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'STRADA CHIUSA!' oder die gesellschaftliche Produktion von Unzufriedenheit

Beobachtungen zu den Protesten zum G8-Gipfel in Genua

von Michael Fischer

"Die Lektion, daß in einer zusammenwachsenden Menschheit die Herrschaft einer Sektion über andere unweigerlich einen Bumerangeffekt hat, ist noch nicht gelernt worden."
Norbert Elias (1976)

"Die tiefer als der Anlaß reichende Ursache aller großen Revolutionen liegt nicht in der angehäuften Unzuträglichkeit, sondern in der Abnutzung des Zusammenhalts, der die künstliche Zufriedenheit der Seelen gestützt hat."
Robert Musil (1930)


Schild am Zaun: Strada Chiusa
G8-Gipfel in Genua 2001: Der institutionalisierte Weg politischer Partizipation aus der Sicht der Mehrheitsbevölkerung?

Zwei Ereignisse in Europa, zu denen sich massenhaft Menschen zusammenfanden, um einen mehr oder weniger gemeinsamen, doch jeweils völlig unterschiedlichen Zweck zu verfolgen, fanden an einem Wochenende im Juli 2001 statt - die "Love Parade" in Berlin, als kommerzielle 'Parade' zeitgenössischer Unterhaltungs- und Tanzmusik erstmals ausdrücklich als nicht-politische Veranstaltung, und die Proteste zum G7/G8-Gipfel in Genua, deren Teilnehmern wohl niemand ernsthaft den politischen Anspruch abstreiten kann. Auf beiden Veranstaltungen waren überwiegend junge Menschen aus beinahe allen möglichen Ländern zugegen. An ersterer nahmen wohl über 800.000 Menschen teil, bei der politischen Großveranstaltung nach verschiedenen Schätzungen zwischen 150.000 - 300.000 Menschen gleichfalls internationaler Couleur. Es ist vielleicht sinnvoll, sich diesen Sachverhalt vor Augen zu halten, wenn man von "Massenbewegungen" zu Beginn des 21. Jahrhunderts spricht. Als möglicher Ausdruck unterschiedlicher Erlebensmodi gesellschaftlicher Verhältnisse und entsprechender Einstellungsmuster könnte man darüber schon einen Moment nachdenken.

Die Protestierenden sahen sich ca. 20.000 staatlichen Sicherheitskräften gegenüber. Diese Zahl bewegt sich durchaus im Rahmen größerer UN-Friedenstruppen- Kontingente.

Das Gros der öffentlichen Aufmerksamkeit wurde allerdings der Veranstaltung in Genua zuteil. Übrigens weniger dem konspirativ und zugleich prätentiös anmutenden G8-Gipfel als Treffen der acht wahrscheinlich mächtigsten Staatsoberhäupter selbst, sondern vielmehr den Protesten und den mit ihnen zusammenhängenden Ereignissen. Es gibt meines Wissens nach z.B. keine deutsche Zeitung, die auf der Titelseite der Ausgabe vom folgenden Montag anstelle der Ereignisse in Genua die Berliner "Love Parade" gebracht hätte. Ich möchte daher aus gegebenem Anlaß die Gelegenheit nutzen, in etwas erweitertem Bezugsrahmen die Hinweise der Genueser Ereignisse für eine mögliche Diagnose gesellschaftlicher Entwicklung zu Beginn der 21. Jahrhunderts kursorisch zu reflektieren.

Proteste gegen Ausbeutung und Konzernherrschaft, die sich erweiternde Kluft zwischen arm und reich, innerstaatlich wie zwischenstaatlich, gegen Umweltzerstörung, etc. - alles Entwicklungen, die für die Demonstranten in Genua und darüber hinaus unter anderem durch die G8 repräsentiert und forciert werden - hat es in den letzten Jahren häufiger gegeben: 1996 in Chiapas/Mexiko, 1999 in Seattle/USA, 2000 in Nizza/Frankreich, 2001 in Göteborg/Schweden, und noch viele mehr. Meistens kam es in den Zusammenhängen auch zu gewaltvollen Konflikten zwischen Repräsentanten staatlicher Gewalt und Demonstrierenden. Die Ereignisse in Genua stellten jedoch vielleicht eine neue Stufe in der Entwicklung der "Protestkultur" dar. Als Beispiel seien nur einige Indikatoren aufgeführt:

Von verschiedenen Seiten zeigt sich, daß mit den Ereignissen in Genua die Erscheinung der Proteste genauso wie die Haltung der Herrschenden zu den Protesten eine neue, zumindest intensivere Stufe erreicht haben. Ob mit dieser gewissermaßen quantitativen Steigerung der Erscheinung auch ein substantieller qualitativer Umschlag erfolgt ist, ob sich die Proteste zu dauerhaft institutionalisierten politischen Kräften entwickeln, die auch im Sinne der Veränderung der Gestaltung des Zusammenlebens gegen den Widerstand des derzeit herrschenden polit-ökonomischen Establishments wirksam sind, wird sich noch zeigen. Im Moment zeigt sich in den Protesten in erster Linie ein drastisches Maß an Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie insbesondere, aber nicht nur von vielen Jugendlichen erlebt und entgegen vielen anderslautenden Darstellungen von vielen erstaunlich präzise kritisch erfaßt werden.[4]

Was macht diese Unzufriedenheit aus? Die Protestierenden wenden sich unter anderem gegen die grassierende Verschärfung der Unterschiede zwischen arm und reich, gegen ökologische Zerstörung, gegen soziale Ausgrenzung ärmerer Menschen, sei es aus anderen Ländern, sei es im eigenen.[5] Doch liest man die Agenda der G8, so könnte man zunächst fast glauben, sie sei von den sogenannten "Globalisierungsgegnern" mitverfaßt worden:

