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Die Logik der Okkupation

Eine Diskussion mit dem israelischen Historiker Moshe Zuckermann

Seit Monaten kommt es im Nahen Osten zu immer neuen Eskalationen: Selbstmordattentaten und anderen Anschlägen in israelischen Städten folgen regelmäßig Vergeltungsaktionen der israelischen Armee. Nicht erst die Anschläge auf Synagogen in Frankreich, Tunesien oder Deutschland und die Angriffe auf in Europa lebende Jüdinnen und Juden haben deutlich gemacht, dass der Nahostkrieg nicht regional beschränkt ist.

In Deutschland, vor allem innerhalb der Linken, führt der Konflikt verstärkt zur Polarisierung. Während die Traditionslinke in der Intifada nach wie vor eine nationale Befreiungsbewegung sieht, die es im Kampf gegen Israels Besatzungspolitik zu unterstützen gelte, proklamieren Antideutsche die Solidarität mit Israel. Die Palästina-Solidarität und weite Teile der Friedensbewegung streiten ab, mit ihrer anti-israelischen Agitation dem Antisemitismus Vorschub zu leisten. Die Israel-Solidarität sieht sich hingegen dem Vorwurf ausgesetzt, durch ihre Parteinahme der Logik des Krieges zu verfallen, statt zum Friedensprozess beizutragen.

Vor diesem Hintergrund organisierten die iz3w und die "Salonkommunistische Initiative Freiburger Antideutscher" (SOFA) Ende Februar ein Seminar mit Moshe Zuckermann, der wie kaum ein anderer die Debatten sowohl in Israel als auch in Deutschland verfolgt - und sich an ihnen beteiligt. Zuckermann, Sohn von Auschwitz-Überlebenden, die 1948 nach Tel Aviv emigriert waren, wurde dort 1949 geboren. 1960 kehrten seine Eltern aus ökonomischen Gründen nach Deutschland zurück. Zuckermann lebte bis 1970 in Frankfurt und zog dann wieder nach Israel. Heute ist er Direktor des Institute for German History an der Universität Tel Aviv.

In dem folgenden ersten Teil der Dokumentation des Seminars geht es vor allem um den Nahostkrieg selbst sowie um die Konflikte innerhalb der israelischen und der palästinensischen Gesellschaft. Der zweite Teil wird sich in der folgenden iz3w-Ausgabe mit der Rezeption des Holocaust in Israel, in Palästina und in Deutschland befassen. Denn nur vor dem Hintergrund der Vernichtung der europäischen Juden können der Nahostkrieg, der Zionismus und die antizionistischen Reaktionen, vor allem aber die Diskussionen in Deutschland, erklärt werden.



Es geht mir um Herrschaftsverhältnisse, die nur dadurch zu verändern sind, dass der Herr aufhört Herr zu sein und der Knecht aufhört Knecht zu sein. Das ist im Moment das zentrale Problem in Israel und Palästina.

SOFA: Herr Zuckermann, in Ihren Analysen gehen Sie davon aus, dass in Israel - wie in anderen Staaten auch - die Frage der nationalen Sicherheit zur Integration innerer Widersprüche dient. Wie aber lässt sich die "Sicherheitsideologie" analysieren, ohne auf die reale Gefährdung Israels und die Entwicklung der palästinensischen Nationalbewegung einzugehen? Gerade vor dem Hintergrund, dass inzwischen auch Bush, Putin und Fischer einen palästinensischen Staat befürworten, stellt sich die Frage, ob damit einer friedlicheren Entwicklung viel gedient sein kann.

Moshe Zuckermann: Zur Frage, warum ich mich in der Kritik des Nahostkrieges in der Regel auf die israelische und weniger auf die palästinensische Gesellschaft beziehe: Es gibt eine Art Übereinkommen unter israelischen Intellektuellen, jedenfalls innerhalb der Linken, nicht für die Palästinenser zu entscheiden, wie sie ihre eigene Gesellschaft zu analysieren und wie sie zu handeln haben. Bei vielen meiner palästinensischen Gesprächspartner herrscht der Eindruck, dass es immer wieder die aus Europa kommenden Juden waren, die nicht nur wussten, was für Israel, sondern auch was für die Palästinenser und für die gesamte arabische Welt gut sei. Es geht mir um Herrschaftsverhältnisse, die nur dadurch zu verändern sind, dass der Herr aufhört Herr zu sein und der Knecht aufhört Knecht zu sein. Das ist im Moment das zentrale Problem in Israel und Palästina.

