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Kontroverse

Auf Distanz zur Gewalt?

Schon im Vorfeld des G8-Gipfels von Genua füllten Berichte über »gewaltbereite« Demonstranten und »Polit-Hooligans« die Schlagzeilen der Tageszeitungen und die Sondersendungen im Fernsehen. Anläßlich der Auseinandersetzungen rund um den Göteborger EU-Gipfel veröffentlichte die deutsche Sektion von ATTAC ein Diskussionspapier, mit dem sich die Organisation deutlich gegen Gewalt ausspricht - und zwar mehr aus taktischen als aus moralischen Gründen. Kritik an dieser hier dokumentierten Position kommt sowohl aus den eigenen Reihen als auch aus dem iz3w.

1. Strategie statt Militanz vom ATTAC-Koordinierungskreis
2. Militanz als Strategie von Thomas Fritz
3. Gegen-steuern von der AG Konfliktprävention im iz3w



Strategie statt Militanz

vom ATTAC-Koordinierungskreis


Die Polizei ist nur Instrument der herrschenden Politik, nicht aber Ursache der gesellschaftlichen Probleme. Eine Strategie, die auf Militanz setzt und die Konfrontation mit der Polizei sucht, lehnen wir deshalb ab.

Die gegenwärtig herrschende Form der »Globalisierung« (...) führt zu einer Vertiefung von sozialer Ungerechtigkeit und Ausgrenzung. (...) Es ist nur logisch und natürlich auch gut so, daß diese Entwicklung Kritik, Widerstand und Gegenbewegung hervorruft. Sie (diese globalisierungskritische Gegenbewegung, d. Red.) ist eine Bewegung im Werden und Hoffnungsträgerin für viele. Sie ist aber auch noch keineswegs so stabil, als daß sie nicht jeder Zeit scheitern könnte.

Genauso unvermeidlich wie die Entstehung einer globalisierungskritischen Bewegung ist es, daß die wenigen Gewinner der herrschenden Form der Globalisierung und ihre politischen Vertretungen ein Interesse daran haben, daß diese Bewegung sich nicht zu einer mächtigen politischen Kraft formieren kann. Dazu bedienen sie sich eines großen Arsenals an Mitteln, darunter Diskreditierung, Spaltung und offene Repression. Daher ist es nicht verwunderlich, daß seit Seattle eine Eskalation beim Einsatz polizeilicher Mittel zu beobachten ist, immer häufiger Gewalt von der Polizei ausgeht und die Einsätze von immer drastischerer Unverhältnismäßigkeit geprägt sind. ATTAC verurteilt den konfrontativen, provokanten und mit der Einschränkung demokratischer Rechte einhergehenden Einsatz von Polizei gegen friedliche Proteste. Insbesondere ist der Einsatz von Schußwaffen nicht zu rechtfertigen. Er stellt für Europa eine neue Qualität staatlicher Übergriffe dar.

Veränderung kann nur durch die Teilnahme vieler Menschen an gesellschaftlicher Bewegung erreicht werden. An diesem demokratischen Imperativ orientieren sich die Aktionsformen von ATTAC. Aktionsformen, die diesem Ziel widersprechen und zur politischen Isolierung und moralischen Diskreditierung der Bewegung führen, lehnen wir ab.

Trotzdem ist bei Protestaktionen nicht die Polizei unser Gegner. Sie ist nur Instrument der herrschenden Politik, nicht aber Ursache der gesellschaftlichen Probleme. Eine Strategie, die auf Militanz setzt und die Konfrontation mit der Polizei sucht, lehnen wir deshalb ab. Wir wissen, daß es unter den GlobalisierungskritikerInnen auch andere Meinungen gibt. Wir halten diese für theoretisch falsch und politisch schädlich. Die (...) gegenseitige Kritik ist notwendig zur Klärung der Widersprüche untereinander und dient nicht der Distanzierung und Auslieferung an die Polizei noch der Diffamierung als Helfershelfer des Systems.

ATTAC ist der Meinung, daß gesellschaftliche Veränderungen durch die Köpfe der Menschen gehen müssen. Ohne die Emanzipation von ideologischer Bevormundung wird es keine Veränderung geben. Veränderung kann deshalb auch nur demokratisch, d.h. durch die Teilnahme vieler Menschen an gesellschaftlicher Bewegung erreicht werden. Anders funktioniert sie nicht. An diesem demokratischen Imperativ orientieren sich auch die Aktionsformen von ATTAC. Aktionsformen, die diesem Ziel widersprechen und zur politischen Isolierung und moralischen Diskreditierung der Bewegung führen, lehnen wir ab. Daraus ergibt sich, daß unsere Aktionsformen friedlich und frei von physischer Gewaltanwendung sind. Das schließt Aktionen zivilen Ungehorsams, wie Blockaden und begrenzte Regelverletzungen nicht aus.

