von Utz Anhalt (sopos)
"Die wirkliche Probe, wozu der
(...) Imperialismus mit seinem Nationalismus fähig ist,
steht erst dann bevor, wenn enttäuschte Menschen oder
Konkurrenten im Weltmarkt ihm das wieder nehmen wollen, was ihm
heute zufällt. Schon heute kündigt sich aber an,
wieviel linkes Potential, wie so oft in der Geschichte, dem
vaterländischen Druck erliegen wird."
Rainer Trampert auf der "Deutschland?Nie wieder!"
Demo 1990 in Frankfurt am Main
"Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg"
Motto des Neoliberalismus
"Anything goes"
US-amerikanische Firmenphilosophie
Der religiöse Terrorismus, wie er in der Boulevardpresse des Westens als Taten von "Terrorbestien", "Tieren" und anderen archaischen Feindmustern in die Welt geworfen wird, folgt einer einfachen Logik: Einer Logik, die so einfach ist, daß sie in der Abstraktion wissenschaftlicher Arbeit oft nicht erfaßt wird. Das "Unfaßbare" ist deshalb in der sogenannten Spaßgesellschaft nicht begreifbar, da es die Konsumgewohnheiten irritiert, die auf Prämissen aufgebaut sind, der die primitive Logik des fundamentalistischen Terrors widersprechen.
Die Länder, die nur außerhalb des Internets existieren, keine Mail-Adresse und fluktuierende Konjunkturen aufweisen, werden in der virtuellen Realität des Westens nicht wahrgenommen. Der Anschlag auf das World Trade Center verdeutlichte den Bruch zwischen virtueller und wirklicher Realität. In realitas existieren diese Länder jenseits der aktuellen Bilderflut sehr wohl.
Noch Anfang der 90er Jahre war vom afrikanischen Wunder die Rede, womit die Demokratisierungsprozesse in den afrikanischen Staaten gemeint waren. Dieser Traum, der einsetzte, nachdem in vielen afrikanischen Ländern die Diktatoren von der Bevölkerung weggefegt worden waren, hielt nur wenige Jahre. Afrika ist heute vom Weltmarkt weitestgehend abgekoppelt, ein Kontinent ist im Chaos versunken. Die Anbindung an den Weltmarkt funktioniert weitestgehend über Warlords, die unmittelbar die gewinnbringensten Ressourcen wie Elfenbein, antike Kunstgüter, Gold, Diamanten und Menschen (Frauenhandel) als Beutekapitalisten verramschen.
Die Menschen im Westen lachen sich in der Spaßgesellschaft zu Tode, verhungern als Magersüchtige, kotzen als Bulemikerinnen ihre Verzweiflung in die Toilette, heulen bei amerikanischen Seifenopern, ohne zwischenmenschlicher Gefühlsregungen fähig zu sein.
Diese beutekapitalistische Barbarei ist eine Folge der Anknüpfung der Dritte Welt Staaten - auch der entstandenen demokratischen Regime in Afrika und der arabischen Länder - an die "Strukturanpassungsprogramme" des IWF, die eine Privatisierung des vermeintlich aufgeblähten bürokratischen Apparates der jeweiligen Länder beinhalten, also eine Vernichtung des öffentlichen Dienstes, staatlicher Krankenversicherung und anderer sozialer Systeme.
Vor diesem Hintergrund, von dem arabische Staaten in ähnlicher Art und Weise betroffen sind, nährt sich der Fundamentalismus, der sich - in einer Verherrlichung religiöser und kultureller Traditionen zum Dogma pervertiert - als Alternative zum Westen darstellt. Ohne materielle und soziale Sicherungssysteme und ohne eine soziale Emanzipation bleibt weiten Teilen der Bevölkerung in Ländern der Dritten Welt nichts anderes als ein Bezug auf die eigenen Traditionen, die umso mehr zum Mythos, zum Dogma werden, je mehr die materielle Verelendung zunimmt.
Wer in welcher historisch-politischen Situation vom Westen zum Terroristen ernannt wird, ist von einer gewissen Beliebigkeit. Als Osama Bin Laden in den USA der 80er Jahre als Freiheitskämpfer gehandelt wurde, war Arafat für die amerikanischen Geheimdienste der Top-Terrorist. Heute werden letzterem die Hände geschüttelt und ersterem Bomben auf den Kopf geworfen.