SOFA: Allerdings zielen bedeutende Teile (nicht nur) der palästinensischen Gesellschaft nach wie vor oder erneut auf die Zerstörung des Staates Israel. So heißt es beispielsweise in einem offiziellen Schulbuch: "Es gibt keine Alternative zur Zerstörung Israels. Der jüdische Anspruch auf Palästina ist die größte Lüge, die die Menschheit kennt. (...) Vielleicht hat Allah die Juden in unser Land gebracht, um sie auszulöschen, wie es bei ihrem Krieg gegen Rom geschah." Die Dynamik der zweiten Intifada und des islamistischen Terrors lässt sich unseres Erachtens im Wesentlichen nicht aus der kompromissunfähigen und provokativen Politik Israels erklären. Sie haben während eines Vortrags in Hamburg erklärt, die Ursache der zweiten Intifada liege nicht in Ariel Sharons Besuch auf dem Tempelberg, sondern in den zwar weitreichenden, nichtsdestotrotz für Arafat unannehmbaren Vorschlägen Baraks in Camp David im Sommer 2000. Damals stellten Sie die Frage, ob die Gewalt von palästinensischer Seite auf eine "Friedenslösung" oder auf den "totalen Krieg" ziele. Trotzdem konzentrierte sich Ihre Kritik darauf, die Angebote als "unzureichend" zu kennzeichnen.
Bei aller Kritik an den israelischen Angeboten bleibt die Frage offen, welches Angebot die palästinensische Gesellschaft eigentlich akzeptieren würde. Offensichtlich hat auch die PLO wenig Interesse an einer tatsächlichen Lösung des Konflikts. Zum einen gerät sie zunehmend unter Druck der islamistischen Kräfte, die schon Verhandlungen mit dem "zionistischen Gebilde" als Verrat an der nationalen Sache denunzieren. Hamas, Jihad und PFLP boykottieren daher jeden Verhandlungsversuch mit Terroranschlägen. Zum anderen müssen die offiziellen Verwalter der nationalen ‚Befreiung' einen diplomatischen Erfolg ständig in Aussicht stellen, um ihn doch nie zu erreichen. Nur so lässt sich die nationale Mobilisierung aufrecht erhalten und verhindern, dass das Elend gegen sie selbst gewendet wird. Daher pflegt Arafat als Vertreter respektabler staatlicher Autorität und als Vertreter des Volkswillens gleichzeitig eine Rhetorik des Jihad und des Friedens, daher changiert die Politik der Autonomiebehörde gegenüber den Islamisten zwischen Repression und Handshake.
Wir können schwer einschätzen, wie weit die Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft fortgeschritten ist: Tatsache ist jedenfalls, dass zur Zeit eine überwältigende Mehrheit die Selbstmordattentate befürwortet (regelmäßige Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung), die Beispiele für offenen und mordbereiten Antisemitismus zahllos sind und dass es keine relevanten Kräfte in der palästinensischen Gesellschaft gibt, die dem Terror entgegentreten.

