von Sven Ehlers (sopos)
Nach einem zentralen Marxschen Theorem ist die Gewalt als ein Moment der Transformation bestimmt: Die Gewalt sei die Geburtshelferin der alten Welt, die mit der neuen schwanger gehe. Dem entgegengesetzt diskutiert Hannah Ahrendt das Auftreten von Gewalt im Zusammenhang mit der Abwesenheit von Macht: "Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist".[1] In Genua bildete der Marxsche mit dem Ahrendtschen Gewaltbegriff eine Schnittmenge: Die Regierungschefs glaubten, sich während des G8-Gipfels vor dem Volke schützen zu müssen - ein Zeichen des Verlustes von Anerkennung und damit von Macht. Infrage gestellt wurde die Macht von einer Gewalt, die auf den Plan trat, um die kapitalistische Globalisierung, die in jeden Winkel der Welt eindringt und alle vorkapitalistischen Strukturen durch marktvermittelte ersetzt, zur Zielscheibe zu nehmen.
Eine andere Welt ist zwar weit entfernt; jedoch so isoliert, wie die Presse glauben machen will, waren die Demonstranten nicht. Mit Unterhosen demonstrierte die Genueser Bevölkerung Solidarität. Entgegen einer Weisung Berlusconis, keine Wäsche vor den Fenstern hängen zu lassen, um das Gesamtbild nicht zu stören, hingen die Genueser ihre Leibwäsche in die Fenster. Weisungen dieser Art haben in Italien Tradition: Als 1938 Hitler seinen Verbündeten Mussolini besuchte, gab es die gleiche Weisung.
Die Gewalt in Genua war mehr als nur ein Aufeinandertreffen von einer "faschistoiden" Polizei und "gewaltbereiten Chaoten". Sie war Ausdruck allgemeiner politischer Tendenzen, die sich in den westlichen Industriegesellschaften abzeichnen. Einer neu erstarkenden Linken steht eine expandierende Rechte gegenüber:
"Jetzt, zum 118. Geburtstag Mussolinis, scheint auch die letzte Scham verflogen zu sein. In Predappios Souvenirladen begutachten junge Leute T-Shirts mit Mussolini-Zitaten und erwerben Adolf Hitlers 'Mein Kampf'. Ungehindert."[2]
Die Wahl Haiders in Österreich und die Erfolge der Rechten in ganz Europa sind keine zufälligen Erscheinungen. Die politische Mitte bricht weg. An ihre Stelle treten zwei polarisierte Positionen: Auf der einen Seite steht die neue Rechte mit einer Überbetonung von Nation und Regionalität, die sich mit latentem Rassismus paart; auf der anderen Seite entsteht eine linke Bewegung, denen die Globalisierungsgegnerschaft lediglich unterstellt wird. Tatsächlich ist die Revolte von Genua von einer breiten internationalen Bewegung getragen worden. Was diese vor allem kritisiert, ist die "hemmungslose" Form der kapitalistischen Globalisierung. Neu an der Bewegung ist das Überschreiten der Ein-Punkt-Bewegungen hin zu einer Kritik des gesellschaftlichen Ganzen.
Das libertäre Konzept eines Basisjournalismus, wie es etwa von indymedia praktiziert wird, zeigt, daß eine tendenziell herrschaftsfreie Gegenöffentlichkeit organisiert werden kann, die wiederum auch wesentlichen Einfluß auf die bürgerlichen Medien und Politiker auszuüben vermag.
Nach dem Zusammenfall der bipolaren Weltordnung stand der Kapitalismus als alternativloses Gesellschaftsmodel da und wurde als Sieger der Geschichte gefeiert. Das Rede vom "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) wurde zum geflügelten Wort. Den empirischen Gegenbeweis freilich liefert die momentane ökonomische Krise: Folgt man Frèdéric F. Clairmonts Argumentation,[3] so ist die Prosperitätsphase der 90er Jahre endgültig vorbei und eine neue Talsohle steht bevor. Das Resultat des weltweiten kapitalistischen Siegeszuges: "Allein die Schulden der Dritten Welt stiegen von 1300 Milliarden Dollar 1992 auf 2100 Milliarden Dollar Ende 2000, während die jährlichen Zinszahlungen im gleichen Zeitraum von 167 Milliarden auf 343 Milliarden Dollar anwuchsen."[4] In Europa ist neben dem Wegfall der traditionellen Sozialsysteme auch die riesige Anzahl von nicht mehr gebrauchten Arbeitern spürbar. Überall produziert der Kapitalismus ohne Beißhemmung (Negt) überflüssige Arbeitskräfte.
