liquidation der Begriffe einer Kritik der politischen Ökonomie hatte nach 1989 lediglich zur Begriffslosigkeit geführt. So täuscht der Begriff "Globalisierung" Gleichzeitigkeit der Verhältnisse vor, wo die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeit der treibende Impuls der modernisierenden Dynamik in den weniger entwickelten Gesellschaften ist. Wenn das Wort "Globalisierung" das Gefälle zwischen Peripherie und Zentrum verschleiert - wenn dies die Funktion des Begriffes ist -, dann handelt es sich ganz eindeutig um einen ideologischen Begriff, der kritisch dekonstruiert und durch einen anderen Begriff ersetzt werden muß.

Der qualitative Wandel der politischen Ökonomie besteht eher darin, daß die Universalgeschichte des Wertgesetzes seit 1989 von sämtlichen Beißhemmungen befreit wurde. Erstmals in der Geschichte gerät die stets prekär gewesene Einheit aus Nationalökonomie und Nationalstaat in die Erosion und hinterläßt einen mehr und mehr depotentierten Staat gegenüber einem transnationalen Kapital. Das Kapital kennt kein Vaterland mehr, aber es ist deshalb von diesem nicht völlig entbunden: Das Kapital kennt viele Vaterländer, und eines ist so gut wie das andere, solange in ihnen als "Standorten" die Bedingungen für eine optimale Kapitalakkumulation bereitgestellt werden. Natürlich spielt das Kapital auch die verschiedenen "Vaterländer" gegeneinander aus, um den Modernisierungsprozeß in den einzelnen Staaten zu beschleunigen.

Seit den 70er Jahren hatte die Chicago School um Milton Friedman, die den Begriff des Neoliberalismus geprägt hat, die passende Ideologie des Freihandels bereitgestellt, nach deren Konzepten die sogenannte Globalisierung gestaltet wird - zunächst modellhaft in Lateinamerika, dann auch in den USA und in Westeuropa und nach 1989 schließlich in den Ländern des ehemaligen real existierenden Sozialismus. Hinter der Freihandelslehre versteckt sich nichts anderes als eine politische Kampfansage gegen den Marktprotektionismus, mit dem Staaten ihre jeweiligen Nationalökonomien vor dem Weltmarkt resistenter zu machen versucht haben. Diese Abschottungsmentalität gegenüber dem westlichen Kapital sollte gesprengt werden. Mit den supranationalen Institutionen IWF und Weltbank wurde den neoliberalen Konzepten eine machtvolle Durchschlagskraft verliehen. Durch die Koppelung der Kreditvergabe und der Entschuldung der Dritten Welt gegenüber den reichen westlichen Industrienationen an die Einhaltung bestimmter Kriterien, die im wesentlichen die Aufgabe des Protektionismus bedeuten (Öffnung der nationalen Märkte für ausländisches Kapital, Aufgabe der Zollschranken, Koppelung der nationalen Währung an den Dollar, Reduzierung der Inflationsrate durch Einsparungen der Staatsausgaben vorrangig im sozialen Bereich, Abbau der Arbeitsrechte, Schwächung der Gewerkschaften, etc.), werden die abhängigen Länder regelrecht erpreßt, d.h. sie verlieren ihre innen- und außenpolitische Souveränität. Nutzen zieht die jeweilige Bevölkerung daraus nicht; vom Markt verdrängt, weil sie nicht mehr konkurrenzfähig ist, wird sie der Arbeitslosigkeit, d.h. der sozialen Not überantwortet, während das ausländische, westliche Kapital vampirartig das Land aussaugt und wieder verschwindet, wenn es nichts mehr zu saugen gibt. Danach steht das jeweilige Land schließlich vor der sozialen und politischen Katastrophe - so ist es bereits mehrfach geschehen, unter anderem in Chile, Mexiko oder Argentinien.

Das Kapital kennt kein Vaterland mehr, aber es ist deshalb von diesem nicht völlig entbunden: Das Kapital kennt viele Vaterländer. Alle Wege führen in römische Zentren.

Von dem ehemaligen Außenminister der USA, Henry Kissinger, stammt die Äußerung, Globalisierung sei nur ein anderes Wort für US-Herrschaft. Die USA sind nach 1989 die einzige übriggebliebene und bisher unangefochtene Supermacht. Deshalb kommt es nicht von ungefähr, wenn die globalisierungskritische Bewegung, die seit Seattle von sich reden macht, in den USA einen ihrer Hauptgegner erkannt hat und die Institutionen IWF und Weltbank von den USA dominiert sieht. Die Kritik greift allerdings zu kurz und driftet an vielen Stellen in einen platten Antiamerikanismus ab, wenn die politische Ökonomie mit der amerikanischen Kultur identifiziert wird, d.h. allgemein von der "Amerikanisierung" der Welt die Rede ist. Nicht der Kapitalismus ist amerikanisch, sondern die USA sind kapitalistisch; als Supermacht sind sie imstande, gegenüber dem Rest der Welt ihre nationalen Interessen dominanter durchzusetzen als andere Staaten - auch mit militärischen Mitteln. Aber nicht nur die kapitalistischen USA sind das Problem, sondern der Kapitalismus überhaupt, mithin auch der in Deutschland, Frankreich oder England, der in Japan genauso wie der in Indien oder Rußland, der in Südafrika nicht weniger als der in Israel. Wenn auch als obsolet angesehen, benennt der Begriff "Imperialismus" das kapitalistische Konkurrenzverhältnis der Nationalstaaten zueinander immer noch besser als die Worthülse "Globalisierung" oder der jüngst eingeführte Begriff "Empire".

2. "Globalisierung" und "Empire"

Antonio Negri und Michael Hardt haben in ihrem neuen Buch eine Analyse der sich transformierenden herrschenden Ordnung vorgelegt,[3] die in vieler Hinsicht den schwammigen Begriff der Globalisierung konkretisieren kann. In einigen, leider zentralen Punkten, driftet ihre Analyse allerdings zu sehr ins Postmoderne ab. Gerade wo es um die Verortung der politisch-ökonomischen Herrschaft und des Widerstandes gegen diese geht, opfern sie allzu schnell veraltet geglaubte Strategien der Linken, die lieber noch einmal einer kritischen Überprüfung unterzogen werden sollten. Ihre Analyse der Institutionen der Herrschaft ist jedoch lehrreich.

