Zur normalen Fassung

Gründe, zu handeln, gibt's genug

Zum Tod von Pierre Bourdieu

von Gregor Kritidis (sopos)


Pierre Bourdieu

Pierre Bourdieu sah nicht so aus, wie ich mir große französische Soziologen vorstelle: klein, agil, und mit lebhaften dunklen Augen wirkte er eher zurückhaltend. Irgendwie sah er einem Bauernschlingel ähnlich, der es aus der Provinz mit Mutterwitz und Pfiffigkeit an die Pariser Universität gebracht hat.

Er war zu Gast auf der Tagung Loccumer Initiative Kritischer Wissenschaftler 1999 in der gleichnamigen Evangelischen Akademie. Jede seiner Bewegungen wurde von den Tagungsteilnehmern aufmerksam registriert: Bourdieu betritt den Raum, Bourdieu schneuzt sich die Nase, Bourdieu setzt sich in die zweite Reihe links - die Huldigung, die nicht wenige seiner Person entgegenbrachten, hätte zur Illustration eines seiner Aufsätze dienen können. Bourdieu aber blieb zurückhaltend und ließ sich nichts anmerken; so wie jemand, der weiß, daß es nicht jedem vergönnt ist, aufgrund der Anerkennung der anderen über den Dingen zu stehen. Er verhielt sich ungezwungen, als hätte er mit Freunden und Bekannten zu tun, die man lange nicht gesehen hat und von denen man unendlich viel wissen möchte.

Sein mit Spannung erwarteter Vortrag ließ nichts zu wünschen übrig: Da die Kritik an den USA in Deutschland tabuisiert sei, erklärte Bourdieu, hielte er es für unproduktiv, den Erwartungen des Auditoriums entgegenzukommen. Er würde daher einen Schwerpunkt der Kritik an der neoliberalen Globalisierung auf die Rolle des US-Modells legen.

Mit Pierre Bourdieu ist der Bewegung gegen den "globalisierten" Kapitalismus eine bedeutende Integrationsfigur verloren gegangen.

Man mußte der These Bourdieus, die USA seien kein moderner, zivilisierter Staat, weil es kein durchgesetztes Gewaltmonopol gebe, nicht zwingend folgen.[1] Seine Methode aber sprach für sich: Er war in jeder Hinsicht sozial integrierend, gleichzeitig aber inhaltlich polarisierend. In der konkreten Situation verhielt er sich wie ein Revolutionär: immer auf die Sache konzentriert, mit einem sicheren Gespür für die geistigen und sozialen Barrieren sowie die Ansatzpunkte, diese zu überwinden. Ihm ging es um die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, um den Bruch mit überkommenen Vorstellungen, um die transformation des gewohnten.

Den politisch-intellektuellen Kampf mit den etablierten Eliten nahm er dabei bewußt in Kauf, ja er machte ihre Formen der Ausgrenzung zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Hinwendung zur neuen sozialen Frage war eine logische Konsequenz seiner intellektuellen Bestrebungen.

Bourdieus Rede vor den streikenden Eisenbahnern 1995 war beispielhaft für seinen "Habitus": Der Intellektuelle, der sich mit den Streikenden solidarisiert, ohne auszublenden, daß er seine gesellschaftliche Position nur unter den gleichen Schwierigkeiten verlassen kann wie seine Zuhörer; der sein Wissen und seine Argumente in den Dienst der sozialen Bewegungen stellt und dennoch sich der Diskussion hingibt. Die Gründung von Raisons d'Agir war die konsequente Weiterführung dieser Position: eine Intellektuellengruppe, die kooperativ arbeitet und den sozialen Bewegungen Orientierungswissen zur Verfügung stellt; die ihre gesellschaftliche Sonderposition nicht verleugnet, aber der Tendenz nach aufzuheben versucht.

Viele Freunde im etablierten Politik- und Medienbetrieb hat Bourdieu mit seinen Positionen und Oppositionen nicht gewonnen. Respekt hat er sich aber auch bei seinen politischen und geistigen Gegnern verschafft.

Mit Pierre Bourdieu ist der Bewegung gegen den "globalisierten" Kapitalismus eine bedeutende Integrationsfigur verloren gegangen. Das wird uns vermutlich erst dann vollständig zu Bewußtsein kommen, wenn diese Lücke in den kommenden Auseinandersetzungen schmerzlich fühlbar wird. Ein Mensch vom Format Bourdieus wäre selbst vor streikenden deutschen Metallarbeitern denkbar gewesen. Sollte es im Frühjahr zu einem Arbeitskampf in der Metallindustrie oder gar zu umfangreicheren Streikbewegungen kommen - ich kann mir keinen bekannten Intellektuellen in Deutschland vorstellen, der auf die Pritsche eines IGM-Busses klettern würde, um den Lohnabhängigen die Solidarität der Intelligenz zu demonstrieren. Sicher, die Bedingungen in Frankreich sind andere; aber ohne die beherzte Tat des Einzelnen sind die besten objektiven Bedingungen sinnlos.



Anmerkung:

[1] Vgl. Pierre Bourdieu: Die Durchsetzung des amerikanischen Modells und die Folgen, in: Europa des Kapitals oder Europa der Arbeit, Kritische Interventionen Bd. 4, Hannover 2000.



Zu Bordieu:

Aufruf gegen die Politik der Entpolitisierung
Ein Interview mit Pierre Bourdieu von Isabelle Graw

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/3c5d6ae79ae25/1.html