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Get up, stand up

Armutsbekämpfung von unten in einer brasilianischen Kleinstadt

von Thomas Seibert

Es entstand eine Subkultur der Selbstversorgung, in der Geld aus purem Mangel kaum eine Rolle spielte.

In der Region um Itacaré im Bundesstaat Bahia an der Nordostküste Brasiliens wurde einmal im großen Stil Kakao angebaut. Als der Wert des "braunen Goldes" auf dem Weltmarkt in den Keller sackte, ging eine Plantage nach der anderen in Konkurs. Damit brach die gesamte Ökonomie der Costa do Cacau zusammen, denn auch Handel und Gewerbe hingen an dem Geld, das auf den Plantagen verdient wurde. Wem Ersparnisse blieben, der verließ die Gegend, um anderswo sein Auskommen zu suchen. Itacaré und das Land um die Mündung des Rio de Contas wurden von der Welt vergessen. Wer zurückgeblieben war, schlug sich mit Fischfang und einem bißchen Landwirtschaft durch. So entstand eine Subkultur der Selbstversorgung, in der Geld aus purem Mangel kaum eine Rolle spielte. Die Wasserrechnungen beispielsweise beliefen sich lediglich auf ein paar Centavo, weil der Verbrauch mangels Zählern nicht zu kontrollieren war. Zapfte man illegal einen der windschiefen Strommasten des Ortes an, gab es kostenfrei Elektrizität - wenn auch nur stundenweise.

Im März 1998 war es damit vorbei. In Anwesenheit des Gouverneurs von Bahia und eines Vertreters der Weltbank eröffnete der Bürgermeister von Itacaré die Bundesstraße BR 001. Die erschloß das weltabgewandte Küstenland binnen kürzester Zeit dem internationalen Tourismus. Für die Investoren eine lohnende Sache: die von Kokospalmen umsäumten Strände Itacarés brauchen keinen Vergleich zu scheuen, die umliegenden Regenwälder gehören zu den artenreichsten der Welt, die Unterkünfte zielen in Bauweise und Größe auf Gäste, die sich ihr ökologisches Bewußtsein schon mal was kosten lassen. Die "Surf City" Itacaré wurde zum angesagten Reiseziel der jeunesse d'orée nicht nur Brasiliens. Für die Leute vor Ort brachte das zahlreiche Veränderungen: in kurzer Zeit trieb die Spekulation die Bodenpreise in die Höhe und wurden die Strände privatisiert.

Mit dem (Wieder-) Anschluß an den Weltmarkt zog es allerdings nicht nur die Reichen, sondern auch die Armen nach Itacaré. Leute, die auf einen Job wenigstens für eine Saison hoffen, verdingen sich als Putzfrau im Hotel, Kellnerin in einem Restaurant, Bademeister am Swimmingpool, als Fahrer oder Dienstbote. In nur drei Jahren wuchs die Bevölkerung um mehr als ein Drittel. Viele zogen dahin, wo seit jeher schon die Ärmsten wohnen, nach Porto de Traz (zu deutsch "Hafen nach hinten raus").

Der seit Fertigstellung der Hotels im ganzen Ort rasant gestiegene Strom- und Wasserverbrauch hatte auch in Porto de Traz Auswirkungen. Die Behörden kappten die illegalen Stromleitungen und statteten die Hütten mit Zählern aus; wer die plötzlich um ein Vielfaches erhöhten Rechnungen nicht zahlen konnte, wurde von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten. Zugleich brach die städtische Müll- und Abwasserentsorgung zusammen. Die sowieso kümmerlich ausgestatteten Schulen platzten aus allen Nähten. Jetzt stehen bettelnde Kinder an der Straße, die Itacaré mit der Welt verbindet.