Nach der klassischen Marxschen Analyse galt der Staat als das ausführende Organ, das die Interessen der Kapitalisten organisiert. Er organisiert nicht so sehr die Partikularinteressen der einzelnen Kapitalisten als das Allgemeininteresse des Gesamtkapitals, so daß die Politik des Staates häufig im Konflikt mit einzelnen Kapitalisten stehen konnte. Die notwendige Konkurrenz unter den ihrer Natur gemäß kurzsichtigen Einzelnen gefährdete das Wohl des ideellen Gesamtkapitalisten, der deshalb eine Politik der Weitsicht verfolgen, d.h. zwischen den partikularen Interessen vermitteln und Entscheidungen treffen müsse, die oftmals den Zorn der Einzelnen erregen können. Obwohl insgesamt die allgemeinen Interessen des Kapitals durch die weitsichtige Politik des Staates gewahrt bleiben, werden die einzelnen Kapitalisten stets die Macht des Staates bekämpfen.

Negri und Hardt meinen, diese klassische an Marx orientierte Kapitalanalyse sei der Tendenz nach überholt. Sie sprechen von der verschwundenen Autonomie des Politischen. Die nationale Souveränität verliere zunehmend an Bedeutung. Gemeint ist die faktische Befreiung der transnationalen Konzerne von der an den Nationalstaat gekoppelten Rechtsprechung und Autorität. Dies bedeute allerdings nicht, daß der Nationalstaat damit im Verschwinden wäre oder seine Depotenzierung bis ins Bodenlose ginge, so daß dieser dem transnationalen Kapital bedingungslos ausgeliefert sei. Die Machtbalance zwischen Politik und Ökonomie habe sich lediglich auf drastische Weise zugunsten der Ökonomie verschoben.

Die Nationalstaaten regelten noch immer die Angelegenheiten des Gesamtkapitals, auch wenn sie tendenziell zu bloßen ausführenden Organen des ökonomischen Kommandos gerierten. Die Dialektik zwischen Staat und Kapital sei nicht erloschen. Gerade die Kapitalisten müßten am Staat festhalten, damit ihnen nicht das entscheidende Mittel verloren gehe, gemeinsame Interessen gegen die Partikularinteressen zu realisieren.

Es sind die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst und es ist die Geschichte als Lehrmeisterin, die dem Widerstand neue Strategien aufnötigen.

Aber die Politik der nationalen Regierungen ist nicht mehr souverän. Sie ist mehr oder weniger vollständig eingebunden in ein "System des transnationalen Kommandos": ein Netzwerk der globalen Ordnung, das von Negri und Hardt zur besseren Anschauung als eine Pyramide beschrieben wird. Sie habe drei Stufen der Hierarchie, die sich jeweils noch einmal in verschiedene Ebenen unterteilen lassen. Auf der ersten Stufe stehen ganz oben die USA als hegemoniale Supermacht, darunter die Gruppe von Nationalstaaten, die eine weltweite Kontrolle der monetären Institutionen ausüben, sowie darunter und immer noch auf der ersten Stufe: ein heterogenes Set von Vereinigungen. Auf der zweiten Stufe der Pyramide seien die Netzwerke aus Kapital-, Technologie- und Migrationsströmen anzutreffen, außerdem die transnationalen Konzerne sowie die einzelnen souveränen Staaten. Ganz unten in der Pyramide befinden sich die Gruppen und Organisationen des populären Interesses, zu denen neben kleinen Staaten und Nationen vor allem die zahlreichen Nichtregierungsorganisationen gehören. Alle Stufen zusammen ergeben das Empire, welches die traditionelle Herrschaft der Nationalstaaten beerbt habe.

Indes ringen die Nationalstaaten um den Erhalt ihrer Macht gegenüber dem transnationalen Kapital. Sie werden in ihrem Bestreben weniger durch die großen Kapitalverwalter bestärkt als vielmehr durch numerisch bedeutende Schichten der Gesellschaft, die sich vor allem aus dem Kleinbürgertum rekrutieren; aber auch politische Liberale und Intellektuelle stimmen in den Kanon vom starken Staat mit ein. Aufgrund der qualitativen Neuerung in der kapitalistischen Modernisierung scheint es aber so zu sein, daß emanzipatorischer Widerstand im nationalstaatlichen Rahmen kaum noch denkbar ist. Negri und Hardt sind der Ansicht, daß es unmöglich ist, die Gesellschaft umzuwälzen, indem man den Staat erobert. Eine Revolution im nationalen Rahmen müsse angesichts der jüngsten Transformationen der herrschenden Ordnung von vornherein zum Scheitern verurteilt sein.

Wenn das zutrifft, dann kann die Sehnsucht nach dem vor der "Globalisierung" Schutz bietenden Nationalstaat nur reaktionäre Züge tragen, obwohl das Bedürfnis nach Schutz - Urphänomen der Herrschaft (Horkheimer) - nicht nur realistisch, sondern auch rational ist. Traditionelle Strategien des Widerstandes, etwa die der institutionalisierten Arbeiterbewegung, sind obsolet geworden; ein neuer Typus von Widerstand müsse daher erfunden werden.

3. Die verortende Analyse der globalen Herrschaft

Um freischwebendes Erfinden kann es allerdings nicht gehen. Es sind die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst und es ist die Geschichte als Lehrmeisterin, die dem Widerstand neue Strategien aufnötigen. Aufgrund des Formwandels der Herrschaft muß mit Notwendigkeit eine Anpassung der Strategie erfolgen. Eine bestimmte Praxis erfolgt notwendig aus der Analyse der gewandelten Herrschaftsverhältnisse. Es geht mithin nicht ums Erfinden, sondern ums Finden einer neuen Praxis, die aus den Insignien der transformierten Herrschaft als dessen Negativ ablesbar, d.h. in ihr schon angelegt ist. Ein neuer Typus von Widerstand kann nur gefunden werden nach der Beantwortung der alten ideologiekritischen Frage nach den Herr- und Knechtschaftsverhältnissen: Wer herrscht? Wo wird geherrscht? Über wen wird geherrscht? Wer und wo ist die Gegenmacht? Erst danach läßt sich adäquat über Ziele und Mittel des Widerstands diskutieren. Hier zeigt sich nun die Bedeutung der Topographie des Widerstands.

Die verortende Analyse der globalen Herrschaft fällt in Empire zu diffus aus. In vielen Wendungen fühlt man sich bei Negri und Hardt an einen auf die Spitze getriebenen Foucault erinnert. Das postmoderne Imperium besitze kein Rom, also kein Zentrum mehr. Der neuerliche Formwandel der Herrschaft werde durch eine Abkoppelung der Topographie der Macht von den räumlichen Verhältnissen gekennzeichnet. Negri und Hardt gehen sogar so weit, vom "Nicht-Ort der Macht" zu sprechen, was einen Widerstand gegen das Empire zugleich erleichtere und erschwere: Zum einen ermögliche der Formwandel der Herrschaft allen widerständischen Subjekten im globalen Geflecht der Macht, an deren Schnittstellen simultan gegenwärtig zu sein. Zum anderen aber sei jenes Beziehungsnetz genauso wie die Herrschaft ein "Nicht-Ort". Das Terrain, auf dem der Kampf ausgetragen werde, ließe sich demnach beinahe mit einem virtuellen Raum vergleichen: Die Orte der Herrschaft erscheinen punktuell, fluktuierend, inkonsistent, temporär und kontingent.