Die Selbstmordattentate, die mit Bus- und Autobomben begannen, stehen in ihrer Symbolfunktion für die Perspektivlosigkeit von Menschen, die in Ghettos leben. Der Ausbruch, der keine emanzipatorische Perspektive beinhaltet, ist eine Bündelung und Projektion der alltäglich erfahrenen Gewalt und Machtlosigkeit. Wo es Gewalt gibt, da ist die Macht verschwunden - Terror ist auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit.
Die Mischung von Hilflosigkeit und erfahrener Gewalt ohne emanzipatorische Utopie für eine gewaltfreiere Zukunft entspricht der Logik des Terrorismus: dem blinden Haß, der keine Aussicht auf ein besseres Morgen möglich macht. Der fundamentalistische Terror ist die nihilistische Antwort auf eine aus den Fugen geratene Welt, praktiziert von Barbaren, für die keine Alternative zur Barbarei vorstellbar ist.
Diese Perspektivlosigkeit kann der aufmerksame Beobachter auch in der stahlharten Fassade des fit for fun westlicher Gesellschaft erkennen, indem er sich Statistiken über die Selbstmordraten und die Gewaltkriminalität in ghettoartigen Vierteln wie Berlin-Marzahn, Hannover-Laatzen, den Suburbs von Paris oder den Armutsvierteln in Warschau oder Budapest anschaut. Der Mechanismus aus Selbstzerstörung und Zerstörung anderer zeigt sich aber auch in Raub, scheinbar sinnloser Gewalt, Riots und Bandenkriminalität.
Wer nichts hat, der möchte etwas haben. Nach Brecht: "Erst kommt das Fressen und dann die Moral." Dies betrifft nur vordergründig die materiellen Überlebensinteressen. Der perspektivlose Nihilismus im Westen ist die Antwort auf eine von Menschlichkeit immer weiter entfernte Gesellschaft. In der Einordnung in die strukturelle Gewalt der spätkapitalistischen Selbstverwertung organisieren die von sich selbst entfremdeten Menschen ihre Aufopferung im Nichts.
Die neoliberale Konzerngesellschaft bietet Ziele, für die die Individuen sich opfern können. Die Menschen im Westen lachen sich in der Spaßgesellschaft zu Tode, verhungern als Magersüchtige, kotzen als Bulemikerinnen ihre Verzweiflung in die Toilette, heulen bei amerikanischen Seifenopern, ohne zwischenmenschlicher Gefühlsregungen fähig zu sein.
In einer nüchternen politischen Analyse, die das Mitgefühl mit den Menschen in den USA einschließt, muß der Symbolgehalt des Anschlages mitberücksichtigt werden. Dieser Symbolwert ist eindeutig, auch wenn im Anschlag zwischen dem Symbolwert und konkreten Menschenleben nicht unterschieden wurde.
Die Strukturanpassungsprogramme, die Strategien, mit der die Völker und Länder der Dritten Welt geschröpft werden, wurden im World Trade Center beschlossen. Das heißt, sowohl strukturell als auch personell war das World Trade Center eine Zentrale in der Totalität der kapitalistischen Warenverwertung.
Die verhohlene und unverhohlene Häme in Lateinamerika, in Afrika, in Arabien über den Terroranschlag galt denn auch dieser Logik, weniger der Zustimmung zu dem Tod von Menschen in den USA. Für die Tausenden in der Metropole des Neoliberalismus wurde mit einem Schlag das Leiden konkret, von welchem 80% der Weltbevölkerung an der Peripherie des Kapitalismus tagtäglich seit vielen Jahrzehnten zu leiden haben. Der Schock war deshalb so groß, weil etwas eintrat, was schon längst vorausgeahnt wurde.
Zu Recht wurde von verschiedenen Organisationen der Nord-Süd-Konflikt immer wieder thematisiert: Während des G8-Gipfels in Genua konnte man in der ganzen Stadt ein Plakat mit einer ausgelaugten schwarzen Frau sehen, die ein dickes weißes Kind säugt - eine Allegorie auf die Ausbeutung des schwarzen Südens durch den weißen Norden. In der Konsummaschinerie wird die Tatsache, daß unser Reichtum auf dem Blut der Armen basiert, selbstverständlich ignoriert. Deshalb ist die Trauer um die Opfer des Terrors in den USA in den westlichen Ländern auch so unglaubwürdig. Die verdrängte Wirklichkeit findet in Symptomverschiebung an die Oberfläche zurück als tödlicher Ausdruck einer antiemanzipatorischen Reaktion.