"The focal point will be strategies to combat poverty [...]. The objective will be to identify measures to support the economy of the weakest countries on the basis of an integrated strategy [...] Another facet of the fight against poverty is the activity conducted by two task forces set up at the Okinawa Summit: the Dot.force, with a mandate to identify solutions to bridge the digital divide between industrialised countries and poor countries, and the task force on renewable energy. [...] With regard to social issues, the Final Communiqué will include reference to the impact of macro-economic conditions on the labour market and the objective of social inclusion".[6]

Armutsbekämpfung, Probleme, die aus unterschiedlichen Zugangschancen zu digitalen Informations- und Kommunikationsmedien entstehen, erneuerbare Energien, soziale Eingliederung - die G8 scheinen sich mit den gleichen Problemen zu beschäftigen, die auch den Protestierenden am Herzen liegen.

Auch das Programm für einen Schuldenerlaß für die ärmsten Länder - eine weitere Forderung der Protestierenden - ist von den G8, bzw. G7 auf die Agenda gesetzt worden; 53 Milliarden US-$ an Auslandsschulden sollen bis zu 37 Ländern[7] erlassen werden, allerdings nicht völlig bedingungslos. Sicherlich, die Punkte unterscheiden sich in ihrer Radikalität von den Forderungen der Protestierenden. Aber man könnte sich ja denken, daß das in erster Linie an dem Zwang zu Kompromissen liege, der demokratischen Entscheidungsfindungen nun einmal inhärent ist. 'Können die Protestierenden denn nicht einsehen, daß sich die Regierenden nach bestem Gewissen um ihre Anliegen bemühen? Und daß sich ihre Forderungen nicht mit den naiven Strategien durchsetzen lassen, die von den Protestierenden vorgeschlagen werden?'[8] Alle wissen, daß sich die Uhr nicht zurückdrehen läßt, sprich "die Globalisierung" rückgängig gemacht werden kann. Auch das bereits zitierte Spiegel-Magazin weiß: "Die Forderung nach einem neuen Protektionismus, also Einfuhrsperren für Kapital und Waren anderer Staaten hat heute keine realistischen Chancen mehr. [...] Welche Folgen solch ein Rückfall in den Protektionismus birgt, belegen die Erfahrungen aus den dreißiger Jahren: Die Abkehr vom Freihandel mündete in der globalen Depression." (Ebd. S. 31) Von den G8, die einen hohen Wert auf eine "offene, öffentliche Debatte legen", wird diese Unmöglichkeit der Umkehr der Globalisierung eingesehen. In ihrem abschließenden 'Communiqué' vom 22. Juli 2001 liest sich das so:

"2. As democratic leaders, accountable to our citizens, we believe in the fundamental importance of open public debate on the key challenges facing our societies. [...]

3. We are determined to make globalisation work for all our citizens and especially the world's poor. [...]"[9]

Eigentlich müßte doch alles in bester Ordnung sein, die G8 verstehen sich als demokratische Führer, ihren Bürgern rechenschaftspflichtig - "democratic leaders, accountable to our citizens". Und sie wollen - die Bewegungsrichtung der "Globalisierungsmaschine" läßt sich nun einmal nicht rückgängig machen -, daß die Globalisierung allen Bürgern, insbesondere den Ärmsten der Welt zugute kommt - "We are determined to make globalization work for all our citizens and especially the world's poor."

Die Sache hat nur einen Haken - wenigstens die Protestierenden, und all die Vielen, die mit ihrem Protest sympathisieren, glauben den "guten Absichten" der G8 nicht, empfinden alles andere als eine Gemeinsamkeit ihrer Anliegen und der Agenda der G8. Sieht man ein wenig genauer hin, ist die Art und Weise wie globale soziale Probleme und mögliche Lösungen von den G8 qualifiziert werden, charakteristisch für die Perspektive von Menschen, die aufgrund ihrer Herrschaftsposition soziale Verhältnisse nur noch in spezifischer Weise verzerrt wahrnehmen können[10]. Denn vollständig lauten die Punkte zwei und drei des Communiqués folgendermaßen:

"2. As democratic leaders, accountable to our citizens, we believe in the fundamental importance of open public debate on the key challenges facing our societies. We will promote innovative solutions based on a broad partnership with civil society and the private sector. We will also seek enhanced co-operation and solidarity with developing countries, based on a mutual responsibility for combating poverty and promoting sustainable development.

3. We are determined to make globalisation work for all our citizens and especially the world's poor. Drawing the poorest countries into the global economy is the surest way to address their fundamental aspirations. We concentrated our discussions on a strategy to achieve this."[11]

Die unter Punkt drei des G8-Communiqués erwähnte Strategie, die Globalisierung insbesondere den Ärmsten der Welt zugute kommen zu lassen, indem die ärmsten Länder in die globale Ökonomie einbezogen werden, muß diesen und allen anderen Menschen, die unter Geschichtsbewußtsein leiden, wahrscheinlich wie blanker Zynismus vorkommen. Denn Ausgangspunkt und Geschichte der Aufstiegsbewegung der entwickelteren Länder dieses Planeten ist bekanntermaßen - oder auch nicht - der Beginn und die Geschichte ihrer Ausbeutung der weniger entwickelten:[12]

"Die plötzliche Ausdehnung des Weltmarkts, die Vervielfältigung der umlaufenden Waren, der Wetteifer unter den europäischen Nationen, sich der asiatischen Produkte und der amerikanischen Schätze zu bemächtigen, das Kolonialsystem, trugen wesentlich bei zur Sprengung der feudalen Schranken der Produktion."[13]

Die unter Punkt drei des G8-Communiqués erwähnte Strategie, die Globalisierung insbesondere den Ärmsten der Welt zugute kommen zu lassen, indem die ärmsten Länder in die globale Ökonomie einbezogen werden, muß diesen und allen anderen Menschen, die unter Geschichtsbewußtsein leiden, wahrscheinlich wie blanker Zynismus vorkommen.