Der postmoderne Jargon dieser Passagen verdient Kritik, denn mit diesen diffusen Wendungen verspielen Hardt und Negri ihre analytischen Evidenzen und fördern ein gestörtes Verhältnis zwischen Theorie und Praxis. Diese Welt besitzt vielleicht kein reales Rom mehr, aber mindestens ein symbolisches, wie die terroristischen Anschläge vom 11. September bewiesen haben. Darüber hinaus führen alle Wege in römische Zentren. Der kapitalistische Staat wird zwar nicht zum schwächsten, aber zum verwundbarsten Glied in der Machtkette der globalen Herrschaft; er könnte zum archimedischen Punkt werden, an dem sich ein Hebel ansetzen läßt, um die globale Machtkette aus den Angeln zu heben. Dazu müßte er aber in allen römischen Zentren gleichzeitig bekämpft werden. Allein es wäre dumm, die politische Macht des Nationalstaats zu übernehmen, um etwa im nationalen Rahmen die Verstaatlichung der Produktionsmittel zu erwirken. Diesen Fehler sollte man nicht wiederholen wollen. Die Zwecksetzung kann sinnvollerweise nur an einer antietatistischen und antinationalen, jedoch jeweils am Ort des Nationalstaats tätigen Vergemeinschaftung orientiert sein; alles andere liefe auf Staatskapitalismus, gepaart mit Nationalismus, hinaus.

Mit ihren diffusen Wendungen verspielen Hardt und Negri ihre analytischen Evidenzen und fördern ein gestörtes Verhältnis zwischen Theorie und Praxis.

Nicht der Nationalstaat ist das vernünftige Bezugsobjekt einer linken Zwecksetzung, sondern das kapitalistische Produktionsverhältnis, wie es sich am Ort des Nationalstaats zu erkennen gibt - so zu erkennen gibt, daß es sich im Gewand der Modernisierung in allen Ländern der Welt weiterentwickelt und seine Liäson mit dem Nationalstaat zu lockern beginnt. Nationalstaat und Kapital bleiben weiterhin aufeinander angewiesen - diese Liäson macht die Herrschaft der politischen Ökonomie aus; erfolgreich bekämpft werden kann sie nur international. Ohne den Aufbau von internationalen Vernetzungen der auf nationaler Ebene vorhandenen Organisationen der Linken, ohne die gemeinsame Koordination der nationalen Widerstände auf international anerkannten Zusammenkünften, wird eine soziale Bewegung heute, die etwa als globalisierungskritische zu einem weltweiten Phänomen geworden ist, zwar ihren Überhang der Spontaneität durch mehr Organisation vielleicht noch in den Griff bekommen, ihre Ziele aber kaum zum Erfolg führen können.

Es geht um nicht weniger als um die selbstkritische Suche nach realistischen Möglichkeiten, das Konzept der Weltrevolution zu aktualisieren. Aus der Geschichte der II. Internationalen und ihrem Scheitern mit Beginn des Ersten Weltkrieges sowie aus den von der Zimmerwalder Linken herausgebildeten Ansätzen zu einer Reorganisation des Internationalismus kann man die Widerstandskonzepte gegen den Imperialismus für die heutige Zeit aufgreifen und auch aus dem damaligen Radikalisierungsprozeß der antikapitalistischen Linken lernen, welche Fehler in der Praxis man auf keinen Fall wiederholen sollte.[4] Es ist zwar nicht mehr in Mode, sich affirmativ auf die russische Oktoberrevolution zu beziehen, für die Geschichte des 20. Jahrhunderts war sie aber von sehr großer Bedeutung. Für eine sozialistische Politik in der Gegenwart ist sie es nach wie vor.[5]

II. Erinnerung an negative Erfahrungen

1. Blick zurück: Weltrevolution

Die Revolution brach als erstes im Februar 1917 in Petrograd (St. Petersburg) aus, und die internationale Arbeiterbewegung hörte die Signale aus Rußland sogar im entfernten Seattle, wo über einen Generalstreik eine räteähnliche Organisierung (allerdings nur von kurzer Dauer) erreicht wurde. Zunächst schien es tatsächlich so, als ginge das Konzept der Weltrevolution auf. Im Oktober 1917 beendeten die Bolschewiki durch ihre politische Machtübernahme die Doppelherrschaft der Räte und des bürgerlichen Parlaments (Duma). Die Konstituierung der Sowjetmacht führte in allen damals kriegführenden Staaten zu breiten Protestbewegungen gegen den imperialistischen Krieg. Im Januar 1918 wurde in Finnland die Räterepublik ausgerufen; im Oktober/November schwappte die revolutionäre Welle nach Österreich und Deutschland über; im März 1919 wurde die III. Internationale gegründet, und schließlich wurden auch in Ungarn, einen Monat später in Bayern Räterepubliken ausgerufen. Mit den drei großen dynastischen Zentren, d.h. den politisch rückständigsten Ländern Europas, in denen die Revolution ihre größte Wirkmacht zu entfalten versprach, hatte die Revolution von Anfang an den Charakter einer nachholenden Modernisierung.

Aber die Führungen der sozialdemokratischen Parteien, allen voran in Österreich und Deutschland, versuchten unter allen Umständen die revolutionäre Kettenreaktion zu unterbrechen. Die Spartakisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden auf Anweisung des nach Kriegsende Reichswehrminister gewordenen Gustav Noske von ultranationalistischen Freikorps ermordet. Der SPD-Minister war hauptverantwortlich dafür, daß die revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland blutig niedergeschlagen wurde. Das ist wahrlich kein Ruhmesblatt für die SPD, die sich immer noch positiv in die opportunistische Tradition eines Friedrich Ebert stellt. Die Räterepubliken in Ungarn und Bayern wurden niedergeschlagen, und spätestens 1921 war abzusehen, daß die Weltrevolution scheitern würde.