Die Gewalt in Genua erscheint nur als Vorbotin einer zukünftigen. Die monströse Barbarei der Polizei und die Verwüstung der Genueser Innenstadt sind sichtbares Zeugnis einer sich verschärfenden Tendenz. Da nur über die Gewalt, nicht aber über ihre Ursachen diskutiert wird, bleibt das Potential der Bewegung unsichtbar. Wo die Gewalt herrscht, ist Macht im Verschwinden. Noch haben die Herrschenden genug Macht, um die Gewalt zu beenden und Alltag einkehren zu lassen. Die Revolte von Genua dauerte nur zwei Tage, doch in diese kurzen Zeit ist der Legitimationsverlust der Herrschaft offenbar geworden. Die Tragweite der gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozesse ist noch nicht vollständig absehbar, doch schon in Genua ist ein Stück neue Welt spürbar geworden, das Ausblicke auf eine freiere Zukunft zuläßt. Im Abseits der Gewalt war Spielerisches und Leichtes zu beobachten: Kreativität und Phantasie vermischten sich mit politischem Protest.
Der internationale Protest in Genua war eine erfolgreiche Revolte gegen die kapitalistische Globalisierung. Das libertäre Konzept eines Basisjournalismus, wie es etwa von indymedia praktiziert wird, zeigt, daß eine tendenziell herrschaftsfreie Gegenöffentlichkeit organisiert werden kann, die wiederum auch wesentlichen Einfluß auf die bürgerlichen Medien und Politiker auszuüben vermag. Nicht zuletzt Indymedia ist es zu verdanken, daß die Polizeikrawalle in der Öffentlichkeit kritisch diskutiert werden und sogar einen höheren Rang als die Anschuldigungen gegen den "Black Block" erhalten haben.
Die Internationalität von Genua war ein praktischer Gegenentwurf zur kapitalistischen Globalisierung: ein Versuch, Demokratie von unten mit einem rätekommunistischen Einschlag zu praktizieren. An Genua faszinierte das Ausprobieren nichtkapitalistischer Lebensformen, vermischt mit einer Toleranz, die gleichzeitig jenseits der Beliebigkeit stand. Das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit (Luxemburg) stand gegen die Zäune und Mauern der Herrschaft, gegen den uniformierten Militarismus der Carabinieri und gegen die Technik der Gewalt.
Die bürgerlichen Medien suchten zu ergründen, was die Menschen im Protest zusammenhält, um im nächsten Schritt die Bewegung entweder unter dem Vorwand, die Globalisierung sei nicht aufzuhalten und gerade die G8 das adäquate Instrument für Veränderung, scharf zu attackieren oder sie komplett wegzuloben. Der SPIEGEL etwa untertitelte: "Eine neue, wirklich internationale Protestgeneration heizt Politikern und Konzernchefs ein - und zwar zu Recht",[5] um sodann die "neue Protestgeneration" zu beschreiben:
"Sie heißen Astrid, Jutta und Oliver, sie sträuben sich nicht dagegen, daß man sie die 'neue Linke' nennt, weil sie wissen, daß Massenmedien Vereinfachungen brauchen. Sie geben der "Bild"-Zeitung Interviews. Sie diskutieren länger über die Frage, wie sie sich mediengerecht präsentieren können, als darüber, ob ihre Anliegen richtig wiedergegeben werden."[6]
Schenkt man dem SPIEGEL Glauben, so besteht die Bewegung im Kern aus solchen Leuten. Leute wie der idealtypisch vorgestellte Christian Bautz, der "Joop-Pullover und Armani-Hose trägt" und für den "Sitzblockaden das äußerste sind", Leute, die "keine Lust haben, sich für ihre Ideale das Leben zu ruinieren." Suggeriert wird damit, daß das Leben im Kapitalismus nicht ruinös und entfremdet sei, nur der Protest gegen diese Welt ruiniere und entfremde. Der Tenor ist deutlich: Eine paar Leute, die Kommerz und Protest in sich vereinen können und die sich an der Form stören, doch an den großen Inhalten vorbeigehen, tragen den Protest der Basis. Von den zehntausenden Anarchisten und Kommunisten aus Italien, Frankreich und Spanien - kein Wort. Von all jenen, die von Imperialismus sprechen - kein Wort. Doch gerade diese Töne sind die analytisch treffensten:
"Die imperialistische Politik ist nicht das Werk irgendeines oder einiger Staaten, sie ist das Produkt eines bestimmten Reifegrades in der Weltentwicklung des Kapitals, eine von Hause aus internationale Erscheinung, ein unmittelbares Ganzes, das nur in seinen Wechselbeziehungen erkennbar ist und dem sich kein einzelner Staat zu entziehen vermag."[7]
So schrieb Rosa Luxemburg 1916 in Zürich. Zwei Jahre später fand die Oktoberrevolution statt, die die Welt in zwei unterschiedliche ökonomische Lager spalten sollte: Staatskapitalismus contra Privatkapitalismus. Wer heute die Tendenzen des Kapitalismus analysiert, tut gut daran, auf die Zeit vor der bipolaren Weltordnung zurückzublicken. Eric Hobsbawm weist darauf hin, daß die Existenz der Sowjetunion den Kapitalismus zu Reformen zwang. Hobsbawm kommt zu der Schlußfolgerung:
"Je näher die Jahrtausendwende rückte, um so deutlicher wurde, daß es wirklich angemessener wäre, wieder an die Defekte zu denken, die dem Kapitalismus eigen sind, als sich an der Leiche des sowjetischen Kommunismus zu weiden."[8]
Die Polizisten, die mit Mussolinisprüchen, Knüppeln und Fäusten die inhaftierten Demonstranten gefoltert haben, erkannten in ihrer Gewalt die Macht dieser neuen Bewegung an - der verniedlichenden Berichterstattung der bürgerlichen Medien zum Hohn.
Die von Hobsbawm als short century bezeichnete Periode war wesentlich gekennzeichnet durch die Systemkonkurrenz. Nach dem Wegfall der bipolaren Weltordnung erscheint die Neue Ökonomie als schrankenlos; und genau damit weitaus anfälliger für ökonomische Krisen. Die Revolten in Seattle, Prag, Nizza und Genua sind die sozialen Ausdrücke dieser Krisenanfälligkeit.
Die Globalisierungskritiker legen Zeugnis ab von der Reife einer sozialen Bewegung, die sich längst nicht mehr so ohne weiteres in one-point-movements zerlegen läßt. So vielfältig die Widerstandsformen und so unterschiedlich die politische Herkunft der Demonstranten auch sein mag, die Bewegung zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß sie die freie Diskussion praktiziert und sich weitgehend tolerant gegenüber Andersdenkenden verhält; hieraus gewinnt sie ihre materielle Gewalt, die imstande sein könnte, diese Welt zu verändern.
Von enttäuschten Naturschützern, frustrierten Atomkraftgegnern, gescheiterten Friedensbewegten, humanistischen Pastoren, Feministen bis zu sich programmatisch neu orientierenden Kommunisten und den in der Vergangenheit oft unglücklich handelnden Anarchisten - gleich welchen Alters - herrschte Übereinstimmung: Eine andere Welt ist möglich. Und dafür nahmen sie das Reisen, die entwürdigenden Kontrollen, das Tränengas und die Polizeigewalt auf sich. Bei all dem versuchten sie in neuen Formen zusammen zu demonstrieren und auch zu leben.
Die Herrschenden fürchten sich davor; sie müssen Zäune und Mauern hochziehen, sie heuern agents provocateurs an und bedienen sich des kulturindustriellen Apparates, um die Bewegung zu diskreditieren. Die Polizisten, die mit Mussolinisprüchen, Knüppeln und Fäusten die inhaftierten Demonstranten gefoltert haben, erkannten in ihrer Gewalt die Macht dieser neuen Bewegung an - der verniedlichenden Berichterstattung der bürgerlichen Medien zum Hohn.
Der Versuch, die Bewegung an der Gewaltfrage zu spalten, scheiterte. Zwar zeichnen die bürgerlichen Medien auch das Bild des Chaoten, dem jeder Subjektstatus aberkannt wird: Der Chaot hat die Menschenrechte verloren. Dieses Bild steht in der ungebrochenen Kontinuität rassistischer Ausgrenzung. Es braucht die Kategorie des Chaoten, um zu entpolitisieren. Demonstriert werden darf, solange sich nichts ändert. Hätte es in Genua keine Gewalt gegeben, so wäre die Demonstration auf S. 3 kurz abgehandelt worden. Sicherlich wäre es ohne die verwüstete Innenstadt Genuas nie zu dem gewaltigen Medieninteresse gekommen.