Ohne die systematische Ausbeutung und Zerrüttung der Kolonien, die erzwungene Umstrukturierung und Ausrichtung ihrer lokalen Ökonomien auf die Bedürfnisse der Kolonisatoren, wären letztere niemals zu beherrschenden Industrienationen aufgestiegen, und erstere nie zu "Entwicklungsländern" degradiert worden. Der Einbezug der ärmsten Länder in die globale Ökonomie entspricht bereits seit dem 16. Jahrhundert den "fundamentalen Aspirationen" nicht der ärmsten Länder, sondern der mächtigsten Gesellschaften, bzw. ihrer wirtschaftlichen Establishments. Es lohnt sich, die "enhanced co-operation and solidarity with developing countries", die die G8 pflegen wollen, noch einmal unter diesem Gesichtspunkt zu überdenken.

Die wirtschaftlichen Establishments aufsteigender Industrienationen haben jedoch nicht nur die Bevölkerung kolonisierter Länder über Jahrhunderte hinweg geschröpft, sondern immer auch die Bevölkerung des eigenen Landes. Unter Punkt zwei adressieren die G8 diesen Punkt folgendermaßen: "We will promote innovative solutions based on a broad partnership with civil society and the private sector." Übersetzt man die "civil society" mit (potentiellen) Lohnarbeitskräften, den "private sector" mit industriellen Kapitalisten und vergegenwärtigt sich, daß die zitierte Aussage von Staatsoberhäuptern getroffen wurde, dann erinnert das an die "innovative Lösung", die Marx seinerzeit als "Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation" im ersten Band des "Kapitals" bezeichnet hatte.[14] Ins rechte Licht gerückt wird das Communiqué der G8 so verständlich wie der Unmut der Protestierenden über die Politik der G8 und ähnlich "demokratische", weltweit wirkende Gremien wie die Welthandelsorganisation, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank.

Trotzdem ist nach einiger Überlegung den G8 und der zitierten Spiegel-Diagnose in gewisser Hinsicht zuzustimmen - und zwar insofern, als daß die "Forderung nach einem neuen Protektionismus, also Einfuhrsperren für Kapital und Waren anderer Staaten" heute keine realistischen Chancen mehr hat. Ein "neuer" Protektionismus ist nämlich deshalb nicht möglich, weil der bestehende Protektionismus herrschender Industrienationen viel zu mächtig ist. Freie Märkte im uneingeschränkten Sinne hat es nie gegeben. Die führenden Industrienationen - allen voran seit dem 20. Jahrhundert die USA - haben sich von jeher protektionistisch und militärisch gegen Peripherieländer gewehrt, sofern diese ihren eigenen wirtschaftlichen Establishments nicht die gewünschten Investitions- und Absatzchancen gewährten, oder wenn diese ihre Rohstoffe "zu teuer" verkauften. Und das wird sich auch in absehbarer Zukunft nicht ohne weiteres ändern - jedenfalls nicht durch Gremien wie die G8:

"Standard economic history recognizes that state intervention has played a central role in economic growth. [...] The 'golden age'; of postwar development relied on cheap and abundant oil, kept that way largely by threat or use of force. [...] A large part of the Pentagon budget is devoted to keeping Middle East oil prices within a range that the United States and its energy companies consider appropriate."[15]

Behauptet die neoliberale Doktrin - 'the Washington Consensus' - die humanitäre und egalitäre Qualität des freien marktwirtschaftlichen Kräftespiels, das seine ganze emanzipative Kraft erst entfalten kann, wenn sich Regierungen raushalten, so sieht die 'neoliberale' Realität deutlich anders aus. Die Führungen transnationaler Konzerne vertrauen auf die lebensrettende Kraft staatlicher Intervention und fordern diese auch grundsätzlich ein, wenn sie ihnen nötig erscheint - gibt es beim Volkswagen-Konzern Probleme, ist dies auch schnell ein Problem der deutschen Bundesregierung; empfinden amerikanische Groß-Unternehmen in der Computerbranche eine Bedrohung durch die überlegene Wettbewerbsfähigkeit asiatischer Unternehmen, ist der Weg zu amerikanischen Schutzzöllen auf asiatische IT-Produkte nicht weit; gefährden Konflikte im arabischen Raum die Stabilität und "Angemessenheit" von Rohölpreisen auf dem Weltmarkt,[16] so wird die Regierung der USA sich einmal mehr ihrer Rolle als "Weltpolizei" bewußt und kann mit einem militärischen Potential eingreifen, das sie seit ihrer Teilnahme am Zweiten Weltkrieg nicht mehr aufgeboten hatte.

