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Internet als Medium von Gegenöffentlichkeit?

von Marcus Hawel (sopos)



Öffentlichkeit kann man als eine Organisationsform gesellschaftlicher Erfahrung verstehen, in der es um konkurrierende Interessen geht, sowie auch um eine Unterschlagung von besonderer Erfahrung, die etwaigen Interessen widerspricht.

Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit

Was ist Öffentlichkeit? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Sicher, das Alltagsbewußtsein hält sich nicht lange mit Grübeln auf und ist mit einer Definition zur Hand. Doch zumeist kommt man auf diese Weise nicht viel weiter als bis zu Beschreibungen und Aufzählungen von bestimmten Öffentlichkeiten: irgendwie geht es um Informationen, die öffentlich zugänglich gemacht werden, und damit sie Verbreitung finden, brauchen sie ein Medium, ein Kommunikationsmittel, ein Massenmedium: Zeitung, Zeitschrift, Radio, Fernsehen und seit einigen Jahren nun auch das Internet. In der sogenannten Öffentlichkeit kommen Personen zu Wort: Journalisten, Politiker, Intellektuelle, Wissenschaftler und manchmal auch die Leser. Alle vertreten sie eine Meinung und produzieren somit eine sogenannte öffentliche Meinung; es wird auch fleißig kritisiert, denn natürlich stehen hinter den Meinungen politische oder ökonomische Interessen. So geht es auch konträr zu – es steht Meinung gegen Meinung, das entspricht dem demokratischen Ideal – man nennt es Meinungspluralismus. Aber es wird auch kontrolliert: dient jemand, der in Amt und Würden ist, der Öffentlichkeit oder seinem eigenen Geldbeutel?

Die spontan einfallenden Stichworte, die sich noch um einige ergänzen lassen – etwa öffentliche Gewalt oder staatstragende Öffentlichkeit, Herstellen von Öffentlichkeit usw. – bleiben in ihrer neutralen, allgemeinen Bestimmung allzu schillernd. Was Öffentlichkeit ist, scheint schnell geklärt zu sein. Aber ist damit auch begriffen, wie Öffentlichkeit funktioniert, nach welchen Prinzipien sie organisiert wird?

Öffentlichkeit kann man nach Oskar Negt und Alexander Kluge als eine Organisationsform gesellschaftlicher Erfahrung verstehen, in der es um ganz spezifische und konkurrierende Interessen geht, sowie auch um eine Unterschlagung von besonderer Erfahrung, die etwaigen Interessen widerspricht.[1]


Bürgerliche Öffentlichkeit

Öffentlichkeit ist in ihrem Entstehungszusammenhang von der Emanzipation des Bürgertums historisch nicht zu trennen – und auch heute hat sie ihren explizit bürgerlichen Charakter behalten. Mit dem emphatisch verstandenen Begriff der öffentlichen Meinung versuchte das revolutionäre Bürgertum die Gesellschaft: die Interessen des Dritten Standes zu einer Einheit zusammenzufassen und damit Öffentlichkeit überhaupt erst einmal herzustellen (politische Klubs, Zeitschriften etc.). Das, was den Charakter eines politischen Programms erhielt, um so etwas wie bürgerliches Klassenbewußtsein zu schaffen zur politischen Emanzipation gegen Adel und Klerus, ist aber eine ideologische Illusion gewesen, die bis heute den Charakter der bürgerlichen Öffentlichkeit kennzeichnet und den wirklichen Zusammenhang verschleiert. Denn die Einheit der Gesellschaft wird nicht über Öffentlichkeit hergestellt, sondern durch die arbeitsteilig organisierte Produktion und Zirkulation von Waren. Vielmehr sind auch die Gesetzmäßigkeiten der Öffentlichkeit durch die politische Ökonomie bestimmt.

Die bürgerliche Öffentlichkeit leistet geradezu das Gegenteil von dem, was sie zu leisten beansprucht.