Das Moment der Gewalt wird isoliert und das Chaos beschworen. Hieraus holt sich der Staatsterror seine Legitimation: Die Ordnung muß wiederhergestellt werden. Opposition wird geduldet, solange sie nichts ändern kann, sobald sie aber in die Nähe des gesellschaftlichen Wandels kommt, bedarf es aller Härte zur Durchsetzung der inneren Sicherheit. Jener inneren Sicherheit, der schon 1848 in Frankreich alle politischen Rechte untergeordnet wurden:
"Der Genuß dieser Rechte [der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit] hat keine andre Schranke als die gleichen Rechte andrer und die öffentliche Sicherheit."[9]
Die Legitimation der Staatsgewalt über die vermeintliche Durchsetzung der "öffentlichen Sicherheit" heißt nichts anderes als das Ergreifen sämtlicher Maßnahmen, die dazu notwendig sind, die bestehende Ordnung, d.h. den status quo, aufrecht zu erhalten. In der Konsequenz bedeutet das die komplette Abschaffung rechtsstaatlicher Prinzipien. Der Einsatz von agents provocateurs hat in Italien eine lange Tradition. Die Brigade Rosse zählte wohl zu den am meisten infiltrierten Terror-Gruppen der Welt und auch die Zusammenarbeit clanähnlicher Organisationen wie Mafia und Camorra mit dem Staat steht in Italien in historischer Kontinuität.
Mit zunehmendem Einfluß der Bewegung werden die Herrschenden zu Reformen bereit sein, doch wahre Reformen werden es nicht sein. Solche hatten im dialektischen Wechselspiel eine Revolution zur Folge. Diese bräuchte es, damit der Slogan, daß eine andere Welt möglich sei, nicht eine inhaltsleere Phrase bleibt. Die Herrschenden werden alles tun, um das zu verhindern. Den zu erwarteneden Charakter der Reform hat der italienische Literaturnobelpreisträger Dario Fo in seinem Werk "Der zufällige Tod eines Anarchisten" skizziert. Fo zeigt die Verstrickungen, aber auch die Taktik, derer sich die Herrschenden in Krisenzeiten bedienen:
"Die Menschen wollen Gerechtigkeit? Wir befriedigen sie mit etwas weniger Ungerechtigkeit! Sie verlangen die Abschaffung des Staates? Wir geben ihnen einen etwas liberaleren Staat! Der Arbeiter ruft: Schluß mit der Ausbeutung! Da muß man sich ja schämen! In Ordnung: wir geben ihm einen Arbeitsplatz, an dem er die Ausbeutung nicht so spürt, und sorgen dafür, daß er sich nicht mehr so zu schämen braucht, wenn er ausgebeutet wird! Wenn ein Arbeiter nicht durch einen Betriebsunfall ums Leben kommen will, verbessern wir die Unfallverhütungsvorschriften und setzen die Witwenrenten rauf. Ihr wollt die Abschaffung der gesellschaftlichen Klassen? In Ordnung, wir sorgen dafür, daß sie nicht mehr so ins Auge fallen! Ihr wollt die Revolution: Wir geben Euch Reformen dafür ... entsetzlich viele Reformen. Wir ersäufen euch in einem Meer von Reformen oder genauer gesagt: in Reformversprechen, denn echte Reformen gibt es nicht."
Wenn das nicht mehr funktioniert, kommt der Faschismus als letzte Barriere.
[1] Hannah Ahrendt, Macht und Gewalt, München 1988, S. 57.
[2] Berliner Zeitung vom 31.7.2001, S. 3.
[3] Le monde diplomatique vom 11.5.2001.
[4] Le monde diplomatique vom 11.5.2001.
[5] Der SPIEGEL, Nr. 30/2001, S. 20.
[6] Polit-Facharbeiter auf Montage, in: Der SPIEGEL, Nr. 30/2001, S. 20.
[7] Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, Gesammelte Werke 4, Berlin (Ost), S. 137.
[8] Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München-Wien, 1995, S. 707.
[9] Kap. II der französischen Konstitution, § 8.
https://sopos.org/aufsaetze/3b99079bc24be/1.html