Zuckermann: Wenn ich mich mit orientalischen Juden unterhalte, die 1948 und in den 50er Jahren aus dem Irak, aus Marokko, aus Ägypten gekommen sind, dann sagen sie, wie übrigens auch viele Araber, dass es traditionell keinen islamischen Antisemitismus gegeben habe. Die meisten der orientalischen Juden betonen, sie hätten die besten Beziehungen zur islamischen Welt gehabt. Sie betrachten sich bis heute als arabische Juden.
Ich habe in den 70er Jahren als Sozialarbeiter in israelischen Slums gearbeitet. Dazu muss man wissen, dass sich in Israel die Klassen- und die ethnische Frage überlappen, d.h. die unteren sozioökonomischen Klassen sind von orientalischen Juden bevölkert. Wenn ich in diese Slums kam, bekam ich keine askenasischen oder hebräischen Lieder und auch keinen Euro-Pop zu hören. Die Sender waren auf Kairo eingestellt, dort konnten sie ihre Musik hören. Ihre Kultur ist arabisch. Und: Viele der nach Israel eingewanderten Juden haben in Israel eine größere Deklassierung erfahren als in ihren Ursprungsländern.
Man muss festhalten: der Antisemitismus ist ein abendländisches, christliches Phänomen. Momentan äußert er sich meist im Sinne der Gleichsetzung von Juden, Zionismus und Israelis - ein Grundfehler, der nicht nur von den Arabern, sondern auch in Deutschland gemacht wird. Diese Gleichsetzung ist nicht erst in dem Moment entstanden, als der Zionismus im Nahen Osten auftrat und dort zu einem antiarabischen Moment nicht nur hochstilisiert, sondern auch verdinglicht, fetischisiert und ideologisiert wurde.
In der aktuellen Situation muss man sich selbstverständlich mit dem Hass auf und mit der Gewalt gegen Israel auseinander setzen. Man muss sich fragen, wie die Leute zu einem solchen notwendig falschen Bewusstsein kommen und zur Zerstörung Israels auffordern. Diese würde - und das dürfte auch diesen Hardlinern klar sein - nichts anderes bedeuten, als dass der gesamte Nahe Osten in Schutt und Asche gelegt wird. Wir reden hier ja von einem bis zum Hals bewaffneten Land.
Es ist der Aufschrei der Geknechteten und Erniedrigten und der Beleidigten, die zu nichts anderem fähig sind, als "die Zerstörung des Landes Israels" rauszukotzen. Rache ist für sie ein Lustgewinn - auch wenn im Gegenzug Ramallah, Nablus oder Jenin in Schutt und Asche gelegt werden. Wie man aus diesen Gewaltzirkeln rauskommt, ist aber nicht nur eine Frage des Bewusstseins, sondern auch eine der Veränderung von Strukturen. Und die momentan vorherrschende Struktur ist eine brutale Okkupation. Diese drückt sich nicht nur in Sharons aktuellem Vorgehen aus. Ich rede auch und vor allem von dem Grenzposten, der eine schwangere Frau nicht passieren lässt und die dann ihr Kind verliert. Das ist die innere Logik der Okkupation. Und das ist der Grund, warum heute in Israel mehr Leute als früher den Dienst an der Waffe verweigern wollen.

SOFA: Zu befürchten ist doch, dass die Stärke der Hamas sich nicht nur aus dem Elend der Besatzung speist, sondern dass sich ihr Islamismus als eine den ausweglosen sozialen Verhältnissen ‚angemessene' Gemeinschaftsideologie erweist. Auf die Aussichtslosigkeit einer klassischen Staatsgründung reagieren sie, indem sie mit Armenküchen, Koranschulen, Krankenhäusern und militaristischen ‚Kindergärten' traditionell staatliche Funktionen ersetzen. Ideologisch bauen sie auf eine rigide Zwangsmoral und brauchen die stete Mobilisierung gegen den jüdischen Feind. Der Islamismus wäre dann nicht so sehr ein Irrläufer, der mit der Staatsgründung verschwinden wird, sondern eine reaktionäre Avantgarde im ‚postnationalen' Zeitalter. Zudem wird ein palästinensischer Staat ökonomisch vollständig von Israel, den Geldspritzen der EU und der reichen Ölländer abhängig sein. Auch das weitreichendste Angebot kann den Traum nationaler Eigenständigkeit nicht erfüllen. Die Eskalation der Gewalt von palästinensischer Seite scheint uns in der Ahnung der Vergeblichkeit des nationalen Befreiungskampfes begründet.