Graham Allison, einer der prominentesten Politologen in den USA hat die mentale Zäsur der Kränkung des amerikanischen Narzißmus gut erkannt:
"Wir dachten, wir könnten andere Länder bombardieren, wie wir wollen und würden selbst auf einem anderen Planeten leben. Wir haben in Bosnien, Serbien, Afghanistan, im Sudan und Irak Bomben geworfen und dachten, wir seien unverwundbar."[1]
Mit Messern ein Flugzeug zu kapern, um damit das Symbol des US-Kapitalismus zu zerstören, ist - nicht einem emanzipatorischen, aber dem neoliberalen Denken zufolge - eine Höchstleistung.
Die Attentäter haben durchaus in der Logik des neoliberalen Denkens gehandelt - wie kann ich mit minimalem Aufwand das beste Ergebnis erzielen -, der Logik der Effizienz. Mit Messern ein Flugzeug zu kapern, um damit das Symbol des US-Kapitalismus zu zerstören, ist - nicht einem emanzipatorischen, aber dem neoliberalen Denken zufolge - eine Höchstleistung.
Den Apologeten der freien Marktwirtschaft ihre Trauer abzunehmen, wäre zynisch. Interessant wird es, wenn in der ZEIT vom 13. September 2001 Paul Wilkinson, Terrorismusexperte aus Schottland, als Kennzeichen für die Bin-Laden Gruppe festhält: "Keinerlei Erbarmen für Zivilbürger, eiskalte Effizienz."[2] Also genau das, was in jedem neoliberalen Coaching-Seminar als Positives Denken, Dynamik, Erfolgsorientierung und Durchsetzungsfähigkeit von den angehenden Führungskräften als Schlüsselqualifikation erwartet wird.
Waren die Attentäter Zauberlehrlinge des Neoliberalismus, des Business as usual? Exerzierten sie eine neue innovative Strategie auf dem Militärmarkt, die perfekt in Szene gesetzt wurde? Der Symbolwert des World Trade Centers, verbunden mit einer perfekten Zusammensetzung der Farben und Größen - gleißend-orangerote Flammen, azurblauer Himmel, riesige Boeing 747 vor der titanischen Silhouette der Türme, das malerische Einstürzen derselbigen, Menschen beim Sturz aus dem 90. Stockwerk, dann ein zweites Flugzeug, was den zweiten Turm ebenso malerisch zusammenbrechen läßt wie den ersten - Ernst Jüngers Pathos hätte nicht opulenter den Todesrausch beschreiben können.
In Einklang mit der Todesprosa der konservativen Revolution und der Faschisten erscheint der Anschlag als die Vollendung des Lebenswerkes der Terroristen in der Ästhetik des massenhaften Todes, der dadurch an Bedeutung gewinnt, daß auch die Attentäter selbst in den Flammen sterben und dieser Massenmord nicht nur in Geschichten weiterlebt, sondern millionenfach auf Leinwand gebannt wurde.
Bezeichnend, daß Konzernmanager, die sich in der Vergangenheit als Verspötter von "rührseligen Weltverbesserern" hervorgetan haben und wenig Mitgefühl mit den Opfern von Krieg und Gewalt (zum Beispiel in Äthiopien, Sudan, Bangladesh) hatten, nun, wenn es um die Börse geht, ihre Menschlichkeit entdecken. Bei Massakern und neoliberalen Verteidigungskriegen in der Dritten Welt wäre die Reaktion gewesen: "Das ist zwar bedauerlich, aber so läuft das Geschäft."
Der Wahn der Attentäter ist die Kehrseite einer neoliberalen Ideologie, in der eine funktionale Praxis mit einem destruktiven Ergebnis identisch ist.
Die Spirale von Terror und Gegenterror ist in neue Dimensionen gerückt. In der globalisierten Welt ist auch der Terror globalisiert. Der Sturm auf die Wohlstandsfestung traf die Achillesferse des Kapitalismus. In der Arroganz der Macht, die denjenigen, die keinen Computeranschluß haben, weder ein Lebensrecht noch eine Existenz zuspricht, richtete auch die CIA ihre Arbeit darauf aus, durch allumfassende High-Tech Überwachung unangreifbar zu sein.
