von Michael Fischer
"Globalisierung" im Sinne der Errichtung weltweiter Kontrolle und Sicherheit ist keine Utopie mehr, sondern ganz reales, konkretes Projekt der US-amerikanischen Regierung.
Am 05. Juni 2002 fand in Hannover im Rahmen des "America Scholar Network" - eine Initiative der Hannoverschen Soziologen Detlev Claussen und Michael Werz - eine Veranstaltung mit dem Titel "The New Germany from an American Perspective" statt. Die eingeladenen amerikanischen Gäste, Steven Erlanger und Jeffrey Gedmin, sind bezüglich dieses Themas keine Randfiguren - Erlanger leitet das Berliner Büro der New York Times, Gedmin ist Direktor des Aspen Institute in Berlin, einer Institution, die sich quasi der Aufklärung internationaler Führungseliten widmet[1]. Letzterer schreibt darüber hinaus auch für Zeitungen wie die New York Times, die Washington Post und beispielsweise auch für die FAZ und die Süddeutsche.
Diese Veranstaltung soll hier zum Anlaß genommen werden, sich über die jüngeren Entwicklungen transatlantischer Perspektiven, sowie der Macht- und Entwicklungsdifferentiale Gedanken zu machen. Denn dies war letztlich auch Thema von "The New Germany from an American Perspective".
Die Gäste aus den USA redeten frei, ohne Manuskript, und versuchten von Beginn an eine informelle, lockere und entspannte Atmosphäre in der Beziehung zu den ca. 20 anderen, mehrheitlich deutschen Teilnehmern herzustellen. Ein Dialog zwischen amerikanischen und europäischen, bzw. deutschen Bürgern auf Augenhöhe sozusagen, per "Du", in provokantem, aber freundlichem Ton.
Daß diese "gemeinsame Augenhöhe" jedoch nur auf eine Ebene zutraf, die man als menschlich im weitesten Sinne bezeichnen könnte, wurde früh klar. Wir sind alle nur Menschen und insofern gleich, ganz gewiß, aber wir sind eben auch Angehörige der Vereinigten Staaten von Amerika einerseits und Angehörige der Bundesrepublik Deutschland andereseits - und insofern in gewisser Hinsicht verschieden. Zwischen diesen beiden Ländern, den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland, herrschen erhebliche Macht- und Entwicklungsdifferentiale.
Erlanger, der bis zum September 2001 zwei Jahre lang das Büro für Zentraleuropa und den Balkan der New York Times geleitet hatte, stellte zunächst heraus, daß sich seit dem "Kalten Krieg" und auch nach dem 11. September an den transatlantischen Beziehungen nichts wesentlich geändert habe - zumindest von amerikanischer Seite. Die Vereinigten Staaten nähmen wie gehabt ihre Aufgaben in der Welt wahr, und obzwar der 11. September zunächst zu einem gewissen Rechtsruck in den Vereinigten Staaten geführt habe, sei der längerfristige, insgesamt positive Effekt doch ein erhöhtes Bewußtsein der Amerikaner dafür gewesen, daß es auch außerhalb der Vereinigten Staaten eine Welt voller Spannungen, Konflikte und Probleme gebe - und damit auch Bedrohungen, die die Amerikaner dazu verpflichteten, die Lage auf dem Globus zu "stabilisieren". Einen grundlegenden qualitativen Wandel amerikanischer Außenpolitik, insbesondere transatlantischer Politik bedeute dies jedoch nicht - Aufgaben dieser Art wurden auch schon lange vor dem 11. September wahrgenommen.
Die vormals als "Alleingang" kritisierte "humanitarian intervention" im Kosovo sei ein Ausnahmefall gewesen, der im nachhinein auch in amerikanischen Regierungskreisen als "schlechte Idee" bewertet worden sei. Allerdings sei es das Zögern der europäischen Staaten angesichts eines Genozids vor ihrer eigenen Haustür gewesen, das die USA letztlich dazu gezwungen hätte, auf solch forsch erscheinende Weise einzugreifen. Doch so etwas werde sich Erlanger zufolge gewiß nicht wiederholen. Nicht in dieser Form jedenfalls.
Auf der anderen Seite hätten aber die Bundeswehreinsätze im Kosovo eine qualitative Veränderung der Außenpolitik des mittlerweile ja geeinten Deutschlands nach dem "Kalten Krieg" markiert. Auch Deutschland sei sich offenbar seiner Verantwortung im Sinne der Verhinderung von Genoziden bewußt geworden, egal wo sie stattfänden. Bedenklich sei es jedoch gewesen, daß Deutschland sich mit der Anerkennung dieser Verantwortung offenbar so schwer getan habe.
Dabei sei es bemerkenswert, daß die öffentliche Meinung in Deutschland geradezu von monolithischer Struktur sei - zumindest im Vergleich zur kontroversen öffentlichen Meinung in den USA. Andererseits sei eine gewisse Diskontinuität und Inkonsistenz der Politik der gegenwärtigen Regierungskoalition zu beobachten, hart am Rande der Seriosität. Völlig ausgeschlossen, so Erlanger, daß zumindest die SPD für die nächste Legislaturperiode wieder in eine Regierung gewählt werde. Was dann komme, müsse man sehen.