Zuckermann: Mit Max Weber können wir sagen, dass wir erst mal schauen müssen, wie das Subjekt den Sinn seines Handelns konstruiert. Ich versuche es daher mal aus palästinensischer Perspektive zu fassen: Die Palästinenser haben Israel 1988 anerkannt und damit 75 Prozent ihres ursprünglichen Heimatlandes aufgegeben. Die palästinensischen Mindestforderungen sind: Wir wollen die anderen 25 Prozent haben, also 98 Prozent der besetzten Gebiete, so wurde es in Camp David ausgehandelt. Und für das, was wir aufgegeben haben, bekommen wir Ersatz im Kernland Israels. Alle Siedlungen werden abgebaut und die nicht abgebauten gehen in die Hoheit der Palästinenser über. Jerusalem wird im Sinne einer Zwei-Staaten-Lösung zur Hauptstadt beider Staaten. Es muss eine zumindest symbolische Anerkennung des Rückkehrrechts geben, was de facto heißt, dass man zwischen 250.000 und 400.000 Palästinenser im Zuge der Vereinigung von Familien ins Kernland von Israel zurückkehren lässt. Die anderen werden im neuen palästinensischen Staat oder in den Ländern, in denen sie sich heute befinden, repatriiert. Und zwar unter Verwendung der Gelder, die dann wirklich aus dem Westen fließen müssen.
Aus meiner Perspektive kann dies nur eine Zwischenlösung sein, schließlich bin ich weder Nationalist noch Etatist. Ich bin der Meinung, dass Israel und der palästinensische Staat langfristig nur in konföderativen Strukturen existenzfähig sind, die übrigens zunächst nur unter kapitalistischen Bedingungen denkbar sind. Israel, Palästina und meines Erachtens auch Jordanien müssen zusammenkommen, um die Kernprobleme des infrastrukturellen Aufbaus der palästinensischen Gesellschaft lösen zu können. Dies ist momentan nur über eine Phase des souveränen palästinensischen Nationalstaates zu haben - und zwar deshalb, weil es die Palästinenser so wollen.
Die Erkenntnis, "Nationalstaaten sind Mist, das sehen wir doch nach 200 Jahren europäischer Geschichte", ist im Jahre 2002 gut für die reflektierende Linke in Deutschland oder anderswo, jedoch nicht für Palästinenser, die noch immer das Joch der israelischen Okkupation auszuhalten haben. Die wollen erst mal Souveränität im Sinne der Eigenbestimmung haben, was nichts anderes bedeutet, als dass die innere Logik der palästinensischen Gesellschaft mit ihren ganzen Klassendiskrepanzen von den Palästinensern selbst durchlaufen werden muss. Eine Föderation, wie ich sie vorgeschlagen habe, ist für die Palästinenser unannehmbar, solange sie nicht gleichberechtigte Partner sind.
Die Nationalstaaten entstanden im Zuge der industriellen Revolution als Grundsteinlegung für den Kapitalismus. Dies ist ideologisiert worden; Kollektivsubjekte - die Nationen - sind entstanden. Das riesige Problem ist nun die große historische Ungleichzeitigkeit, die in der Welt herrscht. Was die Linke hier schon ad acta gelegt hat, ist andernorts noch aktuell.

Publikum: Die Frage ist doch, ob die Erfüllung der Forderungen wie dem Rückzug aus den Gebieten und dem Abbau der Siedlungen tatsächlich substantiell etwas an dem Hass auf Israel ändern würde.

Zuckermann: Wir wissen, dass das bisherige Vorgehen nur zu einer Steigerung der Gewalt geführt hat. Ich halte es für eine deutsche Überheblichkeit, dass man schon vorab weiß, ob es funktioniert oder nicht. Man muss diesen Weg ausprobieren, in der Hoffnung und Erwartung, dass - wenn Israel die Okkupation aufgibt - in Palästina eine Zivilgesellschaft entsteht. Diese Gesellschaft wird dann von sich aus ihren Fundamentalismus zu bekämpfen haben, so wie wir unseren und die Amerikaner ihren.