Von Lenin bis Luxemburg galt es als unumstritten, daß die Weltrevolution nur gelingen könne, wenn die Revolution vom Zentrum des Kapitalismus ausginge

Unter den sozialistischen Führern der Internationale von Lenin bis Luxemburg gab es eine einhellige Ansicht darüber, daß die Weltrevolution nur gelingen könne, wenn die Revolution vom Zentrum des Kapitalismus ausginge; jedenfalls müsse sie sich im Zentrum fortsetzen, wenn sie zuerst in den weniger fortgeschrittenen Ländern losgehe. Diese Überzeugung vertrat auch schon Marx, der sich in einem Briefwechsel mit Vera Sassulitsch der Frage konfrontiert sah, inwieweit Rußland von den Entwicklungen in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern profitieren könne, ohne selbst die gesamte geschichtliche Entwicklung der westlichen Länder von Anfang bis Ende durchmachen zu müssen. Würde Rußland imstande sein, seinen eigenen Weg zu gehen, d.h. bestimmte Stadien der kapitalistischen Entwicklung zu überspringen, um zu einer Form des Kommunismus zu finden, die das noch intakte russische Gemeineigentum am Boden - und nicht wie im Westen die radikale Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln - zum Ausgangspunkt nehmen könnte? Marx tat sich mit der Briefantwort an Vera Sassulitsch offenkundig sehr schwer, denn er fertigte drei Entwürfe an, die jedesmal etwas seiner analytischen Aussagen zurücknahmen - die endgültige Antwort fiel schließlich sehr knapp aus.

Er gab sich unsicher, inwieweit seine Kapitalanalyse überhaupt auf Verhältnisse übertragbar ist, die den westlichen Ländern wie England oder Frankreich nicht entsprechen.[6] In der "Vorrede zur russischen Ausgabe des Manifests der kommunistischen Partei" wird Marx allerdings dezidierter: "Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen."[7]

Die sogenannte Extremitätenthese hat neben der politisch-ökonomischen auch eine politisch-kulturelle Dimension: Die geschichtliche Vorbedingung einer proletarischen Revolution liege gleichsam in der vollends entfalteten bürgerlichen Gesellschaft - eine Voraussetzung, die lediglich in den fortgeschrittenen westlichen Industrienationen erfüllt war. Der Sozialismus könne nur durch die dialektische Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft erreicht werden. Denn es geht nicht um die blanke Negation dessen, was ist, sondern zum einen um die Aufbewahrung alles dessen, was im Kapitalismus bereits zu einer Vermenschlichung der Verhältnisse geführt hat. Zum anderen geht es um die bestimmte Negation der gleichzeitig eingeführten neuen Formen der Repressionen und Ausbeutung. Das ist der Grund, weshalb der Sozialismus nur Resultat der fortgeschrittenen, entwickelten kapitalistischen Länder sein kann.

Als kulturelle Substanz der bürgerlichen Gesellschaft lassen sich der politische Liberalismus und der demokratische Rationalismus (rationale Rechtsidee) bestimmen, welche sich zuerst in England und Frankreich herausgebildet hatten und das Ergebnis eines ökonomischen, politischen sowie kulturellen Transformationsprozesses tief im Gesellschaftsgefüge verwurzelter Traditionen waren. Politischer Liberalismus und demokratischer Rationalismus bedurften für ihre Entstehung in Westeuropa vieler vorgeschichtlicher Voraussetzungen, die im zaristischen Rußland nur ansatzweise gegeben waren. Eine sehr wichtige Voraussetzung war die in der Renaissance und Reformation, in der rationalen Naturrechtslehre und Naturwissenschaft vorangetriebene Loslösung der weltlichen Herrschaft von der Vorherrschaft der Kirche: die Säkularisierung. Das Hervortreten des bürgerlichen Individuums aus den sich auflösenden, mittelalterlichen Bindungen, ausgelöst durch ursprüngliche Enteignung und Umwälzung der Produktionsverhältnisse, war nicht minder wichtig.

In der Französischen Revolution von 1789 befreite sich das längst ökonomisch und kulturell selbstbewußt gewordene Bürgertum schließlich auch politisch vom Feudalismus. Das Bürgertum übernahm die Herrschaft in Form von Nationalstaat und Parlamentarismus. Der Nationalstaat erfüllte zwei wichtige Funktionen für das Bürgertum: Zum einen sollte er die territorial abgegrenzten, wirtschaftsliberalen Gesellschaften voreinander schützen, wenn auch gerade durch diese Problematik handfeste Kriege einer neuen Qualität in die Welt gekommen sind. Außerdem bediente er das Bedürfnis der aus den traditionellen Bindungen des Feudalismus entlassenen Einzelnen nach Zugehörigkeit und kollektiver Geborgenheit: nach einer kollektiven Identität. Während der Kapitalisierungsprozeß die Einzelnen zunehmend vereinzelte, entfremdete und anonyme Bindungen hinterließ, konnten diese abstrakten Bindungen durch ein Nationalbewußtsein kompensiert und wieder konkretisiert werden. Beide Funktionen des Nationalstaats waren Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt ihres Wirkens angelangt, weshalb Lenin der Auffassung war, der Kapitalismus befinde sich nunmehr auf seiner höchsten Stufe: im Stadium des Imperialismus. Der Weltkrieg sei eine notwendige Folge dieser Entwicklung und führe geradewegs zur Weltrevolution.

Die ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft waren im zaristischen Rußland nicht vorhanden. Dort herrschte ein eklatanter Mangel an bürgerlicher Zivilisation,[8] weshalb sich die internationalen Sozialisten mit Marx im theoretischen Gepäck sehr richtig auf die fortgeschrittenen westlichen Industrienationen konzentrierten. Eine Revolution in Rußland hätte es vorerst mit der Beseitigung der vorkapitalistischen Hemmnisse zu tun gehabt und hätte demzufolge eine bürgerliche Revolution sein müssen; sie hätte im nationalen Rahmen nicht mehr als eine nachholende Modernisierung sein können. Jedenfalls war die Gesellschaft für eine proletarische Revolution noch gar nicht reif genug. Politische Bewegungen, die auf dem Gebiet der zeitlich darauffolgenden Sowjetunion zumindest kurzfristig zu national-bürgerlichen Regierungen geführt haben, sind zumeist von keiner besonders einflußreichen Wirkmacht gewesen, da sie nur wenige Monate etwa in der Ukraine, in Weißrußland, Bessarabien, Georgien, Tschetschenien usw. existierten und im Zuge der Oktoberrevolution von der Roten Armee erfolgreich bekämpft und durch sowjetische Strukturen ersetzt wurden.

Die ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft waren im zaristischen Rußland nicht vorhanden.