Die bürgerliche Öffentlichkeit leistet geradezu das Gegenteil von dem, was sie zu leisten beansprucht. Sie organisiert Erfahrungszusammenhänge als nicht-einheitliche Teilöffentlichkeiten (vgl. Ö+E, S.15): Fernsehen, Presse, Verbände, Parteien, Bundestag, Schule, Universitäten, Justiz, Kirchen, Vereine, Konzerne usw. In der bürgerlichen Öffentlichkeit werden diese Teilöffentlichkeiten nicht aufeinander bezogen – sie bleiben gerade aus Prinzip partikular. Systematisch werden dabei die substantiellen Lebensinteressen der in subalternen Lebenswelten existierenden Menschen ausgegrenzt, indem die Orientierung auf das kapitalistische Produktionsinteresse, also auf ein Herrschaftsinteresse gerichtet ist. Die Bildung von Zusammenhängen wird systematisch blockiert. (Vgl. Ö+E, S.10)

Hier erscheint die Öffentlichkeit als bloße Summe ihrer Teile. – Konträre Partikularinteressen werden organisiert und nach dem Prinzip der Konkurrenz ausgerichtet, orientiert an einem partikularen und besonderen, d.h. privaten Produktionsinteresse, durch welches die Organisation der bürgerlichen Öffentlichkeit der Idee von Öffentlichkeit widerspricht: denn was privat ist, kann nicht öffentlich sein – es kann nur öffentlich gemacht werden. Schon im Begriff der Öffentlichkeit als Gegensatz zur Privatheit ist ein zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens ausgeblendet: alles das, was nicht öffentlich ist – Vereinzelte, d.h. an sich entfremdete Privatheit: individuell materielles Leiden auf der einen und das Privateigentum auf der anderen Seite. Legitimation (Anerkennung) erfahren diese partikularen Teilöffentlichkeiten durch ihre je eigene Lobby und durch ein dem ganzen übergeordnetes abstrakt Allgemeines: durch den Staat als ideelle Gesamtöffentlichkeit, zu dem die Massenmedien als sogenannte vierte Gewalt oftmals hinzugezählt werden.

Mit anderen Worten, das Prinzip der bürgerlichen Öffentlichkeit besteht aus:

Das Leben der Subalternen ist zwar durch einen einheitlichen Erfahrungszusammenhang gekennzeichnet, erscheint aber in der bürgerlichen Öffentlichkeit vom Gesamtzusammenhang isoliert, nicht-zusammenhängend (parzelliert). Der Herrschaft kommt gesellschaftliche Unbewußtheit zugute, die durch Parzellierung des Zusammenhangs wenigstens fortbesteht, wenn nicht sogar mit produziert wird.

Die Darstellung von Zusammenhängen ist ja die Bedingung der Möglichkeit für die Entstehung von Klassenbewußtsein sowie einer gegenseitigen Solidarisierung. So können sich Klassenkämpfe überhaupt erst vereinheitlichen und einen Charakter annehmen, welcher die bestehende Ordnung mindestens irritiert. Einfacher ausgedrückt: Zusammenhang ist die Bedingung der Möglichkeit für einheitliches, solidarisches (emanzipatives) Bewußtsein, das der Herrschaft ihre Legitimation (Anerkennung) entziehen kann und also für den Fortbestand der Herrschaft gefährlich ist.

In der bürgerlichen Öffentlichkeit sorgen die kapitalistischen Mechanismen dafür, daß solch ein Zusammenhang nicht zustande kommt. Öffentlichkeit wird so organisiert, daß ein Entzug der Anerkennung von Herrschaft niemals gleichzeitig in mehreren der parzellierten Teilöffentlichkeiten stattfindet (Aus der Organisation von Ungleichzeitigkeit und Konkurrenz zwischen ihnen resultieren die Verteilungskämpfe zwischen den Subalternen) – z.B. Lohnkämpfe, Studentenstreiks, Proteste von Eltern gegen die Streichung von Kitas ...


Subalterne Gegenöffentlichkeit

Wenn Öffentlichkeit ihrem Prinzip nach bürgerlich ist, so versteht sich Gegenöffentlichkeit ihrem eigenen Anspruch nach als nicht-bürgerlich, mehr noch: Negt und Kluge nennen das Prinzip der Gegenöffentlichkeit proletarisch (proletarische Öffentlichkeit) und stellen dieses der bürgerlichen Öffentlichkeit gegenüber – nicht aber ihr entgegen. Statt dessen schließt es nach Negt und Kluge „an diesem vom Kapitalinteresse substantiell ausgefüllten Öffentlichkeiten" (Ö+E, S.12) an.