Ein jüngeres Beispiel ist der 'Helms-Burton-Act', den die US-Regierung ´97 bei der Welthandelsorganisation durchzusetzen versuchte. Dieser hätte es den USA ermöglicht, Sanktionen gegen jegliche Nation durchzusetzen, deren Firmen und Konzerne Handel mit Kuba betreiben. Immerhin ist der Antrag damals nicht positiv beschieden worden, da auch andere entwickeltere Industrienationen sich von diesem Antrag negativ betroffen gesehen hätten.[17] Doch die Liste von Beispielen erfolgreichen Protektionismus' mächtiger Industrienationen ließe sich noch länger fortsetzen; sie zeigt an, daß die Rede von den freien Märkten - ob affirmativ von neoliberalen Protagonisten postuliert und applaudiert, oder von Globalisierungskritikern aufs heftigste kritisiert - die Realität nur äußerst verzerrt erfaßt.

Der "freie" Markt ist mithin eine Einbahnstraße. Nicht zuletzt das Programm des amtierenden US-Präsidenten George W. Bush - 'America first!' - macht klar, in welche Richtung diese Einbahnstraße gegenwärtig verläuft.

Andererseits ist der Begriff des freien Marktes - frei von Regierungseinflüssen, und im Falle relativ demokratisch legitimierter Regierungen vor allen Dingen frei vom Einfluß der jeweiligen Bevölkerung - auch bis zu einem gewissen Grade realitätsangemessen. Und zwar insofern, als daß die Führungen transnationaler Konzerne, deren Umsätze p.a. sich bei einigen mittlerweile im Rahmen des Brutto-Inlandsproduktes von hochentwickelten Industrienationen bewegen, ein lebendiges Interesse daran haben, daß ihnen Regierungen, bzw. die Bevölkerung, die sie vertreten, bei ihren ökonomischen Operationen nicht dazwischen "pfuschen". Zumindest die Regierungen, die Staaten repräsentieren, deren lokale Firmen, Rohstoffe und (billiges) Arbeitskraftpotential die großen Konzerne sich einzuverleiben versuchen. Der "freie" Markt ist mithin eine Einbahnstraße. Nicht zuletzt das Programm des amtierenden US-Präsidenten George W. Bush - 'America first!' (d.h.: America's leading corporations first) - macht klar, in welche Richtung diese Einbahnstraße gegenwärtig verläuft. Die aktuelle Frage ist nicht die, ob es einen "freien Markt" gibt, bzw. geben soll oder ob "Protektionismus" einen gangbaren Weg darstellt. Die Frage ist die, wie das Verhältnis der scheinbar antagonistischen Positionen gegenwärtig beschaffen ist. Und das ist keine allgemein-theoretische Frage, sondern eine Frage der realen Machtbalancen, für die wirtschaftliche genauso wie militärische Stärke der Konkurrenten bestimmend sind - und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen, innerhalb von Staaten, bzw. Staatenverbünden und zwischen ihnen.

Die "Offenheit" und "Öffentlichkeit" ihrer Debatten der "key challenges facing our societies", an deren fundamentale Wichtigkeit die Großen Acht selbst nach eigenen Angaben unter Punkt zwei ihres Communiqués glauben, konnte man in Genua an den vier Meter hohen Stahlzäunen und den 20.000 staatlichen Sicherheitskräften ablesen. Als beißender Tränengasgeruch lag die "open and public debate" für alle Protestierenden förmlich in der Luft. Obwohl man den Punkt ihrerseits vielleicht gelten lassen kann, denn sie glauben ausgewiesenermaßen an die Wichtigkeit offener und öffentlicher Debatten nur als "democratic leaders". Die Teilnehmer des G8-Gipfels sind zwar jeweils als Staatsoberhäupter mehr oder weniger demokratisch legitimiert, das G8-Gremium selbst hat jedoch keine demokratische Legitimation seitens all derjenigen, über die sie entscheiden.[18] Damit hatte die offene und öffentliche Debatte auch keinen Platz innerhalb der "roten Zone", wo die G8-Vertreter tagten.

Diese "rote Zone" hatte jedoch wiederum auch einen Vorteil für die Protestierenden. Denn die meisten maßgeblich bestimmenden politischen Akteure zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind nahezu unsichtbar, weil sie in relativ anonymen Konzernzentralen und Aufsichtsräten sitzen oder als jeweilige staatliche Regierungsvertreter ihre Zugehörigkeit zu dem gegenwärtig politisch tonangebenden Establishment[19] mit dem Verweis auf scheinbar unpersönliche Sach- und Globalisierungszwänge unkenntlich zu machen versuchen. Mit der Schaffung eben dieser "roten Zone" in Genua sind einige von ihnen aller Welt unmißverständlich sichtbar geworden. Diese Sichtbarkeit ist an den Protestierenden von vornherein nicht vorbei gegangen. Die "rote Zone" und ihr vier Meter hoher Stahlzaun sind zu einem Symbol der gegenwärtigen Distanz der Herrschenden zur Bevölkerung über die sie entscheiden, geworden.

Die Glaubwürdigkeitsverluste der Herrschenden, die sie auf der einen Seite durch verschleiernde Rhetorik wettzumachen versuchen (s.o.), werden forciert durch solche Symbole, die sie unter dem empfundenen Druck von 'unten' beständig selbst hervorbringen. An den Stahlzäunen in den Gassen von Genuas Altstadt war immer wieder dieses Schild zu lesen: "STRADA CHIUSA!" Straße geschlossen! Nicht nur viele Demonstrierende in Genua, sondern auch nahezu sämtliche Bürger formaler Demokratien, die sich nicht (mehr) an den mehr oder weniger demokratischen Wahlen beteiligen, denken genau das - der Weg zur politischen Partizipation an den gesellschaftlichen Verhältnissen führt nicht über die politischen Establishments, die auf den Wahllisten figurieren. STRADA CHIUSA! - Straße geschlossen! Der Eindruck, daß diese "Straße" politischer Partizipation über die institutionalisierten Kanäle weitestgehend geschlossen ist, wird auch immer wieder durch den Vergleich der gesellschaftlich erfahrbaren Realität mit der politischen Propaganda verstärkt - ob diese nun aus den Führungsetagen von Konzernen kommt, von arrivierten Politikern verkündet oder in Hochglanzmagazinen gedruckt wird.