Als in Rußland 1917 die Revolution ausgebrochen war, herrschte in Europa unter den Sozialisten allgemeine Euphorie. Das zuvor noch von Rosa Luxemburg heftig kritisierte Leninsche Konzept der "Partei neuen Typs" erfreute sich nunmehr allgemeiner Anerkennung. Galt es zuvor noch, der bolschewistischen "Diktatur des Proletariats" einen eklatanten Mangel an Demokratie nachzuweisen, wurde nunmehr die gesamte Strategie mehr oder weniger anstandslos akzeptiert. Dabei ist zuallererst festzustellen, daß im Marxschen Sinne mit der "Diktatur des Proletariats" an den wenigen Stellen, an denen diese Formel in seinem Werk überhaupt auftaucht, eine politische Übergangsperiode gemeint war, die auf die Machtübernahme des Staates und seines Repressionsapparates zielt - zum Zwecke ihrer Auflösung, um zu verhindern, daß die Einführung der demokratischen Selbstregulierung als politische Form einer sozialistischen Demokratie genau durch diesen staatlichen Gewaltapparat während der revolutionären Phase wieder zerschlagen werde. Unter Lenin wurde die Formel zur Kampfparole - dies ist vor dem Hintergrund, daß ca. 80 Prozent der Staatsausgaben für die Armee und den Unterdrückungsapparat bestimmt waren, sicherlich auch nachvollziehbar. In mancher Differenz zu Marx und Engels, die in der Pariser Kommune das praktische Modell der "Diktatur des Proletariats" gesehen hatten, zeichnete sich allerdings bereits hier das Autoritärwerden der Revolution ab: als Diktatur der bolschewistischen Partei über das entmündigte Proletariat.

Die Bolschewiki nahmen unter der Führung Lenins international eine dominierende Schlüsselrolle ein, obwohl Lenin noch bis zu seinem Tode darauf hoffte, das organisatorische Zentrum der Weltrevolution von Moskau nach Berlin verlegen zu können, nachdem die stärkste Arbeiterbewegung der Welt unter der Führung der Spartakisten endlich die politische Macht in Deutschland übernommen habe und sich erwartungsgemäß auf die Seite der russischen Bolschewiki schlagen würde. In Deutschland waren aber spätestens seit 1921 die Chancen einer erfolgreichen Revolution vertan. Das Vertrauen der Arbeiter in den Staat wuchs wieder beträchtlich an, und dementsprechend waren die Sozialisten mit ihren anti-etatistischen Positionen zunehmend isoliert. Eine reformistische Sozialdemokratie hatte sich europaweit durchgesetzt und besiegelte das Scheitern der Revolutionen in den kapitalistischen Zentren. Damit war die Revolution auch den russischen Sozialisten notwendig aus den Händen geglitten. Lenin starb in dem Glauben, die erste sozialistische Revolution der Welt angeführt zu haben - was er nicht erkannte: es handelte nach dem absehbaren Scheitern der Weltrevolution um nicht mehr als die erste nationale Revolution der Dritten Welt.[9]

Mit der Nachfolge Stalins setzte in Rußland ein roll back ein, der die Revolution endgültig auf Abwege brachte. Ernest Mandel bezeichnet in Übereinstimmung mit anderen Marxisten den Stalinismus als sowjetischen Thermidor, bzw. als bürokratische Konterrevolution.[10] Die Stalinsche Maxime "Sozialismus in einem Land" widersprach vollständig dem vorherigen Internationalismus und vor allem der Marxschen Extremitätenthese; das Konzept konnte jedenfalls nicht gelingen. Nebenbei war das Land empfindlich geschwächt durch einen Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen, der bis Ende 1920 in den Sowjetrepubliken die dürftige Grundlage für den Aufbau einer sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft weitgehend zerstört und eine ökonomische wie soziale Katastrophe hinterlassen hatte. Stalin machte endgültig aus der strittigen "Diktatur des Proletariats" eine noch viel verheerendere Diktatur der Partei; sein Name steht nebst Gulag und schlimmsten Vertreibungen auch für eine totale Bürokratisierung und Verstaatlichung der Gesellschaft, durch die alles, was zu Beginn die Revolution ausgezeichnet hatte, restlos erstickt wurde.

Die Verstaatlichung der Gesellschaft war ein Reflex auf den Mangel an bürgerlicher Zivilisation in Rußland. Unter der Regie einer autoritären Parteienherrschaft verpaßte die Sowjetunion den Anschluß an die liberalen Ideen der Aufklärung, während sie dem Schein nach bereits geschichtlich über diese hinaus war.

2. Nationale Frage und Nationalitätenpolitik der Kommunisten

Die nationale Frage spielte in der Sowjetunion sowie im Zusammenhang der kommunistischen Machtübernahme in den diversen osteuropäischen Ländern von Anbeginn eine entscheidende, wenn nicht sogar die zentrale Rolle - vor allem bezüglich des Zusammenhalts und später der Auflösung des gigantischen Territoriums des Ostblockes.

An die Macht gekommen sind die Kommunisten in Osteuropa weniger aufgrund explizit kommunistischer Inhalte, die bei den Menschen auf breite Zustimmung gestoßen wären. Schon die Parole der russischen Revolution hieß "Brot, Land und Frieden". Das war eine Parole, die von vielen politischen Bewegungen auf ihre Fahnen hätte geschrieben werden können. Es ging also um die Verwirklichung ganz konkreter, sogar tagespolitischer Ziele, die für die Beseitigung der Agrarkrise in Rußland absolut unumgänglich waren: sofortige Beendigung des Krieges und die Durchführung einer Landreform. Neben einiger anderer Ziele, wie Einführung der Arbeiterkontrolle in der Produktion, die einen explizit sozialistischen Charakter trugen, setzten sich die Kommunisten ganz zentral auch für das Selbstbestimmungsrecht unterdrückter Völker ein. Auf dem Zweiten Sowjetkongreß im Oktober 1917 formulierte Lenin die Leitlinie, indem er das gewalttätige Festgehaltenwerden einer Nation in den Grenzen eines gegebenen anderen Staates als eine kriegerische Annexion, als Eroberung und Vergewaltigung bezeichnete.[11] Eine solche Definition war nicht nur dem Ersten Weltkrieg geschuldet, sondern lag vor allem im Machtkalkül der Kommunisten. Während ihrer Machtergreifung in Osteuropa ließen die Kommunisten die nationale Frage also nicht unbeantwortet und konnten mit ihrer Antwort die Massen geschickter mobilisieren als die bürgerlich-nationalen Bewegungen zur selben Zeit. Es gab kein Land, in dem die Kommunisten in der nationalen Frage nicht mit den bürgerlich-nationalen Gruppierungen um die Macht konkurrierten. Nirgends konnten die Kommunisten die Macht ergreifen, ohne auf die nationale Karte zu setzen.

Die Solidarität der Linken gegenüber dem Befreiungsnationalismus war zu unkritisch gewesen.

