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Die Moscheen am Gangesufer

von Anant Kumar


Unmittelbar nach dem mörderischen Terroranschlag vom 11. September 2001 dachte ich vornehmlich an die skrupellosen Terroristen, die sich aus vielen Regionen rekrutieren können. Ich spürte grenzenlosen Haß gegen die vermeintlichen Täter, deren Bilder mir in den darauffolgenden Tagen im den Medien wiederholt gezeigt wurden. Die aufdringliche Gemeinsamkeit, daß sie alle Muslime seien, ließ mich verzweifelt und verwirrt zurück.

Um der Verwirrung zu entgehen, suchte ich geistige Hilfestellungen bei meinen abendländischen Vorbildern. Mit großer Aufmerksamkeit las ich ein Interview mit dem Philosophen Gadamer, der die größten Kriege der Menschheit miterleben mußte. Seine Antwort auf die Frage, wie die Religionen für eine vernünftige Zukunft miteinander in Einklang zu bringen wären, ist unheimlich: mit allen Religionen außer der arabischen ließe sich friedlich miteinander leben. Als ich das las, ist mir recht unheimlich dabei geworden.

Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich vor Jahren, als ich in New Delhi lebte, mit meinem älteren Bruder ähnlich diskutiert. Wir nahmen als Referenz Bezug auf eine Meldung der India Today, dem SPIEGEL Indiens, die etwa so lautete: Weltweit hatten die Völker und Kulturen Ausschreitungen mit Muslimen. Egal, ob sie in einem Land wie in Indien als Minderheit oder in einem Staat wie in Indonesien als Mehrheit lebten.

Auf CNN hörte ich eine muslimische Akademikerin klagen, daß 1/3 der Weltbevölkerung aus Muslimen bestehe. Solange sich die Welt nicht bemühe, die Muslime zu verstehen, bleibe eine friedliche Koexistenz ferne Utopie.

Ich denke in diesen Tagen sehr oft an die muslimische Welt in Indien. Am Ufer des heiligen Ganges, von Benares bis Kalkutta, befinden sich neben unzähligen Tempeln der Hindus auch sehr viele Moscheen. Es kommt nicht selten vor, daß sich in jenem dicht bevölkerten Indus-Ganges-Tal Brüder verfeinden, weil sich der eine anders kleidet als der andere, einen anderen Gott verehrt oder eine andere Fleischsorte bevorzugt. Nicht selten streiten sich die Geschwister auch bis aufs Blut.

In meiner kleinostindischen Heimat Motihari, wo George Orwell die Welt erblickte und Gandhi 1917 seine Satyagrah [1] begann, leben Muslime als Minderheit. Während meiner Kindheit und Jugend hatte ich als Hindu interessante Beziehungen zu ihnen. Sie waren meine unmittelbaren Schul- und Spielkameraden. Alle paar Jahre gab es zwischen den gegensätzlichen Religionen der Inder, zwischen Muslimen und Hindus Ausschreitungen. In diesen angespannten Tagen und Wochen wurden von den Eltern Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Den Kindern wurde es verboten, in die betreffenden Stadtteile, in denen die Moscheen standen, zu gehen.

Es gab ein kleines muslimisches Getto namens Agarwa.[2] In dem Viertel wohnte eine muslimische Großfamilie, mit der mein hinduistischer Vater quasi verwandt war. Jedenfalls sah die muslimische Familie in meinem disziplinfanatischen Vater, der in seiner eigenen Familie Angst und Furcht verbreitete, den beliebtesten und großzügigsten Onkel. Die Kinder jener Familie wußten lange nicht, daß mein Vater weder Muslime noch ihr richtiger Onkel war. Mein Vater war aber lebenslang ein großer Liebhaber der islamisch-indischen Kultur. Er sprach ein gehobenes Urdu[3], und in seinem Kleiderschrank befanden sich modische Sherwanis[4]. Wir Kinder jedoch waren zugleich geprägt durch ein westlich angehauchtes Zeitalter und von dem modernen Indien, als dessen Erzfeind Pakistan samt seinen Muslimen galt.

Meinen Bruder und mich interessierten vor allem die Feste der Muslime. Natürlich galt unser Interesse hauptsächlich der süßen Leckereien. Meine Mutter kommt aus einer strengen hinduistischen Vegetarierfamilie; zuhause darf man bis heute kein Fleisch essen. Wir kannten aber schon in unserer Jugend den Geschmack von Fleisch und wollten auf es nicht verzichten.

Zu den Festen kochten die Muslime für ihre Hindu-Gäste und Nachbarn extra Ziegenfleisch. Wenn ich mich daran erinnere, läuft mir noch immer das Wasser Munde zusammen. Ich kann mich noch an das Fest Eid-ul-AzhaK[5] in jenem Jahr erinnern, als wir am Spätabend zu Besuch bei jener Familie waren und das Fleisch leider schon verzehrt war. Wir bekamen zwar etwas zu Essen, aber kein Fleisch. Ich war traurig und machte ein langes Gesicht. Das hatte die Tante verstanden; sie ordnete sofort ihre Töchter an, für uns weiteres Fleisch frisch zu kochen. Ich wurde glücklich.