Gedmin erklärte in seinem anschließendem, sehr unterhaltsam gestalteten Beitrag die Veranstaltung zunächst zur Märchenstunde. Die Geschichte des deutsch-amerikanischen Verhältnisses seit '45 in drei Kapiteln. Die Positionen, soweit sie vom Autor erinnert werden, sollen hier entgegen der üblichen Darstellungsweise, im Indikativ benannt werden. Quasi als Einladung dazu, mal eine US-amerikanische regierungskonforme Perspektive zu übernehmen. "Once upon a time ...", begann er seine story.
Kapitel eins: Der sogenannte "Kalte Krieg". Sheriff USA und Deputy Deutschland. Ein klar umrissenes Aufgabenverhältnis, das den Deutschen nicht immer gefallen hat. Oft haben die Deutschen sich von den USA gegängelt gefühlt, aber es war doch ein Verhältnis des gegenseitigen Aufeinanderangewiesenseins. Die Deutschen brauchten die USA, nicht nur im Rahmen von Aufbauprogrammen, sondern auch militärisch hinsichtlich der Verteidigung gegenüber dem kommunistischen Osten. Und in derselben Hinsicht brauchten die USA auch die Deutschen als Partner am östlichen Rande des demokratischen Europas, um ihre Sicherheits-Aufgaben wahrnehmen zu können.
Kapitel zwei: Zwischen 1989 und 1991 änderte sich die Lage drastisch, der "Kalte Krieg" war zunächst einmal beendet. Die USA blieben zwar auf ihre Weise Sheriff, aber Deutschland war nicht mehr der Deputy, sondern eine vollwertige, nunmehr vereinte Nation in der Mitte Europas. Deutschland erlebte damit nicht nur eine Befreiung, sondern auch eine neue Verantwortung. Der Verlauf der deutschen Beteiligung am NATO-Militäreinsatz gegen Jugoslawien 1999 hat jedoch gezeigt, daß die Deutschen sich mit ihrer Verantwortung schwer tun. Insgesamt hat die Episode erwiesen, daß Europa nicht in der Lage ist, die eigenen Belange zu regeln, selbst wenn sie sich unmittelbar vor der eigenen Haustür befinden. Zumindest was die militärische Seite betrifft. Dabei hatten die USA seit Ende des "Kalten Krieges" immer wieder auf die Dringlichkeit und Relevanz effektiver militärischer Verteidigung und international mobiler Einsatztruppen hingewiesen. Mängel und Fehler einer ausschließlich am Verhandlungsprinzip orientierten Außenpolitik der europäischen Staaten, auch und insbesondere Deutschlands, sind gerade am Kosovo-Konflikt deutlich geworden - wie lange hätten die Europäer und gerade Deutschland Milosevics Völkermord noch zugesehen, wenn die USA im Rahmen der NATO nicht vorangeschritten wären? Brauchen die Amerikaner die Europäer in solchen Angelegenheiten? Die Europäer brauchen auf jeden Fall die Amerikaner, so viel hat Jugoslawien gezeigt.
Kapitel drei: Wie man sich denken kann, eingeläutet vom 11. September 2001. Die Terroranschläge hoben global security mit einem Mal nach ganz oben auf die Tagesordnung. Die Europäer erwarteten zunächst einen unmittelbaren Racheschlag der USA. Aber die USA haben nicht angefangen, wie wild herumzubomben, sondern begannen nach sorgfältigen Konsultationen mit Dutzenden von Staaten einen wohlüberlegten Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Keine Spur von unüberlegtem, rachegeleitetem Handeln, Unilateralismus oder "Alleingängen". Im Gegenteil.
Der internationale Terrorismus, wie er sich am 11. September in den Vereinigten Staaten unübersehbar an der Oberfläche manifestierte und Tausenden von Menschen das Leben kostete, kann nicht wirksam bekämpft werden, indem man sich einfach nur auf die Terroristen selbst konzentriert. Der Kampf gegen Staaten, die Terrorismus unterstützen, indem sie z.B. finanzielle Mittel zur Verfügung stellen oder Ausbildungslager von Terroristen unter Patronage stellen, ist elementarer Bestandteil des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus. Die Vereinigten Staaten haben bei diesem längst fälligen Kampf nicht nur um Unterstützung und auch nicht nur um Zustimmung gebeten, sondern auch Diskussionen um das "wie" des Kampfes geführt. Die Rolle der NATO war mitnichten nur auf die Feststellung des Bündnis- und Verteidigungsfalles beschränkt, sondern sie war auch Gremium der Auseinandersetzung um Mittel, Strategien und Ziele. Und wo dieses Gremium der Dringlichkeit der Lage nicht mehr gerecht wurde, hat man sich mit Mitgliedsstaaten der NATO einzeln abgesprochen, wie z.B. mit Großbritannien. Doch nichts was das "wie" und "wozu" des Einsatzes im größeren Maßstab betraf, wurde im Alleingang entschieden.
Es geht um die "neue Schlachtenordnung" - "die große Auseinandersetzung zwischen der politischen Kultur des Westens und die seiner Feinde."
All dies hätten die USA nicht tun müssen. Sie waren eindeutig Ziel und Opfer terroristischer Anschläge kriegerisch-militärischer Größenordnung gewesen. Nachdem feststand, daß Afghanistan als Staat maßgeblich darin verwickelt und erhebliche Verantwortung für den Tod tausender (nicht nur) amerikanischer Staatsbürger trug, hätten die USA auch mit gutem Recht alleine Afghanistan den Krieg erklären können. Und notfalls, wenngleich unter Schwierigkeiten, hätten sie ihn auch alleine führen können. Daß sie es nicht taten, sondern weitestgehend im Rahmen des NATO-Bündnisses und schließlich auch der Vereinten Nationen handelten, hat zwei Gründe:
Erstens, internationaler Terrorismus ist nicht nur ein Problem, das alleine die Vereinigten Staaten betrifft - es betrifft alle Länder, die sich zu Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit bekennen. Die Anschläge vom 11. September waren nicht nur gegen die USA gerichtet - sie waren ein Angriff gegen die Zivilisation schlechthin.