Was dann einmal zur politischen Macht verholfen hatte, konnte im Fortgang nicht mehr außer acht gelassen werden. Die Realkommunisten fanden eine strategische Lösung, in der das Setzen auf die nationale Karte zum integralen Bestandteil ihres Kalküls nicht nur der Machtergreifung, sondern auch des Machterhalts wurde. Sie verhielten sich bezüglich der nationalen Frage aber weder konsequent noch widerspruchsfrei.

Es lassen sich für die Sowjetunion verschiedene Phasen der Nationalitätenpolitik bestimmen, die sich zueinander widersprüchlich verhalten und die Inkonsequenz verdeutlichen: Während in den Zwanziger Jahren nationale Kulturen von der bolschewistischen Parteienherrschaft gefördert wurden (Korenisazija), ging man ab Mitte der Dreißiger dazu über, den Sowjetpatriotismus der ewigen Völkerfreundschaft zu ideologisieren. Stalin veranlaßte gleichzeitig mit seinen Säuberungswellen die Verfolgung der nationalen Eliten. Anfang der Vierziger Jahre wurden die Bevölkerungen der nicht-russischen Sowjetrepubliken im Rahmen der Russifizierungspolitik von Deportationen erfaßt. Der Sowjetpatriotismus, der im Großen Vaterländischen Krieg gegen den Hitlerfaschismus seinen vorläufigen Höhepunkt fand, transformierte sich in einen offenen russischen Chauvinismus. Nach Stalins Tod wurde die nationale Frage instrumentalisiert für ein taktisches Kalkül des Kandidatenkarussells zur Besetzung der höchsten Ämter. Berija kehrte aus taktischen Gründen zur Förderung nationaler Kulturen zurück. Nach seiner Ausschaltung durch Chruschtschow wurde die Rehabilitierung der deportierten Nationalitäten veranlaßt und der Begriff des Sowjetvolkes (sowetskij narod) geprägt, worunter man eine Menschengemeinschaft aus verschiedenen Nationen mit einheitlichen Wesenszügen verstand. Unter Breschnew und Andropow wurden diese angegebenen Gemeinsamkeiten des Sowjetvolkes kontinuierlich verherrlicht.[12]

Nachdem die kommunistische Sowjetideologie keinen Zusammenhalt mehr gewährleisten konnte, entbrannte wiederum an der nationalen Frage entlang diesmal der ethnisierende Auflösungsprozeß. Die einzelnen Sowjetrepubliken benutzten die nationale Karte als Ticket, um sich von den festgefahrenen und verdinglichten kommunistisch- bürokratischen Strukturen der Moskauer Machtclique, die den Reformprozeß blockierte, loszusagen, während Gorbatschow vergebens in dieser Endphase der Sowjetunion die Legitimationskrise durch Glasnost und Perestroika abzuwenden versuchte.

Es erscheint alles andere als abwegig, auch im Realsozialismus verdinglichende Mechanismen zu konstatieren. Am augenfälligsten sind diesbezüglich der bürokratische Verwaltungsapparat und die autoritäre Einparteienherrschaft, die in der kalten Atmosphäre des Verdachts den Einzelnen als bloßes Objekt der Überwachung mißtrauisch beäugten und das gesellschaftliche Leben verstaatlichten. Außerdem auch die heroische Verherrlichung und Fetischisierung der Arbeit, die nicht weniger als die kapitalistischen Produktionsverhältnisse aus dem Einzelnen ein bloßes Instrument zur Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums gemacht haben; es scheint für die Verdinglichung ganz egal zu sein, ob der produzierte gesellschaftliche Reichtum in private oder in volksstaatliche Hände abgezweigt wird. Eine nationalistische Revolte gegen die realsozialistische Verdinglichung der Gesellschaft kam aber so lange nicht in Frage, wie sich die Sowjetunion in keiner ernsten Legitimationskrise befand. Die Nationalitätenpolitik der sowjetischen Einparteienherrschaft mag ein gewichtiger Grund für die mehrere Jahrzehnte währende Standfestigkeit der Sowjetunion gewesen sein, indem nach einer genauen Arithmetik die Besetzung der Machtstrukturen mit Personen aus allen Republiken nach dem Prinzip divide et impera erfolgte. Mit der in den 70ern beginnenden Weltwirtschaftskrise geriet dieser Zusammenhalt aber zunehmend in die Erosion und begann Ende der 80er zu implodieren.

Während des Kalten Krieges bezogen sich auch viele antikoloniale Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt auf das von Lenin formulierte und in die marxistisch-leninistische Ideologie eingegangene Recht unterdrückter Völker auf Selbstbestimmung. Die Sowjetunion unterstützte deren Befreiungskampf um so entschiedener, je mehr das direkte Kräftemessen zwischen West und Ost in eine Pattsituation geraten war. Die Linke hatte den anti-imperialistischen, aber nationalistischen anti- kolonialen Befreiungskampf weitgehend solidarisch unterstützt. Galt der revolutionären Linken während des Ersten Weltkrieges die Formel von Karl Liebknecht "Der Hauptfeind steht im eigenen Land!" noch als Losung eines internationalistischen Widerstands gegen den Imperialismus, so verlagerte sich während des Kalten Krieges aufgrund der Pattsituation für die Nachkriegslinke der Kampf gegen den Imperialismus der Westmächte in die Peripherie. - An den Wurzeln hat man den Imperialismus der Westmächte damit nicht bekämpft.

Praktische und theoretische Anknüpfungspunkte für die internationale Solidarität mit dem antikolonialen Befreiungskampf hat es durchaus gegeben - vor allem Algerien und Frantz Fanons "Verdammte dieser Erde".[13] Gleichwohl hätte der anti-imperialistische Terror etwa des Regimes der Roten Khmer in Kambodscha mit der darauffolgenden Intervention Vietnams oder die "Strafaktion" Chinas gegen Vietnam das schöngefärbte Bild eines guten Nationalismus an der Peripherie, welchem viele Linke aufsaßen, als Trugbild entlarven müssen. So genau wollte man wohl auch nicht hinsehen. Spätestens aber nach 1989, nachdem sich die nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt mit dem Verlust der marxistisch-leninistischen Ideologie aufgrund der Auflösung des Ostblockes im freien Fall befanden und im islamischen Fundamentalismus eine Ersatzreligion fanden, zeigte sich deutlich, daß die Solidarität der Linken gegenüber dem Befreiungsnationalismus zu unkritisch gewesen war. In den ethnisierenden Revolten der damit gescheiterten Befreiungsbewegungen manifestierte sich der zuvor schon latent vorhanden gewesene Rassismus und Antisemitismus.