Die Anwendung physischer Gewalt ist ein Problem, das für alle Menschen eine existenzielle Dimension hat. Jedes Kind, das einmal geschlagen wurde, hat diese Erfahrung gemacht. Deshalb erweckt diese Gewalt so tiefgehende Emotionen, wie wir gerade erst jetzt wieder im Zusammenhang mit dem EU-Gipfel in Göteborg erlebt haben. Deshalb wird die Präsenz von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung als besonders schwerwiegend empfunden. Aber gerade deshalb auch ist das Gewaltthema so leicht politisch instrumentalisierbar, gerade deshalb ist es ein so wirksames Mittel zur Diskreditierung und Spaltung von sozialem Protest. Diese besondere Qualität von Gewalt muß in eine politische Strategie, die diesen Namen verdient, eingehen.

Die Anwendung physischer Gewalt ist ein Problem, das für alle Menschen eine existenzielle Dimension hat. Jedes Kind, das einmal geschlagen wurde, hat diese Erfahrung gemacht. Deshalb wird die Präsenz von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung als besonders schwerwiegend empfunden.

Dies gilt umso mehr, als angesichts des Einflusses der Medien auf die Meinungsbildung, insbesondere des Fernsehens, die politische Instrumentalisierbarkeit der Gewaltfrage heute noch mehr Brisanz erhält. Denn Gewaltszenen kommen der visuellen Logik des Mediums in besonderem Maße entgegen. Seine dramaturgischen Bedürfnisse nach Action, einfachen Schemata von Gut und Böse und sein Sensationalismus entfalten ihre Wirkung auf dem Hintergrund der o.g. existenziellen Bedeutung von physischer Gewaltanwendung bei den ZuschauerInnen. Auch wenn es uns nicht paßt, daß die Darstellung in viele Medien einseitig und sensationslüstern ist, die Medien sind ein Machtfaktor, den man nicht ungestraft geringschätzen darf.

Auch die Einebnung des qualitativen Unterschieds zwischen struktureller Gewalt, dem »stummen Zwang der Verhältnisse« also, und physischer Gewalt ist ein Irrweg. Es ist und bleibt ein qualitativer Unterschied, ob sich z.B. patriarchale Gewalt darin äußert, daß Eltern von ihren Kindern Gehorsam über nicht-physische Druckausübung durchsetzen, oder ob sie diesen mit Prügel erzwingen. Es ist und bleibt ein qualitativer Unterschied, ob ich gezwungen bin, meine Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, oder ob etwas mit vorgehaltener Waffe erzwungen wird.

Als praktische Schlußfolgerung für zukünftige Aktionen wird ATTAC sich an folgenden Eckpunkten orientieren: Wir sind mit jeder Organisation und Person aus der globalisierungskritischen Bewegung zum Gespräch und zur Kooperation bereit. Niemand darf a priori ausgegrenzt werden; mit Gruppen, die die Globalisierung aus nationalistischen und chauvinistischen Motiven kritisieren, wollen wir allerdings nichts zu tun haben. Uns ist es wichtig, daß Aktionen, an denen wir beteiligt sind, von vorneherein einen klaren, erkennbaren Charakter haben - wer dort hinkommt, muß vorher wissen, was sie/ihn erwartet. Für gemeinsame Aktionen streben wir deshalb Absprachen an, die für alle Partner verbindlich sind. (...) Gegenseitige Instrumentalisierungen haben in einer gemeinsamen Bewegung keinen Platz. Akteure, die sich daran nicht halten, begreifen wir nicht als Bündnis- oder GesprächspartnerInnen und werden sie gegebenenfalls - auch öffentlich - entsprechend eindeutig kritisieren.

Der Koordinierungskreis von ATTAC Deutschland: Lena Bröckl (ATTAC Berlin), Hugo Braun (Euromärsche), Sven Giegold (ATTAC), Martin Gück (KAIROS Europa), Martin Herndlhofer (Pax Christi), Philipp Hersel (blue 21), Dirk Krüger (ATTAC Rheinland), Oliver Moldenhauer (ATTAC), Pedro Morazan (Südwind), Werner Rätz (ila), Peter Wahl (WEED).