Publikum: Ich stimme zu, dass die Gründung eines palästinensischen Staates die notwendige Voraussetzung für eine Lösung des Konflikts ist. Ich bin aber nicht sicher, ob dadurch das Problem des Fundamentalismus gelöst würde. Für mich heißt das in erster Linie, den Fundamentalismus als zentrales Moment der Intifada zu untersuchen und zu kritisieren. Das hat auch damit zu tun, dass der deutsche Diskurs über den Nahostkonflikt etwas anders verläuft als der israelische. Hierzulande gibt es gerade in der Linken eine sehr unreflektierte Solidarisierung mit Palästina und der Intifada.

Zuckermann: Wir unterhalten uns hier über ein politisches Problem, das ideologisiert worden ist. Dies führt dazu, dass mit bestimmten Momenten der Konfrontation und mit allem, was Israel und das Judentum betrifft, in den arabischen Massenmedien eine Menge Schindluder getrieben wird. Das hat durchaus antisemitische Züge. Aber das ist nicht wesenhaft aus dem Islam zu begreifen, sondern aus der Grundverfasstheit des arabisch-jüdischen bzw. arabisch-israelischen Konflikts.

Publikum: Es geht gar nicht darum, dem Islam wesenhaft einen Antisemitismus zu unterstellen, sondern darum, welche Rolle der Antisemitismus in der palästinensischen Gesellschaft spielt.

Zuckermann: Dann reden wir von Fundamentalismen. Und dann müssen wir auch über den Siedlerfundamentalismus in Israel reden und über die Fundamentalismen in Ägypten, Libyen, und im Middle West der USA. Dann reden wir über die Funktion des Fundamentalismus innerhalb der israelischen Gesellschaft, denn ein soziales Netzwerk, wie Sie es dem Jihad zuschreiben, betreibt heute auch die Schas-Partei: Armenküchen, eigenes Erziehungssystem, Heroisierung der Armut als Asketismus usw.
Das Problem von Arafat - und da komme ich auf das Politische zu sprechen - liegt in der Tat darin, dass er sich mit Fundamentalismus rumzuschlagen hat. Doch das gilt auch für Israel. Man stelle sich folgendes Szenario vor: Die Rückgabe der besetzten Gebiete würde für Israel die Räumung von 220.000 Siedlern aus der Westbank bedeuten. 200.000 gehen freiwillig, weitere 10.000 bei einer guten Abfindung - und 10.000 Hardliner bleiben da und sagen: Nur über unsere Leiche! Dann müsste Israel diesen Leuten gegenüber sein Gewaltmonopol implementieren, um die Gebiete zu räumen. Das würde bedeuten, dass Juden auf Juden schießen, was seit Auschwitz ein großes Tabu ist, das große Trauma. Es könnte einen jüdischen, einen inner-israelischen Bürgerkrieg geben. Das muss man bedenken, wenn man umgekehrt sagt, Arafat solle gefälligst mit Jihad und dem Hamas umgehen, ohne Palästina einen eigenen souveränen Staat zuzugestehen.
Fundamentalismus kann nur dort erblühen, wo die Hegemonie die Leute deklassiert. Von daher ist er nur zu bekämpfen, indem man die Infrastruktur stellt, die ihn objektiv überflüssig macht. Der Fundamentalismus von orthodoxen Juden in Mea Shearim oder Bnej Brak war solange irrelevant, wie er apolitisch war. Er wurde in dem Moment zu einem Problem, als er sich politisch festmachte, als diese Leute so unterprivilegiert und diskriminiert waren, dass sie eine Alternative wollten, beispielsweise mit der Schas-Partei. Die Schas-Partei ist eine Geburt der askenasischen Hegemonie in Israel, und der Jihad und die Hamas sind eine Geburt der Art und Weise, wie die Israelis den Palästinensern die Errichtung ihrer eigenen Gesellschaft ermöglichen.