3. Nationalismus und Entfremdung im Kapitalismus

Der Internationalismus der Linken ist nach dem absehbaren Scheitern der Weltrevolution überwiegend nur ein Mythos gewesen. In den wenigen Situationen, in denen es wirklich internationalistisch zugegangen ist, hat sich gezeigt, wie erfolgreich die Linke sein kann. Das Festhalten am Nationalen ist eines der entscheidenden Fehler der Linken auch heute noch in der globalisierungskritischen Bewegung. Diese ist zwar sehr heterogen, aber dominiert wird sie durch eine gemäßigte Mitte, die vor allem unter dem Namen "Attac" zunehmend von sich reden gemacht hat mit Konzepten, die an den "gezähmten Kapitalismus" erinnern.[14] Dem Staat wird dabei eine wichtige Funktion zugestanden, der entfesselten Ökonomie Einhalt zu gebieten, sie jedenfalls "menschlicher" zu gestalten. Attac bewegt sich damit zunehmend im Kontext des neu erstarkenden Nationalismus. Radikale Kritik an Staat und Kapital, anti-kapitalistische wie anti-nationale Positionen sind gegenüber einer blanken Gegnerschaft zur "Globalisierung" (Anti-Globalisierung, Globalisierungsgegner) leider in der Minderheit. Es bleibt zu hoffen, daß ersteren ein größerer Einfluß in der globalisierungskritischen Bewegung noch zukommen wird.

Das Festhalten am Nationalen ist eines der entscheidenden Fehler der Linken auch heute noch in der globalisierungskritischen Bewegung.

Die "Kritik der politischen Ökonomie" von Marx zeigt auf, wie die Menschen nach der ökonomischen Rationalität des Äquivalententausches sich gegenseitig als Personen anerkennen. Damit die Waren zirkulieren können, bedarf es eines gemeinsamen gewaltfreien Willensaktes der Warenbesitzer, die sich als Ware oder die ihre Waren aufeinander beziehen. Die Personen erkennen sich gegenseitig im Tausch erst als Personen in Gestalt von Privateigentümern an. Die Form ist der bürgerliche Vertrag, in dessen gemeinsamen Willensverhältnis sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. Dieses scheinbar gewaltfreie ökonomisch-rationale Verhältnis ist das versachlichte Resultat eines vorangegangenen, gewalttätigen Kampfes um Anerkennung, der auf Leben und Tod ausgefochten wurde, solange kein Gewaltmonopol eingerichtet war, das die Einhaltung der Verträge sowie für die Sicherheit der Person und ihres Eigentums garantieren konnte. Viel ungerechtes Blut ist dabei geflossen, um ein staatliches Gewaltmonopol mit der Aufgabe zu betreuen, den inneren Frieden zu garantieren, jedenfalls das Blutvergießen dort zu verhindern, wo Anerkennung vereinzelt verweigert wird. Diesen geschichtlichen Prozeß haben sämtliche westlichen Gesellschaften auf ihrem Weg zur Konstituierung eines territorialen Nationalstaates durchgemacht.

Was hier durch das Gewaltmonopol gewährleistet werden soll, ist aber keineswegs Gewaltfreiheit, sondern der mehr oder minder versteckte, ökonomische Bürgerkrieg der Konkurrenz aller gegen alle auf nationaler Ebene. Dieser ökonomische Krieg ist die Normalform bürgerlicher Gewalt, die sich erst entfalten kann, wenn auf der Oberfläche der Schein von Gewaltfreiheit, abstrakter Rechtsgleichheit, Vertragssicherheit und ökonomischer Freiheit durchgesetzt wurden. Nach außen, d.h. zwischen den Staaten herrschen diese bürgerlichen Prinzipien nicht oder nur moralisch, d.h. auf Basis von freiwilliger Übereinkunft, da kein Gewaltmonopol über dem Staat existiert, daß die Einhaltung bilateraler Verträge etc. garantieren könnte. Zwischen den souveränen Nationalstaaten herrscht quasi der Naturzustand, d.h. das Recht des Stärkeren, welches mit diplomatischen, ökonomischen oder militärischen Mitteln durchgesetzt wird. Eine kapitalistische Weltgesellschaft hätte dies stets zu ihrem Manko; es sei denn, es bildete sich ein Weltstaat heraus, der aber gerade wegen der zentrifugalen Außenkräfte der Nationalstaaten noch sehr lange auf sich warten lassen dürfte - und selbst dann wären stets noch die Klassenkämpfe im Innern ein notwendiges Moment der ökonomischen Ausbeutung und Verelendung, welches dem friedlichen und befreiten Leben entgegensteht.

Die spätkapitalistische "Globalisierung" beschleunigt die Vermittlung entfremdeter, abstrakter Verhältnisse auf der ganzen Welt und provoziert Angst und Irrationalismus bei den Bevölkerungen, so daß ein subjektives Bedürfnis nach dem Nationalstaat als Schutzraum entsteht, der objektiv für den Kapitalismus zunehmend an Notwendigkeit verliert. Dieses Auseinanderklaffen von Subjekt und Objekt könnte bewirken, daß der neu aufkommende Nationalismus und Rechtspopulismus besonders aggressiv in Erscheinung tritt. Ein gewisser Rechtstrend ist in Europa bereits zu bemerken. Wer als Linker meint, man dürfe die Nation nicht den Rechten überlassen, der unterschätzt besonders in Deutschland den nationalistischen Drift, der sich nicht beherrschen läßt, sondern von dem man beherrscht wird. Aus diesem Grund ist das unachtsame Gerede von der Nation als Schutzraum vor der Globalisierung nicht nur trügerisch, sondern extrem fahrlässig. Aufgrund der inhärenten Dynamik werden in diesen "Schutzräumen" unter bestimmten Umständen auch wieder Konzentrationslager gedeihen können. Um das zu verhindern, wäre mehr als nur unausgesetzte Wachsamkeit demokratischer Bürger, die anständige Aufstände pflichtbewußt auf Abruf fabrizieren, erforderlich.

Im Nationalismus werden die kulturellen Differenzen zu nationalen stilisiert und mit kollektiven Ressentiments beladen. Der Nationalismus ist eine unbewußte, konformistische Rebellion gegen die verdinglichenden Tendenzen der Normalform bürgerlicher Gewalt, die den Einzelnen ihre Anerkennung zugleich ermöglicht und wieder annulliert und dem Individuum die Gefühle der Ohnmacht und Gleichgültigkeit zuteil werden läßt. Diese Gefühle kommen in der Regel nur ideologisch zu Bewußtsein; sie stellen die Quellen dar, aus denen der Nationalismus seine aggressiven Energien entfaltet.

Das unachtsame Gerede von der Nation als Schutzraum vor der Globalisierung ist nicht nur trügerisch, sondern extrem fahrlässig.