Schon als Kind war ich Revoluzzer. Ich entfernte mich früh von meiner Familie. In den letzten Jahren meiner Schulzeit besuchte ich sehr weit entlegene Großstädte. Meine Familienvisiten wurden in dieser Zeit wegen der angespannten Familienverhältnisse immer seltener. - Auch aufgrund der immensen Konkurrenz um eine bessere Bildung im Milliardenland. Ähnliches galt auch für meinen älteren Bruder: Wir eiferten um die besten Zensuren, um in der Hierarchie der indischen Bourgeoisie aufsteigen zu können.

Die Hindus repräsentieren längst nicht 1/3 der Weltbevölkerung und die Buddhisten noch viel weniger. Ich versuche mir eine Weltkonstellation vorzustellen, in der Millionen Kuhanbeter und ihre Milliardengötter die Tempelglocken in Europa ertönen lassen.

In New-Delhi traf mein Bruder seinen muslimischen Schulfreund Aquil Ahmad wieder. Bei diesem Wiedersehen erneuerten sie ihre Freundschaft. Ein wichtiger Grund für die Innigkeit war Aquils Spezialisierung in der Urdu-Literatur. Die Urdu-Poesie gehörte zu den Musestunden meines Bruders, der Mathematiker geworden war. Als gemachter Mann lebt und arbeitet mein Bruder jetzt in den Vereinigten Staaten. Ich bekam die Intensität ihrer Freundschaft nur am Rande mit, weil ich als Streber in der fremdsprachigen Abteilung einer anderen Hochschule emsig studierte. Ich erfuhr auch im Laufe der Zeit, daß Aquil seinen Vater schon als Kind verloren hatte. Er nannte meinen Vater mal Onkel und in der letzten Zeit, in der mein Bruder und ich zum Studieren in zwei verschiedene Länder ausgewandert waren, wie wir Baba[6].

1993 arbeitete ich als Werkstudent im Volkswagenwerk Kassel, als gegen jedwede Erwartung die Nachricht eintraf, daß Baba auf dem Sterbebett lag. Ich nahm den nächsten Flug nach Indien. Als ich in Trauer um meinen Vater in New-Delhi ankam, organisierte Aquil, der Muslime-Freund, mein rasches Fortkommen zur ostindischen Stadt Patna. Ich konnte Baba in den letzten Minuten seines Lebens zwar nicht wiedersehen, aber als Hindu-Sohn übergab ich selbstverständlich seinen Leichnam dem Feuer am Gangesufer. Bei allen letzten aufwendigen Trauerzeremonien funktionierte Aquil Ahmad wie eine koordinierende zuverlässige Maschine.

Was ist eigentlich Islam? Ich gebe zu, daß mich diese Frage bis heute eher marginal beschäftigte. Der Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten ist mir gleichgültig. Ich komme aus einem Land, in dem in der Schule selten die muslimische Religion unterrichtet wird. Darüber hinaus habe ich als gebildeter Tiefgläubiger bloß einen Teil der zahlreichen hinduistischen Veden, Upanishden und gigantischen Epen gelesen.

Auf CNN hörte ich eine muslimische Akademikerin klagen, daß 1/3 der Weltbevölkerung aus Muslimen bestehe. Solange sich die Welt nicht bemühe, die Muslime zu verstehen, bleibe eine friedliche Koexistenz ferne Utopie. Die Hindus repräsentieren längst nicht 1/3 der Weltbevölkerung und die Buddhisten noch viel weniger. Ich versuche mir eine Weltkonstellation vorzustellen, in der Millionen Kuhanbeter und ihre Milliardengötter die Tempelglocken in Europa ertönen lassen.

Als in Europa ausgebildeter indischer Schriftsteller fällt es mir immer schwerer der Ansicht des europäischen Philosophen Gadamer zuzustimmen. Ich habe vor allem die Gastfreundschaft der Muslime schätzen gelernt. Das Bild, das ich vom Islam habe, ist positiver als das von Gadamer.

Als flüchtigen Trost lasse ich meine Gedanken zu den Moscheen am Gangesufer schweifen, zumal in meiner Wahlheimat Deutschland wie bei den meisten der hier Lebenden das alles in so weite Ferne rückt.


Anmerkungen:

[1] Satyagrah: Der gewaltlose Widerstand für die Wahrheit.

[2] Agarwa: Ein fremder urdu-persischer Name für die Hindus, die über 81% der Landesbevölkerung ausmachen.

[3] Urdu: Offizielle Landessprache Pakistans, die auch in Indien weit verbreitet ist. Sie ist mit der indischen Nationalsprache Hindi verwandt und hat arabische wie persische Wurzeln.

[4] Sherwani: Ein langer Mantel, dessen Kragen am Hals geschlossen ist (Mogulmode).

[5] Eid-ul-Azha: Das zweitgrößte Festival der Muslime.

[6] Baba: Liebkosende Betzeichnung für Vater.



Anant Kumar wurde in der nordindischen Staat Bihar geboren. Deutsch lernte er am Goethe Institut New-Delhi. 1991 zog er nach Deutschland, um Germanistik zu studieren. Er lebt in Kassel als freier Schriftsteller. In den letzten Jahren erschienen Gedicht- und Prosabände: "Fremde Frau - Fremder Mann" (1997), "Kasseler Texte" (1998), Die Inderin (1999), "...und ein Stück für Dich. Ein Bilderbuch für Kinder und Erwachsene" (2000), Die galoppierende Kuhherde (2001).

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