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Militanz als Strategie

von Thomas Fritz


Es ist geradezu eine historische Konstante, daß größere soziale Konflikte auch durch gewaltsame Auseinandersetzungen begleitet werden.

Entgegen der häufig vorgebrachten Behauptung, die militanten Auseinandersetzungen am Rande der diversen Gipfel schadeten den politischen Zielen der globalisierungskritischen sozialen Bewegung, läßt sich empirisch für das deutsche ATTAC-Netzwerk festhalten, daß die Medien in der Bundesrepublik erst aufgrund der Krawalle ein großes Interesse an ATTAC entwickelt haben und die Darstellung jenseits der Regenbogenpresse relativ differenziert geworden ist und ansatzweise auch ATTAC-Forderungen transportiert werden. Daher ist die in dem ATTAC-Diskussionspapier zur Gewaltfrage vorgebrachte Medienkritik so nicht zutreffend. Selbst die katastrophalen Ereignisse von Genua, der Tod des Demonstranten Carlo Giuliani und der brutale Polizeiüberfall auf die Schule Diaz haben die inhaltliche Kritik an den G8 in den bürgerlichen Medien nicht untergehen lassen.

Für dieses widersprüchlich-symbiotische Verhältnis zwischen friedlichem und militantem Protest ist ATTAC aber nur ein Beispiel von vielen. Es ist geradezu eine historische Konstante, daß größere soziale Konflikte auch durch gewaltsame Auseinandersetzungen begleitet werden. Die Legitimität der jeweiligen Forderungen wurde dadurch jedoch nicht zwangsweise unterminiert. So errang die Forderung nach Abschaffung von AKWs trotz der Existenz eines militanten Flügels der Anti-AKW-Bewegung hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Manche behaupten sogar, dies sei eine der Erfolgsbedingungen der Anti-AKW-Bewegung gewesen. Insofern ist die Aussage des ATTAC-Diskussionspapiers, Strategien, die auf Militanz setzen, seien theoretisch falsch und politisch schädlich, zu hinterfragen.

Selbstverständlich ist es bedauerlich, daß Gewalt sozialen Bewegungen Aufmerksamkeit verschafft, sie dadurch gelegentlich erst politisch ernstgenommen werden. Das Bedauern über diesen Mißstand ist jedoch gleichbedeutend mit dem Bedauern darüber, in einem Gesellschaftssystem leben zu müssen, daß derartige und noch wesentlich drastischere Widersprüche am laufenden Band produziert.

Das symbiotische Verhältnis zwischen friedlichem und militantem Protest als solches wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, heißt noch lange nicht, Gewalt gutzuheißen oder gar die eigene Festlegung auf gewaltlosen Protest aufgeben zu müssen. Es heißt aber sehr wohl, sich nicht die Spaltung des Protestes durch den Staat, dessen ideologische Begleitmusiker oder Medien aufzwingen zu lassen.

Zwar betont das ATTAC-Diskussionspapier, daß niemand aus der globalisierungskritischen Bewegung a priori ausgegrenzt werden dürfe, faktisch stellt die Existenz dieses Papiers aber, schon allein aufgrund seines öffentlichen Charakters, eine unmißverständliche Distanzierung von militantem Protest dar. Für eine soziale Bewegung hätte es eines solchen Papiers aber gar nicht bedurft. Die Aktionsformen von ATTAC sind vergleichsweise klar, die Festlegung auf Gewaltlosigkeit ist unumstritten, und auch die Medien zählen ATTAC zu den »gemäßigten« Kritikern des Globalisierungswahns. Die Distanzierung verdeckt zudem, daß die seit Göteborg zunehmende staatliche Repression schon jetzt nicht nur Militante trifft, sondern die gesamte globalisierungskritische Bewegung. Die Frage ist also unvermeidbar, wem oder was ein solches Papier überhaupt nutzt.

Ohne radikale Kritik des Bestehenden, ohne eine Wurzelbehandlung des Kapitalismus ist eine Formulierung grundlegender Alternativen allerdings unmöglich.