In der Verdinglichung ist die individuelle Differenz nivelliert und damit, ausgehend von der subjektiven Wahrnehmung, die gegenseitige Anerkennung wieder zurückgenommen. Es bleibt die mechanische Anerkennung des Menschen als produktives Mittel: als warenproduzierende Ware Arbeitskraft - und oft bleibt bei Arbeitslosigkeit nicht einmal diese mechanische Anerkennung. Die Verdinglichung besteht darin, als Person auf ein jeder Zeit ersetzbares Instrument reduziert zu sein, das Zwecken dienen muß oder für diese als nutzlos erachtet wird, die nicht die eigenen sind. Der Nationalismus beseitigt aber nicht die Mechanismen der Verdinglichung, sondern er betreibt eine kompensatorische, feindliche Abgrenzung vom Außen, durch das er sein Inneres definiert. Die nationale Identität, die hier konstruiert wird, ist eine feindliche Ausgrenzung dessen, was mit den neu erfundenen Traditionen nicht mehr identisch ist. In diesem vergifteten geistigen Klima gedeihen besonders gut Rassismus und Antisemitismus. Das Nicht-Identische wird degradiert; alle Aggression richtet sich gegen es: Pogrom, Vertreibung und Massenmord standen schon einmal am Ende dieser eskalierenden Dynamik. Der Nationalismus stellt eine Gemeinschaft, die von der kapitalistischen Ökonomie in einzelne, anonyme und abstrakte Robinsonaden vereinzelt und durch das Gewaltmonopol des Nationalstaats mehr schlecht als recht zusammengehalten wurde, verzerrt wieder her. Da die ökonomischen Mechanismen, die eine Vereinzelung und Anonymisierung der Menschen vorantreiben, dabei unangetastet bleiben, kann es denn in dieser unbegriffenen und ineinander verwobenen Dynamik des Kapitalismus und Nationalismus immer so weitergehen.

Angesichts dieser theoretischen Annahmen ist es schlechterdings für eine antikapitalistische Linke unmöglich, sich in ihrem politischen Kampf affirmativ auf die Nation, resp. auf den Nationalstaat oder eine kapitalistische Weltgemeinschaft zu beziehen. Die Nation ist allenfalls ein pathischer Schutzraum gegenüber der kapitalistischen "Globalisierung"; die entfremdenden Mechanismen wären mit diesem nicht aus der Welt geschaffen. Es gibt für die Linke keine goldene Mitte zwischen Weltkapital und Nation oder zwischen Sozialismus und Nationalismus. Die unerledigten Probleme des Vergangenen arbeiten unaufhörlich und bedrohlich weiter, bis von den Menschen die Notbremse gezogen wird oder diese Welt in einer neuen Barbarei versinkt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in dem von Michael Jäger herausgegebenen Band "Globalisierung, Nation, Internationalismus. Orte des Widerstands - eine linke Debatte", Edition Freitag: Berlin 2002, ISBN 3-936252-01-7.
Weitere Beiträge u.a. von Erhard Crome, Leander Scholz, Sahra Wagenknecht und Winfried Wolf. Das Buch kann beim Freitag bestellt werden.



Anmerkungen:

[1] Vgl. Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998.

[2] Vgl. Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, Berlin 1972.

[3] Michael Hardt / Antonio Negri: Empire, Cambridge/London 2000.

[4] Siehe Spartakusbriefe, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin 1958.

[5] Bestimmten Illusionen darf man sich allerdings gar nicht erst hingeben: Die internationale Arbeiterbewegung der Zeit zwischen 1917 und 1921 kann genausowenig mit heutigen sozialen Bewegungen gleichgesetzt werden wie auch der Erste Weltkrieg nicht mit den gegenwärtigen Kriegen. Der Erste Weltkrieg: die Erfahrung des sinnlosen Massenschlachtens auf den Schlachtfeldern von Verdun und anderswo, wurde zu einem Katalysator für den in Verzug geratenen revolutionären Aufbruch der Arbeiterbewegung in ganz Europa. Die Geschichte hatte damals ein politisches Subjekt, das ihr anschließend mit der Zerschlagung der Arbeiterbewegung durch den Faschismus und Stalinismus abhanden gekommen und bis heute nicht wieder zugekommen ist. - Das bedeutet keineswegs, daß die Klasse an sich niemals mehr zur einer Klasse für sich werden könnte. Damit aber das Proletariat wieder als Praxisträger in Erscheinung tritt, müßte es sich aus seiner institutionalisierten Umklammerung seitens der ins Herrschaftssystem integrierten Gewerkschaften befreien und zu vergangenen Organisationsstrukturen zurückfinden.

[6] Vgl. Karl Marx: Drei Briefentwürfe an V.I. Sassulitsch und ein Brief an Vera, MEW, Bd. 19, Berlin 1972, S. 384-406, 242-243.

[7] Karl Marx / Friedrich Engels: Vorrede zur russischen Ausgabe des Manifests der Kommunistischen Partei (1882), in: Dies.: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, Berlin 1972, S. 557-576.

[8] Detlev Claussen: Blick zurück auf Lenin, in: Ders. (Hg.): Blick zurück auf Lenin. Georg Lukács, die Oktoberrevolution und Perestroika, Frankfurt a.M. 1990, S. 24.

[9] Vgl. Einleitung von Fernando Mires, in: Leopoldo Mármora: Nation und Internationalismus. Probleme und Perspektiven eines sozialistischen Nationbegriffs, Bremen 1983, S. 17.

[10] Ernest Mandel: Oktober 1917. Staatsstreich oder soziale Revolution. Zur Verteidigung der Oktoberrevolution, Köln 1992, S. 70.

[11] Wladimir Iljitsch Lenin: Rede über den Frieden (26.10.1917), in: Lenin Werke, Bd. 26, S. 240.

[12] Vgl. Margareta Mommsen: Von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, in: Nationalismus in Osteuropa. Gefahrvolle Wege in die Demokratie, hrsg. v. Margareta Mommsen, München 1992, S. 18-46.

[13] Siehe Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main 1966. - Siehe auch Detlev Claussen: List der Gewalt. Soziale Revolutionen und ihre Theorien, Frankfurt a.M., New York 1982.

[14] Vgl. Quo vadis, Globalisierungskritik?, Kontroverse zwischen Peter Wahl, Ulrich Brand und Ernst Lohoff, in: iz3w (blätter des informationszentrums 3. welt), Jg. 2002, Nr. 261. - Siehe auch Christiane Grefe / Matthias Greffrath / Harald Schumann: attac - Was wollen die Globalisierungskritiker? Berlin 2002.

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sopos 11/2002