Zweitens, die USA wollen nicht nur für sich selbst Sicherheit vor solchem Terror, sondern sie wollen, daß alle Menschen in diesen Genuß kommen. Sie wollen diesen Kampf gemeinsam führen und das heißt auch: gemeinsam planen. Daran haben sich die USA orientiert. Sie mußten aber feststellen, daß die Unterstützung in dem Bereich, in dem es letztlich drauf ankommt: im militärischen Bereich, durch andere Länder und Staatenverbünde wie die EU kaum geleistet werden kann.
Konsultationen wie mit Großbritannien haben einen entscheidenden Beitrag zu den Perspektiven nachhaltiger Stabilisierung Afghanistans und der Errichtung eines freiheitlichen demokratischen Systems geführt, und auch die Bonner Konferenz, auf der sich die neue demokratische Regierung Afghanistans zunächst konstituierte, kann in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Aber diese Beiträge wären wertlos, wenn man nicht mit adäquaten militärischen Mitteln einem repressiven, terroristischen Regime begegnen kann, das sich nicht mit wirtschaftlichen Sanktionen oder diplomatischen Mitteln aus dem Amt bewegen läßt. Ohne entsprechende Mittel der Durchsetzung bleiben solche Beiträge 'fiction'. Und der Krieg, der die Bevölkerung Afghanistans von einem repressiven und terroristischen Regime befreite, ist auch noch nicht ganz vorbei.
Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus hat quasi einen neuen "Kalten Krieg" unter veränderten Bedingungen und mit anderen Mitteln eingeläutet. Doch aufgrund entscheidender Versäumnisse in der Entwicklung der militärischen Organisation haben Deutschland und auch andere europäische Staaten die Möglichkeit verspielt, dabei ernsthaft auch nur die Rolle eines Deputy spielen zu können. Sie können sich nicht einmal selbst angemessen verteidigen.
Folgendes Szenario zur Illustration dieses Sachverhaltes: In Frankfurt bomben Terroristen das halbe Bankenviertel hinweg, oder in Berlin den Reichstag, oder eine große Universität zur Hauptvorlesungszeit. Tausende deutscher Staatsbürger (und andere) sterben. Es wird festgestellt, daß die Terroristen in einem Land wie Afghanistan, oder z.B. dem Irak ausgebildet wurden, und man wird darauf aufmerksam, daß dort weiterhin Terroristen ausgebildet, zu ähnlichem fähig gemacht werden. Diplomatische Bemühungen bleiben erfolglos, die Regierung jenes Landes unterstützt weiterhin Terroristen. Jetzt stelle man sich mal vor: Ist Deutschland in der Lage, einem solchen Land den Krieg zu erklären, um weitere Anschläge zu verhindern? Oder gar einen solchen Krieg über erhebliche Distanzen hinweg zu führen? Die Antwort kann man sich ja denken.
Dies ist in etwa die Essenz des "New Germany from an American Perspective". Und noch ein wenig mehr. Dies ist das Szenario, in dessen Rahmen die transatlantischen Verhältnisse gesehen werden. Die "New World Order", unter der Administration Bush senior erdacht, scheint schärfere Konturen zu bekommen, farbenreicher zu werden. Aus "Aggressor- und Schurkenstaaten" sind "Terrorstaaten" geworden. Der neue "Kalte Krieg" heißt "Kampf gegen den Terror". Mit dem Ende der Blockkonfrontation und der entsprechenden Abschreckungspolitik ist die Welt nicht sicherer oder friedlicher geworden.
Amerikakritiker und Antiamerikaner gleichermaßen dürften hier ein reichliches Angebot an Steilvorlagen für Kritik finden. Dabei ist es nicht immer leicht, sachliche Kritik von Antiamerikanismus, letztlich anti-modernen Ressentiments, zu scheiden - "Amerikafeindliche Metaphorik als Ausdruck von Weltanschauung und Ressentiment einerseits, sowie Kritik an wahrlich kritisierenswerten Auswüchsen in den Vereinigten Staaten, an Mißständen der politischen Kultur, an Sozialstruktur und Wirtschaftsgebaren andererseits lassen sich oft nur schwierig von einander trennen.", schreibt Dan Diner über Antiamerikanismus in Deutschland.[2] Kritische Nachfragen und Bemerkungen während der Veranstaltung blieben jedenfalls nicht aus.
Hier soll jedoch versucht werden, die Veranstaltung als einen bestimmten Ausschnitt aus der "real existierenden internationalen Politik" zu begreifen, und versuchen zu verstehen, was es für diese Realität bedeutet, wenn sich einflußreiche Männer wie Erlanger und Gedmin in dieser Art und Weise auf einer Veranstaltung mit dem Titel "The New Germany from an American Perspective" darüber äußern.