SOFA: Das Elend jeder nationalen 'Befreiung' hat sich für die Palästinenser auf's Äußerste zugespitzt - sie übersetzt jedes Aufbegehren in die Affirmation der 'eigenen' Herrschaft, die sozialen Antagonismen in die Vielstimmigkeit des Volkes und das Leiden in ein nationales Recht. Die Aussichtslosigkeit der staatlichen Unabhängigkeit und ihre sich abzeichnende diktatorische Form werden ideologisch und terroristisch nach außen gewendet - gegen Israel. Daher ist zwar richtig, darauf zu verweisen, dass die Gründung Israels wie jede Staatsgründung kein friedfertiger, sondern ein gewaltsamer Prozess gewesen ist. Richtig ist auch, dass die Besatzung für die ihr Unterworfenen und die Militärpolitik für ihre Opfer namenloses Leid mit sich bringt.
Die Palästinenser klagen aber nicht die Beendigung ihres konkreten Leidens ein, sondern bekämpfen Israel als Ursache allen Elends. Auf Seiten der Palästinenser wird inzwischen jedes Leiden nicht nur national instrumentalisiert, sondern heroisiert: Die Armut wird zum Dasein des einfachen Volkes stilisiert, jeder Tote als Märtyrer weniger betrauert als gefeiert, Flucht und Vertreibung während und nach dem 48er Krieg sind zum Nationalmythos geworden, die Nakba ("Katastrophe") gilt als politischer Trumpf gegen den Holocaust. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich diese Tendenzen im National-Bewusstsein verflüchtigen werden, wenn das "Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser" gewährt wird. Dieses Recht ideologisiert vielmehr den tatsächlichen Prozess nationaler Formierung, der ja im Kampf gegen die 'Volksfeinde' schon stattfindet. Selbst als pragmatischer Vorschlag zur Friedenslösung stellt sich vor dem Hintergrund, dass Opferideologie und rabiater Antizionismus den palästinensischen Nationalismus in seiner ganzen historischen Entwicklung bestimmt haben, die Frage, ob diese Elemente nicht auch nach einer Staatsgründung ideologisch dominant bleiben werden. Spätestens in der Krise - und an Krisen wird es in einem Staat, dem jede ökonomische Basis fehlt, nicht mangeln - wird das "Volk der Palästinenser" auf diese reaktionären Ideologien zurückgreifen. Ihre Überwindung wird die entscheidende Bedingung für einen Frieden sein.
Außerdem bleibt bei Ihrer Kritik das Grunddilemma des Zionismus außer acht: Nach Auschwitz blieben die gesellschaftlichen Bedingungen in Kraft, die die Barbarei hervorbrachten. Die universelle 'Konsequenz' wäre nicht weniger als die Abschaffung von Staat und Kapital, die die Grundlagen für den Antisemitismus stets auf's neue reproduzieren. Der Antisemitismus ist damit zwar nicht "ewig", wie der Zionismus behauptet, aber doch so 'ewig' wie die Herrschaft des Kapitals.
Israel bleibt ein Bollwerk gegen diesen 'naturwüchsigen', also gesellschaftlichen, Antisemitismus. Ein jüdischer Staat, der sich selbst verteidigen kann, ist ein Schutz auch für alle, deren Leben im Moment andernorts sicherer ist als in Israel, aber deren Existenz als Juden in allen anderen Ländern prinzipiell gefährdet bleibt. Daher kommt ja die Linke in die paradoxe Situation, bei aller grundsätzlichen Staatskritik Israel im Kampf gegen seine Feinde zu unterstützen.

Zuckermann: Der Zionismus, so heißt es immer wieder vor allem aus dem Munde von Zionisten, aber zuweilen auch von deutschen linken Intellektuellen, habe die einzig richtige Lösung gefunden für das Problem des Antisemitismus.

Publikum: Die einzig mögliche, nicht richtige...