Insbesondere - aber nicht nur - Heranwachsende, die oftmals den "Fehler" machen, ihre Erfahrung der gesellschaftlichen Realität mit den ihnen eingeimpften Idealen[20] zu vergleichen, fühlen sich immer unbehaglicher in einer Welt, in der die soziale Realität sich immer weiter von solchen Idealen wie z.B. Menschenrechten entfernt. Dieses wachsende Unbehagen ist mittlerweile jedoch weniger das "Unbehagen in der Kultur", wie Sigmund Freud es seinerzeit erfaßte - Unbehagen, das aus den Triebeinschränkungen und der 'Innenwendung' von Aggressionen im Dienste des Kulturprozesses resultierte. Es ist nicht mehr nur die Gesellschaft als "Käfig" - 'disziplinier dich, willst du was werden'. Es ist auch kein Unbehagen in der "Postmoderne", das aus einer heutigen unermeßlichen Wahlfreiheit möglicher Lebensentwürfe entspränge, wobei keine Orientierung mehr geboten werde und im übrigen sowieso alles nur noch als "Simulation" erscheine.

Doch beide Aspekte - Einschränkung und Freiheit - haben in gewissem Sinne ihren Anteil an der Gestalt des gegenwärtigen Unbehagens, das sich unter anderem in der geäußerten Unzufriedenheit der Protestierenden in Genua manifestierte. Die dem Kulturprozeß bzw. der Zivilisation notwendige Triebeinschränkung, die Freud richtig erkannte, hat auch weiterhin ihre Gültigkeit. Freud betonte vor allem die gewichtige Rolle der "Über-Ich"-Gebote und die fordernde Seite des "Ich-Ideals". Das gratifikatorische Moment bei relativ erfolgreicher Erfüllung des Ideals blieb bei ihm unterbelichtet. Ein wesentliches Moment - so wesentlich wie die Angst vor dem Liebesverlust geliebter Personen und relativ erfolgreiche Sublimierung - in der Entwicklung relativ stabiler und gleichmäßiger Triebkontrollen ist jedoch die Gewißheit oder wenigstens das Gefühl, früher oder später für Selbstdisziplin belohnt oder wenigstens anerkannt zu werden. In den meisten entwickelteren Industriegesellschaften der Gegenwart ist diese Gewißheit, für Selbstdisziplin in irgendeiner Art und Weise belohnt zu werden, mittlerweile nicht mehr gegeben. Die von westlichen Staatsoberhäuptern und Konzernmanagern enthusiastisch verkündete Doktrin der Wettbewerbslogik fordert zwar, daß sich alle mehr anstrengen sollen, impliziert jedoch zugleich, daß notwendigerweise nicht alle dafür belohnt werden können. Oder sollen. Denn ein Wettbewerb ist kein Wettbewerb ohne daß es Sieger und Verlierer gibt, so sehr sich auch alle dabei anstrengen mögen. "Wettbewerb", von dem z.B. auch die Bundesregierung und andere politische und/oder ökonomische Establishments gerade jetzt "mehr" haben wollen, ist damit nicht nur Konkurrenz, sondern Konkurrenz mit dem unmißverständlichen Ziel der Hierarchisierung. So gesellt sich zu dem Zwang zur Triebeinschränkung "im Dienste des Kulturprozesses", oder gar verstärkter Triebeinschränkung "im Dienste des Wettbewerbs" als Bedingung der Möglichkeit an der ersehnten 'Konsum- und Erlebnisgesellschaft' teilnehmen zu können, die Freiheit - aber nicht die Freiheit zu vielen Möglichkeiten, sondern die Freiheit von Sicherheit. Daß viele Heranwachsende unter diesen Bedingungen und besonders mit Blick auf die gegenwärtige Prekarisierung von Lohnarbeits- und Angestelltenverhältnissen[21] selbst in besser bezahlten Berufen ein hohes Maß an Unbehagen empfinden, dürfte jedem einleuchten, der sich nicht gerade in einer außerordentlich privilegierten gesellschaftlichen Situation befindet. Und daß viele von ihnen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen bis zur Revolte unzufrieden sind, kann man auch nachvollziehen. Die G8 selbst schlagen vor, die Globalisierung idealerweise allen Menschen, insbesondere den Ärmsten zugute kommen zu lassen - und schlagen dabei selbst wie die anderen Gremien auf vergleichbarer Ebene seit Jahren einen Weg ein, der der Realisierung dieses Ideals direkt zuwider läuft. Der Widerspruch wird von Jahr zu Jahr deutlicher erfahrbar.

Die "Offenheit" und "Öffentlichkeit" der Debatten der G8 konnte man in Genua an den vier Meter hohen Stahlzäunen und den 20.000 staatlichen Sicherheitskräften ablesen. Als beißender Tränengasgeruch lag die "open and public debate" für alle Protestierenden förmlich in der Luft.