Erlanger und Gedmin saßen während der Veranstaltung fest im Sattel und vermittelten zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, als zweifelten sie an irgend etwas von dem, was sie sagten, noch daran, wie sie es sagten. Während zwar Erlanger noch verhaltene Kritik an der US-amerikanischen Medienöffentlichkeit unmittelbar nach dem 11. September anmeldete, und Anzeichen für Selbstzensur und unprofessionelles Verhalten im publizistischen Bereich und bei einigen Politikern bemängelte, die auch heute, wenn schon weitgehend, so doch nicht vollständig überwunden seien, so vermittelte der lebhaftere und insgesamt redefreudigere Jeffrey Gedmin einen quasi authentischeren Eindruck: Er schien genau die Perspektive zu repräsentieren, die wohl in aller Aufrichtigkeit[3] von seiten der US-amerikanischen Regierung vertreten wird. Jedoch nicht nur von der Regierung. Gedmin sprach von "wir" und erklärte: "When I say 'we' I mean all those people who should think like me." Kernbestand dieses Denkens ist die aufrichtige Überzeugung von der Richtigkeit der amerikanischen Mission, identifiziert mit den fundamentalen Werten der (westlichen) Zivilisation - "Freiheit", "Gerechtigkeit", "Wohlstand" und nicht zuletzt "Sicherheit". Es ist aber zugleich auch das Absehen von Widersprüchen und diesen Werten entgegenstehenden privaten Interessen, die die reale Umsetzung der "amerikanischen Mission" gleichfalls mittragen.
Von der Richtigkeit dieser oder jener "Mission" sind aber auch ganz andere überzeugt - die Frage ist nur, wer über welche Mittel verfügt, um eine "Mission" auf die eine oder andere Art durchzusetzen. Erlanger und Gedmin bemühten sich sehr, kritische und kontroverse Diskussion als elementare Bestandteile US-amerikanischer Kultur und Politik herauszustellen - was im übrigen sicherlich auch zutrifft, vielleicht sogar mehr als beispielsweise in der Bundesrepublik[4]. Kritik an den negativen Seiten US-amerikanischer Regierungspraxis darf nicht davon ablenken, daß die politischen Verhältnisse in den europäischen und vielen anderen Ländern häufig noch erschreckender und bedenklicher sind. Das zentrale Problem scheint aber noch ein anderes zu sein: das immense Macht- und Entwicklungsgefälle zwischen den USA und den Staaten Europas (und allen anderen einzelnen Staaten). Man muß dieses Gefälle berücksichtigen, wenn man die Genese amerikafeindlicher Ressentiments in europäischen Ländern und anderswo verstehen möchte, denn diese Tatsache wird nicht selten als Unrecht oder Bedrohung erfahren - nicht nur von jenen, die eigentlich lieber selber an Stelle der USA wären.
Man muß bestimmte Daten und Fakten zur Kenntnis nehmen, wenn man verstehen will, was, wie und warum auf diesem Planeten gegenwärtig passiert. Die Vereinigten Staaten sind allen anderen einzelnen Staaten dieses Planeten in militärischer und auch in organisatorischer Hinsicht als Staatsgebilde haushoch überlegen. Vielleicht ist es ja möglich, das erst einmal als Faktum, oder wenn man skeptischer ist, als Hypothese zu begreifen, und nicht im Sinne eines empörten Vorwurfs. Das "Jahrbuch des Internationalen Konversionszentrum Bonn", das sich schwerpunktmäßig mit Abrüstung und Konversion im Jahre 2001 befaßt, konstatiert jedenfalls bezüglich der entsprechenden Zahlen eindrucksvoll:
"Fast 40 Prozent der globalen Rüstungsausgaben können allein den USA zugerechnet werden. Diese Zahlen berücksichtigen noch nicht die Auswirkungen der Terrorangriffe des 11. Septembers, die zu einem beträchtlichem Anstieg der Militärausgaben führen können. [...] schon vor der Bekanntgabe der Budgeterhöhung zur Unterstützung des 'Krieges gegen den Terror', hatten die US-Militärausgaben bereits einen Stand wie zu Hochzeiten des Kalten Krieges erreicht. [...] Die Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung (F&E), die in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zurückgegangen waren, befinden sich wieder im Aufwärtstrend und haben eine Höhe von rund 60 Milliarden US-Dollar erreicht. Die USA geben mit Abstand am meisten für militärische F&E aus. Nahezu zwei Drittel der Gesamtausgaben entfallen auf die USA, die allein zehnmal mehr aufwenden als das zweitplazierte Großbritannien."[5]
Nun stellt aber eine Politik der Regierenden, die militärische Mittel offen als Element des 'policy-making', und nicht nur der territorialen Selbstverteidigung einbezieht, gewaltlose politische Diskurse vor bestimmte Probleme. Dan Diner, Analytiker deutschen Antiamerikanismus' und noch einiges mehr, sprach jedenfalls bereits 1993 deutliche Worte:
"Wie vieles in Deutschland nach 1945 äußerten sich [antimodernistische, antiwestliche und antiuniversalistische] Tendenzen signifikanterweise kontraphobisch, das heißt in vermeintlich gegenläufiger Verkehrung verpuppt. Doch gerade in der radikalen Verkehrung zur deutschen Vergangenheit steckt vermutlich ein größeres Maß an Identifikation, als in erkannter und distanzierter Nähe. Dies gilt nicht allein für einzelne Personen, sondern für eine ganze, im Zustand offenkundigen Siechtums sich befindlichen politischen Kultur; und im übrigen auch für jene gegen alle neue Wirklichkeit sich stemmenden wohlmeinenden Verteidiger eines überkommenen Paradigmas, wie es der alten Bundesrepublik in ihrer beschaulichen, vom amerikanischen Atomschirm garantierten Nischenexistenz zugrunde lag und dessen Schutz die Illusion nährte, die Welt lasse sich jenseits von Konflikt und Herrschaft denken. So geschwächt wird man für die neue Schlachtenordnung kaum gewappnet sein - für die große Auseinandersetzung zwischen der politischen Kultur des Westens und die seiner Feinde."[6]
Interessanterweise redeten Erlanger und Gedmin über fast nichts anderes - und zwar als Aufgabe globalen Maßstabs, als "global challenge", genannt "globale Sicherheit". TOP 1 in Washington. Dabei entziehen sich nicht wesentliche Teile militärischer Praxis per se ziviler Kritik, allein schon aus innen- und außenpolitischen strategischen Gründen. Die Informationen könnten dem ausgemachten "Feind" in die Hände fallen, die innenpolitische Lage könnte destabilisiert werden. Noch begrenzter sind in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten ziviler Kritik an der Militärpolitik der Vereinigten Staaten aus den europäischen Ländern heraus, ganz unabhängig davon, ob diese Militärpolitik und ihr größerer Zusammenhang aus einem mißverstandenen Unbehagen oder aus Einsicht in die Notwendigkeit heraus formuliert wird.