Zuckermann: Das heißt realpolitisch und historisch betrachtet: die einzig richtige. Dazu folgendes: Der Zionismus ist ja nicht in Folge des Holocaust entstanden, sondern schon Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Begründung war in der Tat schon damals der Antisemitismus. Ich frage mich allerdings, ob er heute noch dieselbe Wirkmächtigkeit hat. Für die Diskussion in Deutschland ist es wichtig zu betonen, dass der Zionismus die einzig mögliche Lösung für das durch den Antisemitismus hervorgerufene jüdische Problem ist. Dies hat zwar eine abstrakte, aber keine reale Gültigkeit. Denn ich kann mit allergrößter Bestimmtheit sagen: Der Jude als Individuum ist heute nirgends auf der Welt stärker bedroht in seinem Leben als in dem Land, das ihm die endgültige Sicherheit versprochen hat. Die Frage ist, ob dieses individuelle Moment nicht auch fürs Kollektive gilt: dass nämlich die innere Logik der Politik, wie der Zionismus sie heute betreibt, zu einem regionalen Krieg führen könnte, der nicht nur Damaskus, Amman und Kairo, sondern auch Israel in Schutt und Asche legen würde.
Außerdem bin ich nicht der Meinung, dass die Palästinenser die Nakba als Gegenargument zum Holocaust ausspielen oder beides gleichstellen. Und wenn, dann ist das eine der Polemiken, die man in der Tat als propagandistische, antisemitische Topoi in der arabischen Welt findet. Vor allem wird die Nakba als Gegenargument gegen die große Freude verwandt, die am 8. Mai, dem Unabhängigkeitstag, in Israel herrscht - im Sinne von: "Euer Freudentag ist unsere Katastrophe". Aber es gibt ein anderes Problem mit dem Holocaust in der arabischen Welt: man setzt sich damit überhaupt nicht auseinander, man ignoriert ihn total. Leute wie Edward Said und der israelische Knesset-Abgeordnete Azmi Bishara haben sich in letzter Zeit dagegen gewendet. Für sie ist es höchste Zeit, dass die Araber sich mit dem welthistorischen Ereignis des Holocaust auseinandersetzen.
Die Heroisierung des Todes ist kein spezifisch palästinensisches Problem. Das gab es bei allen Staatsgründungen, auch in Israels prästaatlicher Ära. Nathan Altermann, vielleicht der wichtigste Nationaldichter des Zionismus, redet vom Silbertablett, auf dem wir das Land gereicht bekommen haben - von einem Jungen und einem Mädchen, die beide tot sind und wieder auferstehen. Sollen wir nun annehmen, dass die Heroisierung der shahid Ausdruck einer spezifischen palästinensischen Kultur ist, der etwas Wesenhaftes innewohnt, das dazu führt, dass die Leute den Tod, den Thanatos, dem Eros vorziehen? Oder werden die Leute vielmehr offen für radikale Ideologisierung, weil sie nichts mehr zu verlieren haben? Wenn man im Flüchtlingslager 14-jährige sieht, die bereit sind, ihre aufblühende pubertäre Energie mittels eines Sprengsatzes umzusetzen, dann ist das doch nicht von Natur aus oder von einer Kultur aus gegeben. Leute werden in den Tod getrieben, indem sie auf den Tod getrimmt werden.

Publikum: Ob dies allein auf die konkrete Konfliktsituation zu schieben und die Schuld allein bei der israelischen Okkupationspolitik zu sehen ist, würde ich bezweifeln.

Zuckermann: Solche Opferbereitschaft ist immer dann vorhanden, wenn Nationalstaaten entstehen - das gilt genauso für den Ersten Weltkrieg, als Tausende mit Hurra-Rufen in den Tod gingen, um einen Hügel zu erobern, wie jetzt für die Palästinenser, die sich selbst in die Luft jagen, um Israelis zu töten. Die Frage, warum Leute so verblendet werden können, ist aber nur zu beantworten, wenn man die konkreten Strukturen analysiert, unter denen diese Ideologie zustande gekommen ist.


Das Gespräch protokollierten Jasmin Dean und Thomas Altmeyer. Der hier abgedruckte Text ist eine redaktionell stark bearbeitete und gekürzte Version dieses Protokolls, das in voller Länge als ca. 40-seitiger Reader im iz3w erhältlich ist.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 261 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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