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Kaleidoskopische Notizen aus dem modernen Bihar[1]

Besuch meiner in die Moderne gerückten Heimat

von Anant Kumar


Indische Schönheit, ideal

Das Riesenplakat

Auf dem Riesenplakat am Rondell der ostindischen Stadt Motihari steht folgendes: "Gemäß §94 ist der Fötusmord nach einer ärztlichen Untersuchung strafbar! Der Täter und die Beteiligten könnten zur härteren Strafe verurteilt und für mehrere Monate ins Gefängnis gebracht werden!" Die Bundesregierung in Neu-Delhi hat derartige Maßnahmen ergreifen müssen, da in vielen Bundesländern Indiens das Geschlechter-Gleichgewicht aus den Fugen gerät. Im Klartext: Frauen werden weniger! Und das verfemte, arme Bundesland Bihar liegt ganz oben auf der Hitliste: Auf 1000 Männer gibt es nur 950 Frauen.

Die unzähligen Institute

Die Bevölkerungszahl der idyllischen Kleinstadt meiner Kindheit hat sich in den letzten Jahren bis zum Platzen vervielfacht. Dementsprechend schießen Privatschulen, Englischinstitute oder Sonderinstitutionen wie Pilze aus dem Boden. Die allmähliche Lahmlegung der Regierungsschulen fördert unmittelbar die Verbreitung der Geldmacherinstitutionen. Die alten Bildungseinrichtungen, die eine stabile Bildungsinfrastruktur hatten und jedem eine gute kostenlose Bildung ermöglichten, funktionieren nicht mehr. Es wird in Regierungsschulen nicht unterrichtet. Stattdessen verkauft der Schuldirektor das Inventar der Schule: Schreibmaschinen, Schreibwaren, Rechner und Möbel. Die Chemie-Lehrer verkaufen Laborinstrumente und Sportlehrer ihre Turngeräte. "Ich gehe wöchentlich einmal in die Schule, um die Anwesenheitsliste für die ganze Woche anzukreuzen!", sagt Akash Priyadarschi. "In der Schule wird nichts getan. Es ist reine Zeitverschwendung. Stattdessen lerne ich mit den Büchern zu Hause!", sagt der fleißige Siebzehnjährige, der kurz vor dem Abschluß des zehnten Schuljahres steht. Die Lehrer erteilen firmenartig Privatstunden: Physik, Chemie, Bio, Mathe. Jeder Schüler und Student nimmt sie. So verdienen manche Lehrer astronomische Summen. In Tageszeitungen kann man hin und wieder von Steuerhinterziehung lesen - wenn sich die der schweren Korruption schuldig gemachte Landesregierung Bihar um Aufklärung bemüht: davon betroffen sind Lehrer, Beamte, Geschäftsleute. Die halbrichtigen und halbfalschen Privatschulen machen massive Werbung mit ihren sich ähnelnden Slogans. Ebenso verbreiten sich amöbenartig Englisch-Institute, die den Erwachsenen Biharis das fließende Sprechen der englischen Sprache binnen drei Monaten garantieren. Erstaunlich! Oder "Inglisch"? Ich amüsiere mich über die verwirrenden Bildungsangebote. Die ausufernde Bevölkerung kann in der freien Marktwirtschaft noch einiges gebrauchen.

C++, JAVA, ORACLE, HTML, ...

Meine Rikscha wird zügig auf den gelöcherten Straßen gezogen. Wie vor Jahren unter dem Chaos der erdenklichen primitiven und modernen Transportmittel: Pferde- und Ochsenwagen, Fahr- und Motorräder, indische und halbindische Autos (Suzuki, Daihatsu, Ford ...), Laster und Busse, Traktoren, Rikschas. Hinzu kommen Tausende Passanten, jede Menge freilaufende Kühe, Hunde, Büffel, Schweine.

Ich begegne drei bis vier Schildern der Cyber-Cafés und der Computerschulen (C++, JAVA, ORACLE, HTML) Laut einer Statistik hat Indien zehn Rechner pro Tausend Menschen. Das verfeindete Nachbarland soll elf pro Tausend Menschen haben. Ich schmunzele. Die Patrioten-Inder legen dafür eine vernünftige Erklärung vor: Pakistan ist viel kleiner als Indien. Ich schmunzele noch mehr. Einige meinen, daß die Quellenstatistik drei bis vier Jahre alt wäre. In den letzten Jahren soll Indien einen großen Computerboom erlebt haben.

Die Computerläden haben ihre Privatgeneratoren.
Stromausfall ist allzuhäufig.

Die Kerosin-Lampen

Die Computerläden haben ihre Privatgeneratoren. Stromausfall ist allzuhäufig. Das Motihari meiner Kindheit hatte vielleicht 1/10 der jetzigen Bevölkerung, und die Stadt hatte damals zehnmal mehr Strom. Das große neue Kohlekraftwerk der Gegend wurde in den ersten Jahren nach der Fertigstellung stillgelegt.