Neben verschiedenen Einzelpersonen und Gruppen sind Nichtregierungsorganisationen maßgebliche Initiatorinnen und Trägerinnen von ATTAC. Nach der Gründung des deutschen ATTAC-Ablegers, der anfänglich eher nach einem Experten-Netz für Finanzmarktfragen aussah, wurde sehr schnell von den Aktivisten der wesentlich dringendere Bedarf nach einer globalisierungskritischen sozialen Bewegung geäußert und diese Umorientierung von ATTAC schließlich auch vorgenommen. Dabei scheint aber noch nicht reflektiert worden zu sein, daß die Erfolgsbedingungen von NRO und sozialen Bewegungen sich in mancherlei Hinsicht unterscheiden. Der Erfolg von NRO verdankt sich nicht nur, aber auch einer weitgehenden Akzeptanz auf Seiten der Herrschenden, welche durch wohldosierte, systemkonforme Reformvorschläge begrenzter Reichweite erreicht wurde, wobei die öffentliche Distanzierung von militantem Protest zum guten Ton gehört. Eine soziale Bewegung wie ATTAC jedoch kann sich nicht die Erfolgsbedingungen von NRO als eigene Grenze setzen. Das geht schon gar nicht, wenn mit dem Slogan »Eine andere Welt ist möglich« operiert wird, welcher die Thematisierung grundlegender gesellschaftlicher Alternativen verspricht.

Ohne radikale Kritik des Bestehenden, ohne eine Wurzelbehandlung des Kapitalismus ist eine Formulierung derartiger Alternativen allerdings unmöglich. Nur, die Notwendigkeit, daß Globalisierungskritik Kapitalismuskritik sein muß, wird mit der wünschenswerten Klarheit fast nur noch von denjenigen formuliert, in deren Kreisen die Militanten vermutet werden. NRO tun das nicht, soziale Bewegungen eher selten und verschämt. Das ist aber ein Problem. Wenn Kapitalismuskritik nicht aus diesen winzigen Nischen herausfindet und wieder hegemoniefähig wird, bleibt auch die Formulierung gesellschaftlicher Alternativen notwendig begrenzt, widersprüchlich und unzulänglich. Die öffentliche Distanzierung von jenen Nischen ist dabei in jedem Fall kontraproduktiv.

Thomas Fritz ist Mitarbeiter der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Umwelt und Entwicklung (BLUE 21), die im ATTAC-Netzwerk organisiert ist.

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Gegen-steuern

von der AG Konfliktprävention im iz3w


Da schießen Polizisten mit scharfer Munition auf Demonstranten, da werden Übernachtungsquartiere und Pressezentren von staatlichen 'Sicherheitskräften' platt gemacht, die Anwesenden wahllos zusammengeschlagen und ohne Anklage tagelang in Gefängnisse gesperrt - und Nichtregierungsorganisationen wie ATTAC beschweren sich über die Gewalt der Demonstrierenden! Sicherlich erfolgt in dem Diskussionspapier die Abgrenzung von der »Militanz« eher vorsichtig, die polizeiliche, auch die strukturelle Gewalt werden beim Namen genannt, man gibt sich dialogbereit mit den Militanten - nichtsdestotrotz hat das Papier vor allem die Distanzierung von ihnen zum Ziel.

Um der Strafe medialer Nichtbeachtung zu entgehen, scheint ATTAC eine deutliche Distanzierung von dem durch Fernsehen und Presse geschürten Feindbild »Schwarzer Block« ebenso notwendig wie konstruktive Ratschläge an die Politik.

Es ist natürlich vollkommen legitim, über Sinn oder Unsinn von militantem Protest nachzudenken und gegebenenfalls Kritik daran zu üben. Vergleicht man die gegenwärtige Diskussion mit den unsäglichen »Gewaltdebatten« der 80er Jahre, läßt sich eine wohltuende Unaufgeregtheit konstatieren. Einem Teil der Argumente von ATTAC könnte man sogar zustimmen, wäre ihre Intention nicht rein taktischer Natur. Denn um der Strafe medialer Nichtbeachtung zu entgehen, scheint ATTAC eine deutliche Distanzierung von dem durch Fernsehen und Presse geschürten Feindbild »Schwarzer Block« ebenso notwendig wie konstruktive Ratschläge an die Politik. Daß die Medien ein Machtfaktor sind, »den man nicht ungestraft geringschätzen darf«, hat die Organisation bereits im Vorfeld von Genua erkannt. Zuvor allenfalls einen Mittelfeldplatz im bundesdeutschen NGO-Spektrum einnehmend, hat sich ATTAC durch permanente Medienpräsenz nun unvermittelt an die Spitze der »Globalisierungsgegner« gehievt.