Der Begriff des Proletarischen ist bei Marx von umfassendem Bedeutungsgehalt, welcher in soziologischen Bestimmungen nicht aufgeht. Es heißt in der Kritik zur Hegelschen Rechtsphilosophie:

„Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Proletariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist." (MEW, Bd.1, S.391)

Auch wenn es heute keine einheitliche Klasse des Proletariates als politisches Subjekt mehr gibt, weil ihre Einheit in verschiedene Subkulturen zerfallen ist, so sind diese geprägt von der allgemeinen und abstrakt einheitlichen Erfahrung von Unterdrückung und könnten sich durchaus zu einer selbstbewußten, einheitlichen Klasse reorganisieren. Solange aber dies nicht der Fall ist, wäre es zutreffender, statt von proletarischer von subalterner Öffentlichkeit zu sprechen: Die Gegenöffentlichkeit ist die Öffentlichkeit der Subalternen.

Das Prinzip der Gegenöffentlichkeit läßt sich in drei Punkten zusammenfassen:


Möglichkeiten des Internet: media independent

In einem zweiten Schritt müssen wir uns jetzt fragen, inwieweit das Internet als Massenmedium von Gegenöffentlichkeit in Frage kommt. Zunächst ist ja festzustellen, daß das Internet allgemein als Summe von Millionen von Webseiten alles andere als eine Gegenöffentlichkeit darstellt – es entspricht ganz klassisch allen Kriterien der bürgerlichen Öffentlichkeit.

Schon Bertolt Brecht saß damals – wie viele andere auch – der Illusion auf, das daß Radio ein aufklärerisches Massenmedium und die Verbreitung des Radios aufklärerischen Zwecken dienlich sei. Schon sehr bald mußte er sich von dieser Illusion verabschieden, denn das Radio hat den Herrschenden zur faschistischen Mobilisierung der Massen einen mehr als nur nützlichen Dienst erwiesen. – Auch im demokratisch verfaßten Kapitalismus entfalten die Massenkommunikationsmittel alles andere als eine aufklärerische Wirkung. Das freilich liegt nicht an der Technik und den Mitteln an sich – wie eine technikfeindliche Linke geglaubt hat –, sondern an den gesellschaftlichen sowie politisch-ökonomischen Mechanismen, auch an den Gesetzen, durch die geregelt wird, wie, wofür, worüber und von wem in den Massenmedien kommuniziert wird. – Es ist bestimmt kein Zufall, daß bisher noch jede Revolution es als eines ihrer wichtigsten Ziele angesehen hat, Rundfunk- und Fernsehstationen oder Pressehäuser zu besetzen. Und in revolutionären Situationen haben bisher noch immer die Herrschenden vor diesen Gebäuden gepanzerte Fahrzeuge auffahren lassen.

Es ist bestimmt kein Zufall, daß bisher noch jede Revolution es als eines ihrer wichtigsten Ziele angesehen hat, Rundfunk- und Fernsehstationen oder Pressehäuser zu besetzen. Mit dem Internet könnte das in der Zukunft etwas anders werden.

Mit dem Internet könnte das in der Zukunft in der Tat etwas anders werden. Doch ist auch hier zunächst festzustellen, daß das Internet aus einer reinen Herrschaftslogik heraus erfunden wurde, genauer: aus der militärischen Logik des Herrschaftserhaltes. Amerikanische Sicherheitsbehörden haben sich noch im kalten Krieg Gedanken darüber gemacht, wie die einzelnen Teile des us-amerikanischen Staates nach einer atomaren Verwüstung untereinander kommunizieren könnten, um handlungsfähig zu bleiben. Es mußte eine technische Struktur erfunden werden, die diesen Kriterien entsprach: nicht zentralisiert, nicht hierarchisiert und alle Bestandteile jeweils in sich autark.[2] Sie hatten auf diese Weise Kriterien aufgestellt, die mit der anarchischen Organisationsform der Autonomen vergleichbar ist. – Die Polizei weiß ein Lied davon zu singen, wie schwer es für sie ist, die autonome Bewegung zu zerschlagen. – Dasselbe läßt sich auch vom Internet behaupten: Denn so einfach läßt sich der Stecker nicht ziehen, damit das Netz, wenn es aus Sicht der Herrschenden zu viele Gefahren bedeutet, verschwindet.[3]