Es lebe Kerosin! Ich kaufe schon am ersten Tag zwei Liter Kerosin vom Jungen auf dem Markt. Ohne das Licht der Kerosinlampen würden die Menschen in Motihari noch früher schlafen gehen. In der Landeshauptstadt Patna, wo die gewählten Politiker, unter ihnen auch einige Banditen, Schurken und Lumpen, Landespolitik machen, sieht es mit dem Strom wesentlich besser aus.

Die besseren Frauen

Besser sieht es auch mit den Frauen aus. In mancher Hinsicht! Selbstverständlich fahren sie Fahr- und Motorräder, Autos, und sie laufen durch die Gegend wie früher nur die Männer. Dabei gilt Bihar als die am wenigsten progressive Gegend Indiens. Also Fortschritt? Ja und nein! Die Mehrheit der Frauen sitzt immer noch innerhalb ihrer vier Wände und kümmert sich um die Kinder, um den Haushalt und um die alltägliche Existenz.

Am hübschesten sind die Frauen auf den gigantischen Kinoplakaten. Die Schönheitsidole: Sex-Divas in heißen Shorts und im knappen Oberteil. Vorbildliche kultivierte indische Schönheiten als Sinnbild der Liebe, Ruhe, seelischen Größe, deren Saris und Ornamente brillieren. Muskulöse und böse Patriotinnen mit Kanonen in ihren Händen...

Bollywood-Charakteristika

Das Kino boomt bombastisch. Nirgendwo in der Welt gibt es so viele kolossale Kinosäle mit tausenden Sitzplätzen wie in Indien. Die Unterhaltungsader der Inder pulsiert. Die sich endlos wiederholenden Streifen verlieren nicht an Unterhaltungswert, weil die Inder auf den großen Leinwänden ihre Wünsche in Erfüllung gehen sehen! Der Unterhaltungsbedarf der komplexen selbstbewußten indischen Psyche wird in Bombay geschmiedet. Dabei wird die moderne Zeit in Bollywood, der größten Filmdreherstadt der Welt, nicht unberücksichtigt gelassen.

Die sich endlos wiederholenden Streifen verlieren nicht an Unterhaltungswert

In Filmen, die das altbewährte schöne große Indische mit dem Anhauch der modernen westlichen Werte darstellen, sehen die Inder westliche Kleidung, importierte Wagen, Diskotheken, schweizerische Landschaften. Die fremden Elemente werden jedoch geschickt und gekonnt den indischen Werten untergeordnet, zum Beispiel der großen ewigen Liebe (Mann-Frau, Mutter-Sohn, Bruder-Bruder), dem Guten oder den schicksalbestimmenden indischen Göttern.

Schon in meiner Schulzeit wurden hin und wieder erotische Filme gezeigt. Heute vermehrt sich die Anzahl dieser Filme: "Heiße Jugend!", "Geile Nächte!", "Schwankende Schritte!". Da in der Öffentlichkeit die Annährung zwischen den Geschlechtern tabuisiert und nicht gerne gesehen wird, können die Sex-Streifen gewisse Summen einspielen.

Die Megahits sind zur Zeit jedoch Patriotenfilme, deren zentrale Themen Pakistan, Kaschmir und Terrorismus sind. Das Blut jedes Inders kommt in Wallungen, wenn er über das "Schurkenland" Pakistan zu sprechen beginnt. Jeder, vom Rikschafahrer bis zum Hochschullehrer, möchte dem Erzfeind eine blutige Lektion erteilen, solange der Mythos Kaschmir, die Krone Indiens, von den Feinden entehrt wird. Die Filmproduzenten haben Konjunktur während der Kriegsvorbereitungsphase.

Diesellok verkürzt die Fahrten

Mit dem überfüllten Dampfzug brauchte ich einst von Motihari bis Muzzaffarpur (etwa 50 Kilometer) mehr als drei Stunden. Damals hielt der Regionalzug nach jedem zehnten Kilometer. Heute dauert die Fahrt mit dem Schnellzug eine gute Stunde. Die Diesellok fährt zügig auf den neuen einheitlichen breitspurigen Strecken. Mein Motihari ist aus seiner Isolation längst herausgelangt und mit den Weltmetropolen Bombay und Delhi direkt verbunden.

Die Wahrheit und nur die Wahrheit

Ranjan Singh lügt nie. Tatsächlich! Als er mir das mitteilte, war ich erstaunt. Im Bahnhof von Muzaffarpur lernten wir uns kennen. Ein kleiner schmächtiger Mann, dessen freundliches Lächeln mich ansprach. Dreitägiger Bart und lässig angezogen in indischer Kleidung. Wir unterhielten uns heiter.

Ranjan Singh lebt normal und zugleich anormal. Er hat einen Beruf und damit seine Frau und zwei Kinder zu versorgen. Strenge Vegetarier werden in Indien von Tag zu Tag weniger. Ranjan Singh ist einer ihnen. Der Schüler eines spirituellen Lehrers verzichtet sogar auf Knoblauch, Zwiebeln, Ingwer: auf jene Stoffe, die den Naturtrieb fördern könnten. Obwohl er nicht mit allen Lehren Gandhis einverstanden ist, möchte er dennoch den Wahrheitsweg weiter beschreiten.