Für das Projekt "globale Sicherheit" spielten Deutschland und die anderen europäischen Staaten jedenfalls, so Gedmin und Erlanger, unter Angehörigen Washingtoner Regierungskreise eine sehr nebensächliche Rolle. "Europe is fixed!", gab Gedmin die Perspektive Washingtons wieder, und wiederholte es gleich zweimal. Europa sei kein Problem, dort drohe keine Gefahr, man kann sich wichtigeren Dingen zuwenden. Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts sei aus der Sicht der Vereinigten Staaten die "globale Sicherheit", und in dieser Hinsicht sei Europa zwar kaum ein nennenswerter Teil des Problems, aber eben auch kein nennenswerter Teil der Lösung. "You had the chance to take part in designing the new century. You did not seize it. Now we'll have to do it without you.", erklärte Gedmin. Das war die ungeschminkte Freilegung des Subtextes vom "Kampf gegen den Terror/ gegen die Achse des Bösen":
Daß "wir" ein Recht haben, "uns" gegen "unsere Feinde" zu verteidigen, ist fast immer und fast überall eine authentische Überzeugung gewesen. Wenn die Überzeugung hinzukommt, diese Verteidigung müsse durch Angriff erfolgen, kommt die »Logik der Destruktion« auf Touren.
Es geht darum, eine Art globale militärische Kontrolle zu erreichen. Damit das nicht falsch verstanden wird - die Regierenden der Vereinigten Staaten haben nicht vor, eine Weltherrschaft zu errichten, und es geht auch nicht um eine amerikanische Variante des Britischen Empire. Doch es geht um die Sicherung der nationalen Interessen der USA, ihrer Souveränität und um den Schutz US-amerikanischer Staatsbürger, egal wo sich diese jeweils auf dem Globus befinden. Bedingung hierfür ist die globale Kontrolle physischer Gewalt unter der Führung der USA, die verstanden wird als die fortschrittlichste Gesellschaft dieses Planeten. Aus US-amerikanischer Regierungsperspektive geht es bei diesem Projekt auch überhaupt nicht mehr um das "ob", sondern um dessen praktische Gestaltung. Daß es dabei auch um die Sicherung von Märkten, Ressourcen, Transportwegen geht, braucht wohl nicht mehr eigens hervorgehoben werden. "Globalisierung" im Sinne der Errichtung weltweiter Kontrolle und Sicherheit ist keine Utopie mehr, sondern ganz reales, konkretes Projekt der US-amerikanischen Regierung - nach dem Motto: "irgendwer muß es ja machen". Andere dürfen auch mitgestalten: wer dabei mitmachen möchte und über entsprechende Mittel verfügt, ist herzlich dazu eingeladen. Wer nur mitmachen möchte, aber nicht so richtig kann, darf zusehen, beraten und hin und wieder Scherben einsammeln, nach der eigentlichen 'action' Aufbauarbeit leisten. Und wer überhaupt nicht mitmachen möchte, der macht sich im schlimmsten Falle verdächtig und wird schon sehen was er davon hat.
Man dürfe nur nicht vergessen, so Gedmin, daß das Projekt nicht "a global market in favour of US-interests" hieße, sondern erst einmal "global security", und zwar für alle und jeden und überall. Wäre Europa in einem fortgeschrittenerem Entwicklungsstadium, könnte es sich auch stärker in dieses Projekt einbringen. Aber - "in Europe, people are still speaking of building things, of building Europe. In the United States no one speaks of that - the people speak of doing things." Wie könnte man dies übersetzen? Unter anderem vielleicht auch so: "In Europa sprechen die Regierenden immer noch über den Aufbau weltweit einsetzbarer Interventionstruppen und entsprechender Militärtechnik. Das steht in den USA schon gar nicht mehr auf der Tagesordnung. Dort sprechen die Regierenden nur noch über ihren Einsatz."
Auch hinsichtlich der politischen Organisation und wirtschaftlicher Struktur steht Europa weit hinter der Entwicklung der Vereinigten Staaten zurück. "You just got your Euro a few months ago!" So gesehen ist die Europäische Union im Vergleich zur USA sehr jung. Zu jung, um in der selben Liga mit zu spielen.