Es gibt Menschen, die dem Internet als Kommunikationsmedium für Linke mißtrauen, weil sie befürchten, daß durch Kontrolle oder durchs „Abschalten des Internet" eine Bewegung, die sich auf es verlassen hat, zerschlagen werden kann bzw. handlungsunfähig wird. Aber das Internet ist letztlich nicht kontrollierbar, da es auf freiwilligen Übereinkünften basiert. Die Nutzer des Internet bestimmen die Funktionsweise des Netzes. Zwar haben die Herrschenden die physikalische Kontrolle über das Netz, und es wäre theoretisch denkbar, daß einfach zentrale Router deaktiviert würden. Damit könnte sich ein Land dann praktisch vom Internet abkapseln.[4] Die Sperrung einzelner Seiten oder Rechner, die als illegitim oder staatsfeindlich angesehen werden, ist dagegen kaum möglich; sie wäre bereits durch einfache Tricks zu umgehen.[5]

Eine ernstzunehmende Gefahr ist einzig durch die kommerziellen Zugangsprovider[6] gegeben, die sich ziemlich leicht knebeln lassen und überwachbar sind. Hier setzen auch die gegenwärtigen Überwachungsstrategien an. Eine Gegenbewegung dazu sind die in allen größeren Städten sich im Aufbau befindlichen Funknetze. Hier werden dann private PCs direkt ins Netz integriert und eine zentrale Kontrollmöglichkeit entfällt.

Das Netz ist atomkriegssicher konstruiert, da kann auch ein Schily nichts gegen machen, ohne das Netz selbst zu zerstören. Das setzt allerdings stets Nutzer voraus, die sich des Internet nicht völlig bewußtlos bedienen, sondern damit umzugehen wissen, sich ernsthaft mit dem Medium auseinandersetzen, sich seiner selbst ermächtigen und – das trifft ja in besonderem Maße auf die Linke zu – sich der technikfeindlichen Vorurteile entledigen. Wenn Teile des Netzes tatsächlich „abgehängt" werden, wäre ein allgemeiner Aufschrei zu erwarten. Das wäre dann wie die bekannten geschwärzten Stellen in zensierten Zeitungen und wäre ein Wesenszug eines totalitären Staates.

Das Netz ist atomkriegssicher konstruiert, da kann auch ein Schily nichts gegen machen, ohne das Netz selbst zu zerstören.

Das Internet ist keineswegs resistent gegen kapitalistische Interessen. Das Gegenteil ist der Fall: das Medium wird mittlerweile kolonialisiert und kapitalistisch organisiert wie kein zweites. Im Internet, wenn auch sehr marginal, gibt es gleichwohl Gegenöffentlichkeit. In manchem scheint sich sogar so etwas wie eine zum Kapitalismus entgegengesetzte Ökonomie herausgebildet zu haben.[7] – Hier soll es aber nicht um die Produzenten freier Software gehen, sondern um die Produzenten einer frei zugänglichen politischen Aufklärung und Information. Als zentrales Bespiel soll hier der radikal-basisdemokratische und international vernetzte Erlebnis-Journalismus von Indymedia dienen.

Indymedia ist das zentrale Informations- und Diskussionsforum für die Anti-Globalisierungsbewegung. Spätestens mit den Protesten in Prag und Göteborg ist Indymedia in der bürgerlichen Öffentlichkeit mit immer größerer Aufmerksamkeit beachtet worden, und während der Proteste in Genua zum G8-Gipfel vergangenen Jahres befand sich Indymedia in seinem Bekanntheitsgrad auf dem vorläufigen Höhepunkt. Man kann sogar sagen, daß es einen gewissen korrektiven Einfluß auf den liberalen Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit durch Indymedia gegeben hat.