Konsequenterweise standen viele der unzufriedenen Heranwachsenden gemeinsam mit anderen, von 'Anpassungsproblemen' geplagten Erwachsenen als Kritiker der oben beschriebenen konzernherrschaftlichen Globalisierung in Genua zum G8-Gipfel auf der Straße. Sie wurden von Repräsentanten der Staatsgewalt mit Tränengas beschossen, mit Wasserwerfen traktiert, von polizeilichen Schlägertrupps durch die Straßen gejagt und im wehrlosen Zustand von Carabinieris in barbarischer Weise zusammengeschlagen - die im übrigen oft jünger waren als sie selbst. Nach ihren eigenen Medien zu urteilen treten sie nach dieser Erfahrung polizeistaatlicher Repression im Dienste der konzernherrschaftlichen Globalisierung aber dieser um so entschiedener entgegen und für eine Solidarität unter den Völkern, für einen bedingungslosen Schuldenerlaß der ärmsten Länder, für soziale Gerechtigkeit, für die Globalisierung des Widerstands ein. Die Repressionen in Genua haben ihre Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht eingeschüchtert. Das ist durchaus bemerkenswert und spricht für eine größere Beständigkeit dieser Bewegung, als es in vielen Medien von den jeweiligen Autoren angenommen wird.

Andere, die vielleicht tatsächlich angemessenerweise als "Globalisierungsgegner" bezeichnet werden können, äußern währenddessen ihr Unbehagen, indem sie vermehrt Angehörige von Minoritäten verprügeln und beispielsweise "national befreite Zonen" schaffen. Unter den Sicherheitskräften des italienischen Staates vor Ort in Genua dürften nicht wenige solcher Charaktere vertreten gewesen sein. Nicht alle, doch die Mehrzahl unter ihnen hat wahrscheinlich kaum die Chance gehabt, mit den erwähnten Idealen ausführlich vertraut gemacht zu werden, und ihr Unbehagen als gerechtfertigte Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu begreifen und entsprechend zu artikulieren. Die Revitalisierung massiver Beschränkungen des Zugangs zu Bildungsmöglichkeiten, die Prekarisierung von Lohnarbeitsverhältnissen in allen Berufszweigen - über die Grenzen sämtlicher entwickelterer Industrienationen hinweg - begünstigt die Genese solcher Charaktere.

Die "Wahrheit" im Sinne der Fähigkeit zur Emanzipation von den als naturwüchsig, und solcherart lebensvergeudend verlaufenden gesellschaftlichen Verhältnissen liegt nicht per se in den "unterdrückten Klassen". Chancen des Zugangs zu Möglichkeiten der Bildung von relativ zivilisierten Persönlichkeitsstrukturen bilden eine elementare Voraussetzung zur Entwicklung solch emanzipativer Fähigkeiten. Die von den G8 und anderen Gremien auf gleicher Ebene praktizierten Strategien laufen zur Zeit der Ausweitung solch emanzipativer Chancen massiv zuwider. Denn ihre Praxis läuft immer wieder darauf hinaus, Bildungsmöglichkeiten einzuschränken, die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung im Gegenzug zur Profitmaximierung transnationaler Konzerne zu verschlechtern oder wenigstens stagnieren zu lassen, ökologische Überlebensbedingungen umfassend und nachhaltig zu zerstören, etc. - während sie in der Regel ruhig das Gegenteil behaupteten. "Globalisierung für alle" mag das Schlüsselwort der Herrschenden sein - "Entdemokratisierung" ist ihre Schlüsselstrategie. "Links blinken und rechts überholen" war in jüngerer Zeit häufiger als eine Strategie des globalen polit-ökonomischen Establishments und ihrer regionalen Mittelsmänner zu beobachten.

Ob z.B. die 800.000 der "Love Parade" in Zukunft weiterhin sich unterhalten und ablenken lassen, ohne recht zu wissen (wollen) wozu und wovon, oder demnächst gesellschaftliche Problemlagen fundiert kritisieren und realistische Lösungen anstreben, oder minderheitenfeindliche Parolen schwingen und Praxen üben, liegt nicht zuletzt am Erfolg einer solchen entdemokratisierenden Politik. Sofern nicht die Bewegung, die immer dezidierter beginnt, die Auswirkungen konzernherrschaftlicher Globalisierung anzuprangern, mit Genua und folgenden Veranstaltungen immer mehr Gehör gewinnt. Immerhin sind die Herrschenden zusehends gezwungen, die Anliegen der Globalisierungskritiker wenigstens als Lippenbekenntnisse zu vertreten. Es mag sein, daß sie eines Tages gezwungen sind, diese Anliegen auch tatsächlich zu realisieren - und damit ihren Herrschaftsanspruch aufzugeben. Sicherlich jedoch nicht ohne ihre Machtmittel bis aufs letzte auszureizen.

Vielleicht war Genua tatsächlich ein Indikator dafür, daß der 'Bumerang' allmählich seine Flugrichtung zu ändern beginnt. Vielleicht stand Genua für einen Schritt von der konzernherrschaftlichen Globalisierung weg, hin zur Vergesellschaftung der Globalisierung.


Anmerkungen

[1] Hierunter sind z.B. auch die deutschen Ausreiseverbote für einige Oppositionelle zu verbuchen, die mit einer gewissen Willkür und unter fragwürdigen Begründungen verliefen. Der Kanzler der amtierenden bundesdeutschen Regierung hatte im übrigen schon mehrmals klargemacht, auch "nötigenfalls unpopuläre Politik" durchzusetzen. Über die tieferen Implikationen einer solchen Äußerung und die Bedingungen ihrer Möglichkeit in einer "parlamentarischen Demokratie in einem Rechtsstaat" lohnt sich eine Weile nachzudenken.