Das mag vielleicht als Essenz des "the New Europe from an American Perspective" gelten, was das Thema der Veranstaltung gleichfalls treffend charakterisiert hätte. Europa als Entwicklungsland. Und die Welt als Ort US-amerikanischer Politik - und derjenigen, die dabei mithalten können. Vor aller Empörung ist jedoch festzustellen, daß der entscheidende Punkt darin liegt, daß die Vereinigten Staaten dies aufgrund militärisch-organisatorisch-ökonomischer Stärke zwar nicht in einem absoluten, aber in einem besonderen Maße können - wollen tun dies auch Regierungen ganz anderer Staaten, frei nach dem Isnogud-Schema: "Wir wollen Supermacht sein, anstelle der Supermacht." Die Welt sieht anders aus. Sehr anders für die Regierenden des Staates, der diese Supermacht konstituiert.
Man hat nicht oft die Gelegenheit, mit real existierenden Menschen zu diskutieren, die eine solche Perspektive nicht nur repräsentieren, sondern in entscheidenden Positionen auch an deren Gestaltung beteiligt sind. Was auch immer mit 'global governance' im einzelnen bezeichnet wird, aus der Sicht von Männern wie Erlanger und Gedmin geht es nicht nur um die Werte, die dabei mit im Spiel sind, sondern um die realen Grundlagen dieser Politik in der militärischen Technik und Organisation. Und diese werden mit der weltweiten Militarisierung der Politik immer realer. Man muß Erlanger und Gedmin nicht in der Begründung dieser fortschreitenden Militarisierung folgen - aber man kann ihnen glauben (und auch nachprüfen), daß die Regierenden der Vereinigten Staaten und anderer hoch-entwickelter Länder im 21. Jahrhundert - nicht zuletzt auch Deutschlands - den Krieg als legitimes, weil ja leider notwendiges Mittel politischer Auseinandersetzung begreifen. Wie Dan Diner schrieb: es geht um die "neue Schlachtenordnung" - "die große Auseinandersetzung zwischen der politischen Kultur des Westens und die seiner Feinde." Wer auch immer als ein solcher "Feind" identifiziert werden mag, diese "Schlacht" wird ausgetragen. Sofern es nicht zu einer regelrechten Revolution, einem 'U-Turn' kommt.
Es ist schon bemerkenswert, daß die Diskussion um friedliche Modi der Konfliktlösung, um Entwicklungshilfe und Zusammenarbeit so sehr von der Bildfläche internationaler Politik und ihrer Diskurse verdrängt worden ist. Auch die Frage nach dem Entstehungszusammenhang von Terrorismus, der Sozio- und Psychogenese von Terroristen, ist offenbar nur wenig von öffentlichem Belang und noch weniger von Interesse für politische Handlungsorientierungen. Dies übrigens in Verbindung zu bringen mit bestimmten bestehenden Strukturen der hochentwickeltsten Länder, ist im mainstream der Medienöffentlichkeiten und in der etablierten politischen Diskussion (als politische Diskussion der Etablierten...) genauso verpönt, wie z.B. die Genese von amoklaufenden Minderjährigen in diesen Ländern als rätselhaft erscheint. Kritik an der "eigenen" Gesellschaft wird als Affirmation der "Anderen" verstanden - kritisiert man US-amerikanische Flächenbombardements in Afghanistan, erscheint man als solidarisch mit Terroristen und einem fundamentalistischen, anti-demokratischen Regime. Sachbezogene Kritik ökonomischer Ungleichheiten wird als Angriff auf die Zirkulationssphäre gedeutet, als "antisemitisch" klassifiziert und schließlich moralisch delegitimiert[7]. Der Hinweis, daß es in dem Krieg gegen Afghanistan und voraussichtlich ab kommendem Frühjahr gegen den Irak auch um den Zugriff privater Konzerne auf Ressourcen und Transportwege geht, erscheint als verschwörungstheoretische Verirrung, zu banal oder anti-modernistisch. Moralische Kritik an der Militarisierung wird mit dem nüchternen Hinweis auf ihre Faktizität ausgehebelt - es gibt Krieg, es gibt Terror, deshalb muß auf- und umgerüstet werden. Versuche, das Freund-Feind-Schema zu durchbrechen, erscheinen als Ketzerei. Oder, wie es zu Zeiten des Krieges üblich ist, als Verrat. Es fällt schwer, die Dynamik zu übersehen, die sich daraus ergibt.
Reicht der Hinweis auf die ökonomischen Interessen in diesem Prozeß als Begründung für seine Dynamik aus? Ökonomische Interessen im großen Maßstab sind allerdings konstitutiv, elementar. Man kann sie einfach nicht vernachlässigen, wenn man wissen möchte wann, wo und worum Krieg geführt wird. Aber Soldaten gehen nicht mit der Motivation in den Krieg, Shell oder Exxon neue Ölfelder zu sichern, und Terroristen morden auch nicht aus der Motivation heraus, Osama bin Ladens geheime Konten anschwellen zu lassen. Und es sieht auch nicht danach aus, als wollten Terroristen den Bevölkerungen armer Länder vor allem anderen eine ausreichende Grundversorgung sichern. Massensympathien der einen für großformatige Militäreinsätze und der anderen für Terroristen lassen sich nicht unmittelbar aus ökonomischen Interessen ableiten. Ideologische Manipulation hat ihre Grenzen und ebenso ihr Rohmaterial in der Identifizierung der Individuen mit ihrer jeweiligen Gesellschaft. Angst wird erzeugt, massenmedial produziert und reproduziert - ob nun über Transistorradios, Zeitungen oder digitales Fernsehen. Darum ist aber diese erzeugte Angst weder weniger real, noch heißt das, daß sie keine realen Wurzeln hätte. Zu denken, daß diejenigen, die die ideologische Maschinerie in Gang halten, dies auf der Grundlage 'rationaler' Einsicht in die Realität oder nur aus bewußten Herrschaftsinteressen tun, ist ein Irrtum. Daß "wir" ein Recht haben, "uns" gegen "unsere Feinde" zu verteidigen, ist fast immer und fast überall eine authentische Überzeugung gewesen. Wenn die Überzeugung hinzukommt, diese Verteidigung müsse durch Angriff erfolgen, kommt die "Logik der Destruktion" auf Touren.