Der Aufstieg von Indymedia ist vergleichbar mit CNN während des zweiten Golfkrieges 1991 – allerdings mit einem eklatanten Unterschied: CNN ist während des Golfkrieges aufgrund einer Militärzensur vom us-amerikanischen Staat zum Informationsmonopolisten gemacht worden und hat unter Aufsicht der US-Behörden zensierte Bilder vom Kriegsgeschehen im Irak gezeigt. Indymedia erhielt dagegen internationale Beachtung aufgrund seines egalitären Basis-Journalismus, durch den zuverlässige Informationen aus dem durch die italienische Polizei weitgehend von der Öffentlichkeit abgeschirmten Genua an die Öffentlichkeit gelangten. Insbesondere die Umstände des Todes von Carlo Giuliani und den Einsatz von agents provocateurs seitens der italienischen Sicherheitsbehörden ist durch Indymedia bekanntgeworden und wurde dadurch in den liberalen Medien kritisch thematisiert. Es waren Einsichten in die Praxis der Herrschenden, die in Europa und vornehmlich in Italien vertuscht werden sollten, weil sie den Rechtsstaatsprinzipien im krassen Maße widersprachen.

Auch wenn dieser subversive Informationsfluß einer momentanen Protestdemonstration nicht unmittelbar zugute kommt, so nützt es durchaus einer Bewegung als Ganzer, wenn die Herrschenden zukünftig ihre eigene Strategien der Repression ändern müssen, weil sie nicht mehr damit rechnen dürfen, daß sie ihre eigenen Schweinereien vertuschen können, in dem sie vor Ort für die partielle Zerstörung von Öffentlichkeit sorgen, indem Journalisten an ihrer Arbeit gehindert werden.[8] – Die Polizeigewalt kann der Form eines subversiven Journalismus, der von der Bewegung selbst und nicht von beruflichen Journalisten getätigt wird, kaum habhaft werden, solange er seine autonome Organisationsstruktur beibehält und als Kommunikationsmittel das Internet nutzt.

Der Aufstieg von Indymedia ist vergleichbar mit CNN während des zweiten Golfkrieges 1991.

Einer anderen Gefahr sollte man im Zusammenhang mit dem Internet mehr Aufmerksamkeit schenken. Es geht dabei um verschiedene Spielarten einer möglichen Entfremdung. Weil das Internet ein relativ egalitäres Medium ist, wird man als Nutzer mit einer Flut von Informationen konfrontiert. Sehr viele Informationen davon sind auch Datenmüll, und man kann sehr schnell die Übersicht verlieren. Zwar wird auch zunehmend durch Filter die Spreu vom Weizen getrennt, aber die qualitative Auswertung der zugänglichen Informationen muß man als Nutzer letzten Endes selbst vornehmen, und das kann viel Zeit in Anspruch nehmen.[9] Fruchtbarer, als stundenlang vor dem Computer zu sitzen, sind immer noch direkte Gespräche und Diskussionen, die aber nur lokal verortet sind, während man in den Foren und in den Mailing-Listen mit Gleichgesinnten aus aller Welt diskutieren kann – mit einer wichtigen, kritischen Einschränkung, denn der Teil, der Zugang zum Netz hat, ist tendenziell einigermaßen wohlhabend und gebildet. Diskutiert wird mit Menschen aus einer anderen Stadt, einem anderen Land oder Kontinent – politisch aktiv ist man aber auf der Straße und in lokalen Gruppen, zu denen ein direkter, persönlicher Kontakt aufrechterhalten bleiben sollte. Die Bodenhaftung bewahrt der, welcher sich lokal organisiert und auch überregional diskutiert. Es kommt eben nicht nur darauf an, einen global action day auszurufen, es kommt auch darauf an, ihn in die Tat umzusetzen.[10]

Die Risiken einer möglichen Entfremdung geben aber keinen Anlaß, das Internet als Kommunikationsmittel zu verwerfen. Das Internet ist wie kein anderes Medium dazu geeignet, Gegenöffentlichkeit zu organisieren.



Anmerkungen:

[1] Vgl. Oskar Negt / Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1972 – Im folgenden abgekürzt durch: Ö+E.

[2] Vgl. Oliver Heins: Freie Software – eine Gegen-Ökonomie?.