[2] Vgl. hierzu die Berichterstattung auf den Indymedia-Internetseiten.

[3] Vgl. z.B.: Amnesty International, Concerns in Europe. July - December 1999, London 2000. Diese Akte, europäische Staaten lediglich für den Zeitraum von sechs Monaten betreffend, umfaßt 100 dichtbedruckte Seiten und befaßt sich ausschließlich mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen, die von staatlicher Seite ausgehen und meist von der Polizei ausgeführt wurden.

[4] Von letzterem konnte sich der Autor in einigen Fällen selbst überzeugen, indem er in Genua für das studentische Fernsehmagazin des Offenen Kanals Hannover, s'kratzt, Interviews mit beinahe 30 Protestierenden durchführte, die aus Deutschland, England, Frankreich, Holland, Italien, Kenia und den Philippinen kamen. Ungefähr die Hälfte dieser Interviews sind in der s'kratzt-Sendung für den 01. August 2001 verwendet worden. Trotz des gemeinsamen relativ hohen Grades an Präzision der Identifikation globaler sozialer Problemlagen fallen die strategischen Vorschläge zu ihrer Behebung jedoch bemerkenswert unterschiedlich aus.

[5] Zahlen und Fakten gefällig? http://www.inequality.org/factsfr.html. Die Daten beziehen sich primär auf die USA, lassen sich in etwa aber auch auf andere Staaten übertragen. Entsprechende Hinweise geben die Autoren der Seite selbst.

[6] Dokument ist verfügbar auf der offiziellen Homepage des G8-Gipfels von Genua: http://www.g8italia.it/_en/docs/KJIHGZ31.htm. (Hervorhebungen im Original, "dot.force"= Digital Opportunities Task Force.)

[7] "Qualifiziert" haben sich letztendlich 23 Länder, nach dem Communiqué der G8. Dort auch näheres zu den Bedingungen des Schuldenerlasses.

[8] Die während des Gipfels erfolgten entsetzten Äußerungen des englischen Premierministers Tony Blair über die Genueser Proteste schlugen ungefähr diesen Ton an.

[9] Ebenfalls auf der offiziellen Homepage des Genua-Gipfels: http://www.g8italia.it/_en/docs/XGKPT170.htm.

[10] "Die charakteristischen Merkmale der narzißtischen Individuen - der Glaube an ihre Allmacht, Unsterblichkeit, Unverwundbarkeit und Unendlichkeit [und Unfehlbarkeit, Anm. M.F.], welche mit der Realität konfrontiert, sonst zu Leidensquellen werden, verwandeln sich im sozialen Ort der Herrschaft in von den Machtverhältnissen gestützte, Glück verheißende Antriebe zum Handeln. Die 'narzißtische Illusion' findet in jener sozialen Wirklichkeit ihre Bestätigung und verunmöglicht die Einsicht in Bereiche, die dem Narzißmus abträglich sind." (Mario Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit, FfM 1997, S. 392 f.). Der Herrschaftstypus, den der Ethnopsychoanalytiker Erdheim hier vor Augen hat, ist der entwickelte Absolutismus - "L'étât est moi!" Innerhalb gewisser Variationen trifft seine Beobachtung auch auf andere, demokratischere Herrschaftsformen zu. Generell läßt sich vielleicht sagen, daß, je größer die Machtdifferentiale zwischen Herrschenden und Beherrschten, bzw. zwischen Regierenden und Regierten sind, und je länger einzelne Individuen mit entsprechenden Machtchancen (und Statuschancen) ausgestattete soziale Positionen besetzen, Erdheims Beobachtung umso zutreffender ist.

[11] http://www.g8italia.it/_en/docs/XGKPT170.htm (Hervorhebungen M.F.)

[12] Theoretische Randbemerkung: Es gibt verschiedene prominente Versionen der Erklärung und der Kritik des Aufstiegs der okzidentalen Gesellschaften und der nahezu hegemonialen Durchsetzung ihrer kulturellen respektive zivilisatorischen Muster weltweit. Doch die meisten unter ihnen leiden unter einer eigenartigen Verkürzung des Bezugsrahmens. So versuchte z.B. der in späteren Jahren recht brauchbare theoretische Modelle produzierende Soziologe Norbert Elias, den abendländischen Zivilisationsprozeß mit besonderem Blick auf die zivilisatorischen Instanzen der absolutistischen Höfe zu erklären, die neben anderem charakteristisch waren für zuvor unerreicht "weitreichende und dichte Interdependenzen in Europa und außerordentlich stabilen Monopolen der physischen Gewalt". Er zog dabei jedoch kaum in Betracht, inwiefern durch die Entwicklung des Fernhandels von Spezereienhandel zu Fernhandel mit Gütern des Massenkonsums nicht nur die innere Entwicklung Europas voranschreiten konnte, sondern zugleich die damit einhergehende Kolonisation und Unterwerfung außereuropäischer Länder elementaren Anteil an der Gestalt der europäischen Zivilisation hatte und Entwicklungsdifferentiale wenn nicht schon konstituierte, so doch wesentlich verschärfte. Auf anderer Ebene gilt ähnliches für die 'Kritische Theorie' der Frankfurter Schule, die Egalität, Zivilisiertheit und Rationalität (~ Vernünftigkeit) gesellschaftlicher Verhältnisse - quasi als utopisches Telos - immer wieder an der Elle des bürgerlichen Individuums des 19. und frühen 20.Jh und seiner nächsten Lebensverhältnisse maß (~ Buddenbrook-Typus) - für dessen Gestalt jedoch 'friedliche' Unterdrückung und Ausbeutung anderer Schichten konstitutiv waren. Was auf ökonomischer Ebene hinsichtlich der beeindruckenden Entwicklung von Produktivkräften noch möglich erscheint, mag sich auf psychischer Ebene wieder ganz anders darstellen.