Norbert Elias, der versucht hat, den europäischen Zivilisationsprozeß jenseits der Selbstidealisierungen und -mißverständnisse zu verstehen und zu erklären, hat sich auch mit dem Zusammenbruch der Zivilisation beschäftigt. Aktualisiert man den Begriff der Nation, bzw. des Nationalstaates und paßt ihn der Gegenwart an, versucht man Nation, Staat, Land und Bevölkerungsgruppen nicht als notwendig deckungsgleich zu verstehen, so hat man den Eindruck, eine Beschreibung vom Beginn des 21. Jahrhunderts zu lesen:
"Es ist für Mitglieder von Nationalstaaten sinnstiftend und höchst wertvoll, dieser einen und keiner anderen Nation anzugehören [...]. Der Wert und Sinn ihres individuellen Lebens scheint in letzter Instanz von der Erhaltung und Integrität ihres Landes abzuhängen. Und die Furcht vor der Zerstörung dieser Integrität, die Furcht vor der Zerstörung dessen, was für das eigene Leben als sinn- und wertvoll erscheint, äußert sich fast automatisch in offenen oder versteckten Androhungen der Zerstörung dessen, was den Mitgliedern anderer Nationen als sinn- und wertvoll erscheint - die ihrerseits in demselben Dilemma gefangen sind, daß sie die tiefe Unsicherheit, die sie in bezug auf die Fortdauer ihres eigenen Landes oder ihrer Ländergruppe und damit auf die Fortdauer hochgeschätzter Werte und Glaubensdoktrinen empfinden, eine Feindschaft gegen andere Länder oder Ländergruppen erzeugt, die sich aus demselben Grunde bedroht und gleichermaßen unsicher fühlen. Auch auf dieser Ebene begegnet man Prozessen der wechselseitigen Verstärkung. Sie sind nicht auf die Verstärkung gemeinsamer Glaubensvorstellungen und Ideale innerhalb einer Nation begrenzt. In den Beziehungen zwischen Nationen zeigen sie sich besonders deutlich im reziproken Charakter ihrer Bedrohungen und ihrer Furcht voreinander. Auf beiden Ebenen können solche Bewegungen in eine Dynamik zunehmender Eskalation geraten. Und wann immer das geschieht, geht es mit der Zivilisation abwärts, ist ihr Zusammenbruch nahe."[8]
Der "Sturm des Glaubens"[9] und der "Kreuzzug gegen das Böse" sind komplementär[10]. Man hätte annehmen können, daß die insgesamt machtstärkere Seite in diesem "Doppelbinder" am 11. September zu der Einsicht gelangt wäre, daß er nicht vorrangig militärisch zu lösen ist. Statt dessen haben sich die Regierenden der Vereinigten Staaten und anderer hochentwickelter Länder dazu entschieden, die nächste Stufe der Doppelbinderdynamik zu betreten. Der Bericht des Internationalen Konversionszentrums Bonn bringt das Ausbleiben des Lernerfolgs in seinem Fazit ziemlich unmißverständlich zum Ausdruck:
"Die Anschläge des 11. Septembers haben lebhafte politische und akademische Diskussionen über die Vorgehensweise und Ursachen des Terrorismus angefacht. In Anbetracht des geringen Wissens über die Wurzeln des Terrorismus, sollten mehr Bemühungen unternommen werden, die Strukturen der Konflikteskalation zu verstehen und dagegen einzuschreiten. Der 'Krieg gegen den Terror' sollte auf eine breitere Basis gestellt werden und sich den Ursachen sowie den Bedingungsfaktoren von Terroranschlägen stellen. Unterstützt werden müssen Konfliktlösung, Armutsbekämpfung, Meinungsfreiheit, eine wirkungsvolle Justiz, Rechtswirksamkeit und gegenseitiger Respekt von Völkern und Kulturen - ebenso wie gemeinsame Sicherheit und Rüstungskontrolle. 'Menschliche Sicherheit' ist ein zentrales Konzept von wachsender Bedeutung. Terroristische Aktionen können nicht durch kostspielige Hochtechnologie verhindert werden. Der Glaube an eine technologische und militärische Unverletzbarkeit hätte eigentlich erschüttert werden müssen; aber die anhaltende Stagnation in der internationalen Rüstungskontroll- und Sicherheitsagenda weist darauf hin, daß diese Lektion noch nicht gelernt wurde."