[3] Sven Glückspilz behauptet das Gegenteil: „Das Netz ist das Kokain des Medien-Volkes, es macht jede einzelne Person mächtig, bekannt, kommunikativ, erfolgreich bis jemand den Stecker zieht und all die Blasen der Allmacht zerplatzen." – Sven Glückspilz: „Medien und Ohnmacht. Neue Medien – eine Möglichkeit für linke, emanzipative Ideen?", Interim Nr. 540 vom 13.12.2001 (Der Artikel wurde auch im Internet publiziert: trend online Zeitung 01/02)

[4] Im einfachsten Fall durch das Durchtrennen der Kabel – dann allerdings würde das komplette Land, d.h. auch die Herrschenden selbst vom internationalen Netz getrennt. Denkbar wäre es allerdings auch, das nur Pakete von "vertrauenswürdigen" Rechnern weitergeleitet würden. Das käme allerdings ebenfalls einer totalitären Lösung gleich. Aber auch dann wäre ein Netzzugang weiter möglich, letztlich würde ja eine Telefonverbindung in ein liberales Land genügen, um wieder Zugang zum Netz zu haben. Aber jetzt reden wir schon von offenem Faschismus.

[5] Angenommen irgendein Rechner A in den USA würde von deutschen Providern gesperrt, könnte man auf ihn aber immer noch vermittelt über einen anderen Rechner B, der diese Restriktionen nicht hat, zugreifen. Für den sperrenden Provider sieht es dann so aus, das man auf Rechner B zugreift, obwohl der nur die Daten von Rechner A weiterleitet.

[6] AOL, Compuserve, Talkline, T-Online, Arcor und auch die ganzen kleinen, weniger bekannten.

[7] Vgl. Heins, a.a.O.

[8] Aktivisten der legendären Brockdorf-Demonstrationen wissen davon zu berichten, daß die Polizei ebenfalls agents provocateurs einsetzte. In den Zeitungen war schließlich offiziell die Rede von den bösen Autonomen, die dem friedlichen Protest eine aggressive Wendung gegeben hätten. Weil die Polizei zwischen einzelnen sogenannten Gewalttätern und friedlichen Protestanten nicht mehr zu unterscheiden in der Lage gewesen sei, habe sie gegen die gesamte Demonstration vorgehen müssen und in einer breit angelegten Maßnahme massenhaft Tränengas eingesetzt, so daß auch Kinder davon betroffen waren. – In keiner Zeitung stand, daß eine Tränengaskartusche sogar in einem Kinderwagen landete. – In Genua lief es ähnlich ab, nur daß die globalisierungskritische Bewegung mittlerweile nicht mehr von dem beruflichen Journalismus abhängig ist, sondern selbst imstande war, die Schweinereien der Staatsgewalt mit öffentlicher Breitenwirkung aufzudecken.

[9] „Durch das Internet und die scheinbare Demokratisierung der Informationswege kommt weitere Arbeit hinzu. Die Filterung von Informationen, die ich bisher gegen Bezahlung einer Zeitungsredaktion o.a. überlassen habe, muß ich nun selber erledigen. Wer soll das auf die Dauer leisten?" – Glückpilz, a.a.O.

[10] Diese Anlehnung an die 11. Feuerbachthese weicht in der Kritik allerdings in einem Punkt entscheidend von der Kritik von Marx an Feuerbach ab: während die philosophische Interpretation allein die Welt nicht verändert, konnte zumindest durch den bloßen Ausruf von politischen Aktionen via Internet die Großstadt Hannover in Atem gehalten werden. – Während der „virtuellen" Chaostage 2000 und auch während der Protestwoche zur Eröffnung der Weltausstellung war jedenfalls sehr eindringlich zu beobachten, wie die Polizei in Hannover außer Atem geriet durch eine Mischung von zutreffenden Informationen und gezielten Falschmeldungen bezüglich etwaiger Protestaktionen, die auf einer Webpage nachgelesen werden konnten. Immer wieder eilte eine überpräsente Polizei zu diversen Straßenkreuzungen und öffentlichen Plätzen, um einen Protest zu unterbinden, der dann an einem völlig anderen Ort oder gar nicht stattfand. Sehr vielen Hannoveranern war dieser Bullentanz mit Blaulicht, bei dem die Staatsgewalt selbst für das Chaos und die Unruhe sorgte, die sie doch zu verhindern trachtete, wenig sympathisch, so daß diese in Hannover auch in der liberalen Presse für eine Zeitlang ein schlechtes Image erhielt.

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