[13] Karl Marx, Das Kapital Bd. III, (MEW 25) Berlin, 1976, S. 345.

[14] Die Verteilungsrichtung des Akkumulationsprozesses hat sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts dabei nicht wesentlich geändert - allein in den Jahren zwischen 1994 und 1998 wuchs das Nettovermögen der 200 reichsten Menschen dieses Planeten von 440 Milliarden US-$ auf 1.042 Milliarden US-$. (United Nations, Human Development Report 1999, New York 1999, S. 37).

[15] Noam Chomsky, Profit over People, Dehli u.a., 1999, S. 31. Bis auf weiteres, also der Entwicklung eines profitablen Marktes in diesem Bereich, kann man damit auch die Frage nach den Chancen der Durchsetzung erneuerbarer Energien erst einmal abhaken. Bevor die globalen Rohölvorkommen nicht physikalisch drastisch ausgeschöpft sind, ist mit einem solchen Aufstieg erneuerbarer Energien vielleicht nicht einmal zu rechnen.

[16] There is a "demand for a 'political and economic climate conducive to private investment', with adequate repatriation of profits and 'protection of our raw materials' - ours, even if located somewhere else." N. Chomsky, Profit over People, a.a.O., S. 21.

[17] A.a.O., S. 72 f.: "The sanctions 'would effectively exclude these firms from exporting to, or doing business in, the United States, even if their products and activities have nothing to do with Cuba' [...] That is no slight penalty, even apart from more direct threats against individuals and companies who cross a line that Washington will draw unilaterally."

[18] Nur ein weiteres, vielleicht subtileres Beispiel für die Diskrepanz symbolischer und faktischer Demokratisierung: In den 60er Jahren machte J.F. Kennedy mit seinem legendären Ausspruch "Ich bin ein Berliner" alle Deutschen gleichsam zu US-Amerikanern. An den amerikanischen Präsidentschaftswahlen wurden die Deutschen seitdem jedoch noch nicht beteiligt, dafür umsomehr in die US-zentrierte globale Ökonomie und mindestens bis zum "Ende des Kalten Krieges" in das US-amerikanische Verteidigungssystem eingebaut. Ob die Bevölkerung wollte oder nicht.

[19] Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht ganz unwichtig, auf die Unterschiede in den Reproduktionsmodi der Herrschaftsverhältnisse aufmerksam zu machen, die schon in dem Hinweis zu den Beobachtungen des Ethnopsychoanalytikers Mario Erdheim anklang: War die Abfolge feudaler und absolutistischer Herrscher jeweils noch hochgradig durch gebürtige Abstammung bestimmt, kommen die Herrschenden von heute - die oftmals nur Herrschende auf Zeit sind - in vielen Fällen aus niedrigeren sozialen Schichten, niedriger zumindest als die Schichten, die man mit "den Herrschenden" tituliert. Doch gehen zwar auf der einen Seite mit Demokratisierungsprozessen im Sinne der Verringerung von Machtdifferentialen zwischen verschiedenen sozialen Schichten mit einem höheren Grad sozialer Mobilität einher, so bedeutet das auf der anderen Seite längst nicht, daß nicht bestimmte soziale Positionen bestimmte Entwicklungen von Persönlichkeitsmustern (= zivilisatorische Muster) begünstigen. Die Affinität zwischen der "Strategie des Aussitzens" eines Helmut Kohl und einer "Politik der ruhigen Hand" eines Gerhard Schröder dürfte evident sein.

[20] So lernen z.B. die meisten Heranwachsenden in den entwickelteren Industrienationen schon sehr früh, daß es sich nicht schickt, andere Menschen zu demütigen, zu erniedrigen oder sonstwie zu schädigen. Einige sind mehr oder weniger verstört, wenn sie mitbekommen, daß diese Ideale wenig gelten gegenüber dem Konkurrenzprinzip (neusprech: "Wettbewerb"), das für ihre Gesellschaft konstitutiv ist.

[21] Ein jüngeres amerikanisches Beispiel dafür, wie konzernherrschaftliche Globalisierung die Effektivität gewerkschaftlicher Organisation und Sicherung von Lohnarbeitsverhältnissen auf nationalstaatlicher Ebene erfolgreich aushebelt, wenn sich internationale "neoliberale" Regelungen durchsetzen: "About half of union organizing efforts are disrupted by employer threats to transfer production abroad; for example by placing signs reading 'Mexico Transfer Job' in front of a plant where there is an organizing drive. The threats are not idle; when such organizing drives nevertheless succeed, employers close the plant in whole or in part at triple the pre-NAFTA rate." (N. Chomsky, Profit over People, a.a.O., S. 104.) - Die Möglichkeit und der Verlauf der Entwicklung und des Scheiterns des "5000 x 5000 Modells" bei VW in Niedersachsen - VW drohte letztlich erfolgreich an, bei nicht genehmen Verlauf der Verhandlungen die entsprechenden Produktionsstätten ins Ausland zu verlagern - ist ein weiteres Beispiel. Die Schaffung einer europäischen Freihandelszone, das europäische Äquivalent zum North America Free Trade Agreement, begünstigt solche Entwicklungen ungemein.


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