Gesundheit in der Krise

Auch der öffentliche Gesundheitsdienst des Ortes steckt tief in der Krise. Trotz schwieriger Bedingungen versucht jedoch eine kleine Klinik wenigstens die Grundversorgung der mittlerweile 25.000 Einwohner zu sichern. Den Mitarbeiter der Klinik reicht ihr Lohn allein nicht zum Überleben. Der Verwaltungschef betreibt nebenher einen Billardsalon, der Chefarzt bessert sein Gehalt mit den Erträgen einer kleinen Farm auf. Zustände, die auch nach der offiziellen brasilianischen Gesundheitspolitik eigentlich nicht hinzunehmen sind. Die sieht eine von qualifiziertem Personal zu leistende kostenlose Basisgesundheitsversorgung der Bevölkerung vor, gestützt auf umfassende Maßnahmen der sozialen Prävention wie der kurativen Medizin. In Porto de Traz jedenfalls kann davon keine Rede sein, hinsichtlich der Prävention nicht und erst recht nicht hinsichtlich einer auch gerätetechnisch qualifizierten klinischen Heilbehandlung. Wer ernsthaft krank wird, muß zusehen, von hier wegzukommen, am besten gleich nach Salvador. Das gilt natürlich nicht für die Touristen im nahe gelegenen Praia da Concha. Die werden privat versorgt, von selbständigen Ärzten, deren Einkommen das des Klinikpersonals weit übersteigt.

Ausgebremst durch Bürokraten

Angesichts dieser Situation kam die Klinikleitung auf eine ebenso originelle wie den sich drastisch verschlimmernden Umständen angemessene Idee. Statt die Ausstattung der Klinik wie ursprünglich vorgesehen in kleinen Schritten über Jahre zu verbessern, wollte man "groß" einsteigen. Man suchte einen Geldgeber, der bereit war, die geplanten Anschaffungen von medizinischen Geräten usw. auf einen Schlag zu finanzieren. Denn warum eigentlich sollen dörfliche Fischer und Subsistenzbauern nicht auch Zugang zu einer Versorgung haben, die in Brasilien faktisch nur für Angehörige der höheren urbanen Mittelklasse oder eben für zahlungskräftige Touristen vorgesehen ist? Ihr umfassend erweitertes Behandlungsangebot wollte die Klinik dann beim staatlichen Gesundheitssystem SUS abrechnen und damit ihre Einkünfte entsprechend erhöhen - nicht, um die eigenen kargen Gehälter zu verbessern, sondern um vor Ort diverse Präventionsprogramme finanzieren zu können. Der Geldgeber hätte seinen Kredit so gleich für zwei gute Zwecke eingesetzt: Durch sein Geld wären die technischen und ökonomischen Kapazitäten der Klinik langfristig so verbessert worden, daß die Klinik aus ihren Mehreinnahmen noch einmal denselben Betrag hätte aufbringen können, um selbst helfend einzuspringen.

Ein Projektantrag der Klinik erreichte medico international in Frankfurt. Nach Besuchen vor Ort beantragte medico Hilfsmittel der Europäischen Union. Dem Antrag wurde stattgegeben und alles sah so aus, als ob der Anschluß Itacarés an den Globalisierungsprozeß auch unvorhergesehene positive Effekte zeitigen könnte. Doch hatte man die Rechnung ohne das Gesundheitsministerium in Salvador gemacht, das noch drei Jahre später nicht entschieden hatte, ob es der Klinik den Einsatz der Geräte und damit die entsprechenden Abrechnungen erlauben würde oder nicht. Selbst das mehrfach vorgetragene Argument, dass die Klinik in eigener Initiative endlich die Leistungen erbringen wolle, auf die die Bürger Brasiliens einen gesetzlich garantierten Anspruch haben, zog bei den Bürokraten in Salvador nicht.

Weil damit ein nicht unerheblicher Teil der bewilligten EU-Mittel für den ursprünglichen Zweck nicht mehr einzusetzen war, finanzierte medico jetzt direkt die Präventionsprogramme, die mit den Gewinnen der Klinik bezahlt werden sollten. Denn Gesundheit hat nicht nur mit ärztlicher Hilfe und Medikamenten zu tun. In erster Linie ist sie eine politische Angelegenheit, die von einer intakten Umwelt, angemessenem Wohnraum, ausreichender Ernährung und einem Einkommen abhängt, das der Vielfalt der sozialen Bedürfnisse entspricht. Und von der Teilhabe an einem freien Gemeinwesen, denn individuelle und soziale Selbstbestimmung sind das einzige Mittel, um allen die Güter des Lebens zu sichern.