Es erscheint zweifelhaft, daß faktische "globale Sicherheit" ohne eine Art global und demokratisch reguliertes Gewaltmonopol Realität werden könnte. Genauso zweifelhaft erscheint es jedoch auch, zu glauben, eine solche Sicherheit vor allem durch das neuerliche Entfesseln eines Rüstungswettlaufes errichten zu können - die Welt wird nicht sicherer durch immer mehr und immer effektivere Waffen, sondern durch ihre Eindämmung und Abrüstung und durch Herstellung weltweiter symmetrischer Kooperationsverhältnisse. Es wurde oft gesagt, militärische seien die letzten Mittel internationaler Politik. Für das 21. Jahrhundert stimmt das so nicht mehr - für die Regierungen der militärisch mächtigsten Staaten dieses Planeten sind sie zwar nicht die vorrangig einzusetzenden, aber doch die wichtigsten geworden. Der dadurch erzielte augenscheinliche Kontrollgewinn von heute kann jedoch in den verheerenden Kontrollverlust von morgen umschlagen.
Es geht vorgeblich um den Schutz der Errungenschaften und Werte der modernen Zivilisation. Dazu gehört auch das Erbe der Aufklärung mit all seinen Problemen des horror vacui und des immer instrumentelleren Verhältnisses zu Natur, Moral und menschlichen Beziehungen, aber auch mit all seinen fortschrittlichen, emanzipatorischen Elementen und dem Potential zur Selbstkritik. Dahinter kann als halbwegs aufgeklärter Mensch kaum jemand mehr zurück wollen, allenfalls in kritischer Revision ihrer Schattenseiten weiter - es sei denn, man beschließt, daß schon der Weg von den Bäumen runter ein Holzweg war. Dennoch - man fühlt sich ein wenig an Sigmund Freuds Kommentar zum 1. Weltkrieg erinnert, wenn man sich die gegenwärtige weltpolitische Lage anschaut: "Es hat den Anschein, als sei die Zivilisation gar nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so weit entwickelt war, wie wir's von ihr glaubten"[11], könnte er in abgewandelter Weise lauten.
[1] Das Aspen Institute wurde 1950 in Aspen, Colorado gegründet, und ist eine Art "Non-profit Organization", die inzwischen über zahlreiche Ableger in den USA und vielen anderen Ländern verfügt: "The Aspen Institute is a global forum for leveraging the power of leaders to improve the human condition. Through its seminar and policy programs, the Institute fosters enlightened, morally responsible leadership and convenes leaders and policy makers to address the foremost challenges of the new century." So die Selbstvorstellung auf ihrer Homepage.
[2] Dan Diner: Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland, FfM, 1993, S. 19f.
[3] Es bleibt den Lesern und Leserinnen überlassen, dies in dem Terminus von Ideologie als notwendig falschem Bewußtsein zu begreifen.
[4] In Deutschland informieren sich inzwischen sogar Angehörige des Bundestages, wie z.B. der außenpolitische Sprecher der PDS, Wolfgang Gehrcke, lieber durch die amerikanische Presse, als sich auf die Informationen zu verlassen, die in Berliner Regierungskreisen erhältlich sind. Gehrcke, der am 07. Juni 2002 auf einer Veranstaltung der PDS-Hochschulgruppe in Hannover die Bilanz von vier Jahren rotgrüner (Militarisierung der) Außenpolitik zog, nannte es unglaublich, daß nicht einmal Parlamentariern der Informationsstand zugebilligt wird, der Bürgern der Vereinigten Staaten über die reguläre Presse zugänglich ist. Abgesehen davon sei es ohnehin bedenklich, daß die rotgrüne Regierung es zur Praxis gemacht habe, ihren Parlamentariern eine Art double-standard aufzuzwingen zu versuchen - Dokumente sind zuweilen schon mit einem Extra-Absatz, einer von allen politischen Bedenken und Unwägbarkeiten bereinigten Version versehen, die der Öffentlichkeit zu präsentieren sei. Von dieser Praxis wußten auch Erlanger und Gedmin auf der Veranstaltung zwei Tage zuvor zu berichten. Sie bezeichneten eine solche Praxis trocken als "unprofessionell".
[5] 2001 war ein sehr schlechtes Jahr für Rüstungskontrolle, Dokumentation in der Frankfurter Rundschau vom 31.05.2002.
[6] Diner: Verkehrte Welten..., S. 171f, Herv. M.F.
[7] S. das entsprechende Muster bei Diner: Verkehrte Welten..., S. 29.
[8] Norbert Elias, Über den Zusammenbruch der Zivilisation, in: Ders., Studien über die Deutschen, FfM, 1994, S. 391-516, hier: S. 457.
[9] Vgl. auch die Dokumentation und den Vergleich der Ansprache von George W. Bush unmittelbar nach dem 11. September 2001 mit dem Bin Laden-Video, das kurz darauf folgte, in der taz vom 09. Oktober 2001: Krieg der Worte. Bush weist darauf hin, daß es in diesem Konflikt "keinen neutralen Boden" gibt, Bin Laden, so die Übersetzung, proklamiert, daß das Ereignis die "ganze Welt in zwei Lager geteilt" habe.
[10] Vgl. auch Dawud Gholamasad: Einige Thesen zum Islamismus als globaler Herausforderung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung das Parlament, vom 18. Januar 2002.
[11] Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915), in: Ders.: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, FfM, 1997, S. 145: "Den bisherigen Erörterungen entnehmen wir bereits den einen Trost, daß unsere Kränkung und schmerzliche Enttäuschung wegen des unkulturellen Benehmens unserer Weltmitbürger in diesem Kriege unberechtigt waren. Sie beruhten auf einer Illusion, der wir uns gefangen gaben. In Wirklichkeit sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir's von ihnen glaubten."
https://sopos.org/aufsaetze/3d1ca0fa61d41/1.html
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