Sein Beruf erstaunte mich: er ist Rechtsanwalt. Die Frage, die mir lange durch den Kopf ging, stellte ich nun: "Lieber Ranjan Singh! Ist es für Sie nicht schwierig, Ihren Beruf samt Ihrer Lebensphilosophie zu praktizieren?" Darauf erhielt ich eine heitere selbstbewußte Antwort: "In meinem Beruf bin ich längst erfolglos. Die Kollegen lachen über mich, und ich lache über sie." Dann rezitierte er, der Hobbypoet, einen gereimten sozialkritischen Vierzeiler auf Hindi:

Die Welt lacht über mich
Und über sie lache ich
Ja, Freunde! Lass uns abwarten
Wer lacht länger? Über wen?

Die berühmte arische Frage

Die Mehrheit der gebildeten Inder hat immer noch ein sehr interessantes Deutschlandbild, das sich um Adolf Hitler und seine Rassentheorie dreht. Jeder weiß und ist stolz darauf, daß Hitler sich für die nordindische Rasse begeistert haben soll. Die Menschen in jenem Teil des Himalayas haben blaue Augen, helle Hauttönung und markante Gesichtszüge.

Auch auf einer Zugfahrt stellte mir ein sehr bekannter Arzt, der in seinen Jugendjahren viel in Europa gereist war, eine sehr würzige Variante der "deutschen" Rassentheorie vor. Grinsend fragte mich der alte Herr: "Sagen Sie mal, Herr Schriftsteller, mögen die deutschen Frauen immer noch die indischen arischen Männer vom Gebirge Himachal Pradesh (Bundesland Indiens). Da leben die arischen Völkerstämme, bei denen eine Frau mit mehreren Männern schlafen kann - sittengemäß. Die sind sehr beliebt unter den deutschen Frauen! Wissen Sie das?" Ich hatte große Augen, und erstaunt erwiderte ich dem Herrn: "Ich wußte das nicht!" Ein wenig enttäuscht ging er wiederholt auf das Thema ein, indem er allen Mitreisenden die Geschichte ausführlich erläuterte.

Rikscha zügig auf den gelöcherten Straßen

Der Kerosinjunge

Die Glühbirnen Motiharis leuchten nur tagsüber - im üppigen Sonnengelb. Der Stromausfall währt beständig. Täglich funktionieren die elektrischen Geräte kaum mehr als eine Stunde.

Zwei Tage vor meiner Abreise ging ich nochmals Kerosin besorgen. Auf dem Markt war aber kein Händler. Ein wenig irritiert fragte ich den Eierverkäufer, wo man Kerosin kaufen könne. Der wies mich auf den gegenüberliegenden Gemüsestand hin. Von Gemüsekörben umgeben saß ein kleiner Junge, der in eine Zeitungslektüre vertieft war. Auf meine Anfrage schaute er hinauf und erkannte mich sofort wieder. Der Gemüsehändler und der Kerosinjunge waren eine und dieselbe Person. Der Junge lächelte mich freundlich an und teilte mir mit, daß er Kerosin nicht vom Großhändler hätte abholen können.

"Aber Ihnen könnte ich ein Liter aus der Reserve geben!" Ich bedankte mich für sein freundliches Angebot. "Sehr gerne!", und er füllte meine Flasche auf. Inzwischen gingen meine Blicke auf den Zeitungsartikel: Das war die Editorialkolumne einer der besten Zeitung Indiens! Ich war wieder erstaunt und zugleich gerührt:

"Liest Du gerne Zeitungen!"
Er gab mir das Wechselgeld zurück und antwortete:
"Ja, Sir!"
"Gehst Du auch in die Schule?"
"Ja, Sir!"
"Welche Klasse?"
"Fünfte, Sir!"
"Und wie alt?"
"Neun, Sir!"
"Wie heißt du denn eigentlich?
"Sudhir Kumar, Sir!"
"Sehr gut, Sudhir, dann mach so weiter!"
"Ihnen auch alles Gute, Sir!"


Anmerkung

[1] Eine geographische Landkarte vom Bihar findet sich hier: http://cctr.umkc.edu/user/endomv/bih_districts.htm. Die Landeshauptstadt "Patna" am Ganges fällt dem Leser sofort auf, und die nordwestlichen Städte "Motihari" und "Muzaffarpur" sind klar verzeichnet.


Anant Kumar: Ende 1969 in Katihar/Bihar/Indien geboren, lebt und arbeitet in Kassel/Hessen.
Buchveröffentlichungen: Fremde Frau - Fremder Mann (1997), Kasseler Texte (1998), Die Inderin (1999) und Die galoppierende Kuhherde (2001). "World Literature Today" schrieb über den Autor: "Kumar has certainly turned on its head the expectations one has of a non native German poet; in doing so, he has expended the horizons of Ausländerliteratur".

https://sopos.org/aufsaetze/3c7ffb0352c61/1.html

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https://sopos.org/aufsaetze/3c7ffb0352c61/1.html