Erste Anlaufstelle der Präventionsprogramme war Porto de Traz. Die meisten Bewohner des Hafenviertels leben vom Krebs- und Fischfang, den sie mit Einbaum, Ruder und Netz betreiben. Die Boote sind Gemeinschaftsbesitz, denn nur wenigen gelingt es, mehr als das Überlebensnotwendige zu erwirtschaften. Zwölf Stunden Arbeit an sieben Tagen der Woche erbringen gerade mal den staatlichen Mindestlohn von 180 Reais. Um die Mikropolitiken ihrer Gemeinde besser organisieren zu können, haben die Leute eine Nachbarschaftsvereinigung gegründet, die "Associacao dos Moradores do Porto de Traz". Auf deren Versammlungen wird ausgefochten, was im Viertel von Belang ist. Dem Vorstand fällt dann zu, die Einhaltung der Beschlüsse zu überwachen, die nach gelegentlich heftig geführter Debatte verabschiedet werden. So wurden beispielsweise die an Land gebliebenen Männer verpflichtet, sich um die Kinder der Frauen kümmern, die zum Fischen und Krebsfang raus fahren.

Familienangelegenheiten

In letzter Zeit aber ging es meistens um das Problem, das im Hafenviertel allen buchstäblich in die Nase sticht - die Abwasserentsorgung. Es fehlen sanitäre Anlagen, fließendes Wasser und ein funktionierendes Leitungssystem. Die Abwässer werden über offene Erdrinnen abgeleitet, in denen auch Bauschutt und Haushaltsmüll verrotten. Bei jedem Regen ergießt sich der Unrat über die Wege, fließt mitten durch die kleinen Hütten, in denen bis zu zehn Männer, Frauen und Kinder leben. "Wenn nicht bald was passiert, wird das eine Katastrophe", sagt der Vorsitzende der Associacao, der sich Bob Marley nennt. "Vor dem Tourismus war unsere Lage auch nicht rosig, heute aber gehen fünf mal so viel ungeklärte Abwässer in den Fluß. Es stinkt zum Himmel, alle Wege verschlammen, die Fisch- und Krebsgründe in Ufernähe werden völlig verseucht. Wir müssen ständig weiter raus fahren. Das bedroht unser Überleben. Aber die Stadtverwaltung kümmert sich bloß um die Touristen. Manche hoffen auf den Ausbruch der Cholera, damit sich endlich was tut."

'Bob Marley' und die Leute von Porto de Traz hoffen nicht länger auf staatliche Hilfe. Statt dessen organisieren die Familien des Viertels in Eigeninitiative die Säuberung des Mangrovensumpfes von Müll und ungeklärten Abwässern und die Anlage von Sickergruben. Über die Associacao baten sie medico um die Finanzierung einer Vorstudie für ein angepaßtes Abwassersystem.[1] Im Januar kamen Ingenieure nach Porto de Traz, im Juli war die Studie fertig, jetzt haben die Arbeiten begonnen. Die neue Kanalisation ist ein ökologisches, ökonomisches und medizinisches Projekt: sie dient zugleich dem Schutz der Umwelt, der Erhaltung der wirtschaftlichen Lebensgrundlage und der Abwehr von Infektionskrankheiten.

Sie ist aber auch ein politisches Projekt. Denn die Hütten sind eng beieinander wild ins Gelände gebaut und das neue Leitungssystem samt Auffangbecken betrifft einige Grundstücke mehr als andere. Wo die großen Abflußrohre durchlaufen, kann nicht gebaut werden. Weil freie Grundstücke aufgrund des steten Zuzugs rar sind, geht das nicht ohne Streit ab. "Familienangelegenheiten", sagt 'Bob Marley', "und die lösen wir besser ohne Einmischung der Stadtverwaltung." Trotzdem begleiten nicht nur Ingenieure und Handwerker, sondern auch unabhängige Sozialarbeiter die Eigeninitiative der Leute. Denn im "Hafen nach hinten raus" wissen alle, daß die Stadtverwaltung das Viertel am liebsten räumen würde: "Wir sollen die Entdeckung Itacarés durch den Tourismus mit der Vertreibung aus unserem Stadtteil bezahlen. Doch die haben sich verrechnet", ist sich 'Bob Marley' sicher.


Anmerkung:

[1] Zum Itacaré-Projekt gehören neben der Unterstützung der Klinik und der Associacao auch die ökonomische Förderung von Kleinbauern, die sich weigern, ihr Land an Investoren zu verkaufen und sich statt dessen um die Wiederaufforstung des Regenwaldes kümmern, sowie eines Hauses für rund 100 Kinder der Armenviertel. Weitere Infos unter info@medico.de.


Thomas Seibert ist Mitarbeiter von medico international.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 264 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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https://sopos.org/aufsaetze/3db03fb9dd909/1.phtml

sopos 10/2002