Die für ATTAC so nützliche Distanzierung von »der« Gewalt weist jedoch bei näherem Hinsehen einige Widersprüche auf. So wird zum Beispiel nicht zwischen verschiedenen Formen der Gewalt, zwischen ihren Ursachen, Hintergründen und Auswirkungen oder hinsichtlich der jeweiligen historischen Situation differenziert. Gewalt gegen Personen und gegen Sachen werden in einen Topf geworfen, als ob es da nicht einen erheblichen Unterschied gäbe. Das staatliche Gewaltmonopol wird keinesfalls in Frage gestellt, sondern lediglich Auswüchse wie die brutalen Polizeiaktionen kritisiert. Wer jedoch vom Gewaltverhältnis Staat schweigt, macht sich unglaubwürdig, wenn er nur die Reaktionen darauf geißelt. So hirnlos manche militanten Aktionen sind, so eindeutig ist doch, daß es sich hier um eher verzweifelte Versuche handelt, die Gewalt der Verhältnisse kenntlich zu machen. Die Konfrontation mit der Polizei wird dabei nicht »gesucht«, wie ATTAC den Militanten pauschal unterstellt, sie wird in aller Regel unter hohem persönlichen Einsatz in Kauf genommen. Nicht zuletzt ist es die Enttäuschung über Reformpolitiken à la ATTAC, die bei vielen zum (Irr-) Glauben führt, es sei außer Militanz nichts mehr möglich oder sinnvoll.

Wer jedoch vom Gewaltverhältnis Staat schweigt, macht sich unglaubwürdig, wenn er nur die Reaktionen darauf geißelt.

Die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols liegt durchaus in der Logik des Politikverständnisses von ATTAC, ist der Staat doch auch der zentrale Ansprechpartner für Forderungen und Alternativvorschläge. So wünscht sich die Organisation von den sieben »führenden Industriestaaten« (Rußland darf am G8-Gipfel bekanntlich nur wegen seiner Militärmacht teilhaben) zum Beispiel die Einführung einer internationalen Kapitalverkehrsteuer. Warum aber sollten diese Staaten die daraus resultierenden Einnahmen nicht für die weitere Aufrüstung der inneren und äußeren Ordnungskräfte nutzen? Denn das Gewaltverhältnis der kapitalistischen Ökonomie läßt sich seit jeher nur durch militärische und polizeiliche Absicherung aufrecht erhalten. Neuerdings wird dafür sogar ein militärisch durchgesetzter 'Menschenrechtsimperialismus' bemüht, der demokratische Rechte verspricht, wo die Durchsetzung von eigenen Machtinteressen gemeint ist.

Die Forderungen von ATTAC nach »Kontrolle und Regulierung« des vermeintlich naturwüchsigen 'Raubtierkapitalismus' (auch wenn diese nicht mit polizeilichen und militärischen Mitteln durchgesetzt werden sollen), sind mit den Eigeninteressen der Industriestaaten nicht gänzlich unvereinbar. Im Gegenteil: Daß gerade liberalisierte Märkte eine starke 'ordnende Hand' mitsamt des dazu nötigen Gewaltapparates benötigen, zeigt z.B. die Entwicklung der Europäischen Union. Das auf dem Schengener Abkommen beruhende Kontroll- und Überwachungssystem, dessen tödliche Gewalt Flüchtlinge im südspanischen Tarifa ebenso zu spüren bekommen wie am Frankfurter Flughafen (und das auch die Ausreise einiger deutscher Genua-Aktivisten verhinderte) spricht eine ebenso deutliche Sprache wie die fortschreitende Militarisierung der EU-Außenpolitik. Die von ATTAC-Kreisen gerne geforderte Aufwertung der EU als Gegengewicht zu den USA erweist sich vor diesem Hintergrund als Bumerang.

Der von ATTAC losgetretenen Gewaltdebatte sollten also eine Analyse kapitalistischer Regulationsweisen und eine Diskussion um das Verhältnis zum Staat vorausgehen. Denn wer einerseits durchsetzungsfähige Finanzämter fordert und sich andererseits über die Aufrüstung (polizei)staatlicher Gewalt wundert, sollte auch die Finger vom Aufbau einer »internationalen Finanzarchitektur« lassen.

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Die Kontroverse erschien zuerst in der Nr. 255 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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https://sopos.org/aufsaetze/3b9919a8ac56b/1.html