Im Bereich der Technik des Todes exerzierten die Mörder von New York in grausiger Konsequenz das Mantra des Neoliberalismus: Sie hatten eine vollkommen neue Idee, auf die niemand anders gekommen war. Hier waren sie, die Unternehmer mit Biß - die Typen mit Killerinstinkt - diejenigen, die die neoliberale Doktrin, in der nicht der Weg, sondern das Ergebnis zählt, in der Sieg in der Konkurrenz mit anderen alles ist, zur extremsten Konsequenz brachten - die totale Selbstverwirklichung als totale Vernichtung - eine Selbstüberhöhung des kapitalistisch-darwinistischen Fressen und Gefressen werden, vor der Olaf Henkel seinen Hut ziehen müßte.
Das ist das Spiegelbild der US-Militärökonomie in ihrer Reinform, die umgedrehte tödliche Speerspitze des Pioniergeists - etwas zu tun, was noch niemand anderes getan hat, nicht bloß das Risiko einzugehen, sondern absolut zu setzen. Ist es nicht gerade das, was Terror und Krieg in der neoliberalen Postmoderne auszeichnet?
Der Wahn der Attentäter ist die Kehrseite einer neoliberalen Ideologie, in der eine funktionale Praxis mit einem destruktiven Ergebnis identisch ist - und niemand diesen Zusammenhang zwischen Funktionalität und Destruktivität erwähnen darf, wie er sich in der Neutronenbombe exemplifiziert:
"Was die Kriegstechnologie angeht, so ist die Neutronenbombe das perverseste Produkt des Erfindergeistes eines wissenschaftlichen Zeitalters, vielleicht noch nicht einmal das mit der größten Vernichtungskraft. Indem diese Mordtechnik alles Lebendige zerstört, das Tote aber unbeschädigt läßt, enthüllt sie ihren intimen Zusammenhang mit der normalen kapitalistischen Zivilisation, ja sie ist das auf den Begriff gebrachte Herrschaftsprinzip des Kapitals selbst: der Tod der lebendigen Arbeit und das Leben der toten Arbeit."[3]
Fast scheint es wie eine barbarisierte Form eines neoliberalen Ödipuskomplexes. Das ausgestoßene Kind zeigt seinem geliebten und gehaßten Vater, zu was es in der Lage ist - nach Bagdad, nach Pristina, nach dem Sudan: "Guck mal, das kann ich auch."
Sind die Schläfer, die unsichtbar lebenden Mörder nicht das grauenhafte Abziehbild neoliberaler Gesellschaften, in der das Selbst nichts und die Maske alles ist? Kehrt jetzt das Kind zu seinen Eltern mit dem Geschenk zurück, daß diese ihm gebracht haben?
Es bietet sich ein Vergleich zu den Actionfilmen des amerikanischen Kinos der letzten Jahre an. In den Gewaltfilmen Hollywoods verschwimmt zunehmend die Grenze zwischen den Cops und den Verbrechern, sowohl im Aussehen, als auch im Handeln. Doch die Funktionalität wird perfekt, während die Charaktere zu Archetypen degenerieren. Die Robocops und Terminators, Judge Dreads und Neos - zeigen sie nicht alle das, was die Terroristen durchgeführt haben? Das Ziel dieser Helden, denen ihr Auserwähltenstatus gemein ist, ist die Zerstörung von Gesellschaften durch individuelle körperliche Höchstleistungen. Diese Filme sind Fiktion, doch sie wirken auf Rezipienten in der euroamerikanischen Postmoderne, die dieses Menschenbild reproduzieren und als Träger verkörpern.
Vielleicht lag es daran, daß die Attentäter von New York die feudal-barbarischen Prägungen ihrer Gesellschaften mit den neoliberal-barbarischen Prägungen des postmodernen Medienkapitalismus in Vollendung miteinander verbanden. Vielleicht war der Schock aber auch deswegen so groß in den USA und Europa, weil ein sonst virtuelles Erlebnis unmittelbar begreifbar wurde. Und vor allem: They did their job. Die Attentäter führten ihren Auftrag aus, und das taten sie gut. Die Gigantomanie in der Erbauung des World Trade Centers schlug auf dessen Zerstörung zurück.
[1] DIE ZEIT, 13. September 2001, S. 18.
[2] DIE ZEIT. 13. September 2001, S. 17.
[3] Oskar Negt, Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit, Frankfurt a.M./New York 1987, S. 253.
https://sopos.org/aufsaetze/3be32956935c0/1.html