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Über das Recht auf Faulheit

von Marcus Hawel

"Arbeitet, arbeitet, Proletarier, vermehrt den Nationalreichtum und damit euer persönliches Elend. Arbeitet, arbeitet, um, immer ärmer geworden, noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten und elend zu sein. Das ist das unerbittliche Gesetz der kapitalistischen Produktion."
Paul Lafargue

"Es gibt kein Recht auf Faulheit."
Gerhard Schröder


Das satirische Pamphlet "Das Recht auf Faulheit" (frz.: "le droit à la paresse") gilt als das Hauptwerk von Paul Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx. Lafargue war ein Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung und der Kritik der politischen Ökonomie; er sympathisierte jedoch auch mit Bakunins anarchistischen Schriften, weshalb Marx ihn für einen Querkopf hielt. Lafargue war ein Satiriker und Pamphletist - "Das Recht auf Faulheit", zum ersten Mal 1880 veröffentlicht, erfreute sich neben dem Kommunistischen Manifest von Marx und Engels in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg größter Popularität.

Écrasez l’infâme - vom Kirchenjoch befreit, wurde das Volk unter das Joch der Arbeit gezwungen.

Der Gedanke an ein Recht auf Faulheit ist zu keiner Zeit von den Menschen als legitim aufgefaßt worden. Das Wort Faulheit provozierte offensichtlich stets die sensiblen Gemüter der "Leistungsträger" einer jeden Gesellschaft und ganz besonders die der Gegenwart. Unter dem Eindruck von Massenarbeitslosigkeit ist das am wenigsten verständlich, ließe sich doch durch eine vernünftige Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und durch radikale Arbeitszeitverkürzung das Leben aller in Würde und Freiheit gestalten. Statt dessen gilt Arbeitslosigkeit als eine individuelle Schande, die mehr auf persönliches Versagen denn auf allgemeine Transformationsprozesse der Gesellschaft zurückzuführen sei. Häufig schämen sich Menschen, die ihre Arbeit verloren haben vor ihren Mitmenschen: Nicht selten täuschen sie Betriebsamkeit vor, etwa indem sie morgens mit der Aktentasche das Haus verlassen und abends wiederkehren, ohne tatsächlich einer bezahlten Arbeit nachgegangen zu sein. Arbeiter gehen an der Stechuhr stempeln und begeben sich an ihren Arbeitsplatz zurück, um unbezahlte Überstunden zu machen. - Lieber weniger Lohn als arbeitslos zu sein.

Vor diesem Hintergrund zeigt die Forderung nach einem Recht auf Arbeit ihr perverses Antlitz. Schon Lafargue verspottete die Fourieristen und deren Forderungen von 1848 nach Recht auf Arbeit sowie Organisation der Arbeit.[1] Hinter der Forderung nach den Menschenrechten stehe kein revolutionäres Prinzip, sondern die Devotion des Wunsches, auf kapitalistische Weise ausgebeutet zu werden: das Recht auf Elend.

Lesenswert ist Lafargues "Recht auf Faulheit" auch heute geblieben und angesichts der jüngsten Debatte über die vermeintliche Faulheit der Arbeitslosen, die durch jene unsägliche Äußerung des Sozialdemokraten und Bundeskanzlers Gerhard Schröder, es gebe kein Recht auf Faulheit, ausgelöst wurde, auch wichtig, in Erinnerung gerufen zu werden.

"O Faulheit, erbarme Du Dich des unendlichen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit."(Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit.)

Arbeit, das verhieß durch alle vormodernen Zeiten und in sämtlichen Kulturen nichts Gutes. Wie eine Pest wurde sie gemieden, als Strafe und ewige Verdammnis angesehen. Arbeit, griechisch: ponos, das ist Pein, Mühsal und Plage. Arbeit, lateinisch: labor, das ist Mühe und das "Wanken unter einer schweren Last", woraus auch das laborieren entlehnt wurde: sich mit seinen Leiden herumplagen. Die negativen Konnotationen der Arbeit blieben bis zu Luthers Zeiten maßgeblich; erst der Protestantismus machte aus der Arbeit eine religiöse, der Kapitalismus dann schließlich eine säkulare Tugend.

Das Mittelalter und die frühe Neuzeit hatten sich noch durch eine hohe Anzahl von religiösen Feiertagen ausgezeichnet, an denen das Arbeiten von der Kirche strengstens untersagt war. Mit Eintritt in die Moderne sollte sich das radikal ändern. Dem Bürgertum mußte die große Anzahl von Feiertagen wie eine Lästerung an ihrem Gottkönig Kapital erscheinen. Einmal an die politische Macht gekommen, schaffte das Bürgertum die (religiösen) Feiertage weitgehend ab.

"Der Protestantismus, diese den neuen Handels- und Industriebedürfnissen der Bourgeoisie angepaßte christliche Religion, kümmert sich wenig um die Erholung des Volkes; er entthronte die Heiligen im Himmel, um ihre Feste auf Erden abschaffen zu können." (Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit.)

Écrasez l’infâme - vom Kirchenjoch befreit, wurde das Volk unter das Joch der Arbeit gezwungen. Im vorrevolutionären Frankreich hatten noch 90 Ruhetage (52 Sonntage und 38 Feiertage) existiert. - In Bayern waren es zur gleichen Zeit sogar 124 Feiertage, die mit Eintritt in die kapitalistische Moderne radikal auf ganze 17 reduziert wurden.

Die Philosophie des Bürgertums hatte das dialektische Prinzip der gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit auf den Begriff gebracht: Der Knecht arbeitet sich frei und wird der neue Herr über die Arbeit. Die subalternen Klassen, verhielten sich zur modernen Arbeit anfangs allerdings wenig anerkennend, geschweige denn devot. Die Kapitalisten mußten sie mit Peitsche und Fesseln motivieren. Davon wußte Karl Marx ausführlich in seiner Kritik der politischen Ökonomie zu berichten: von workhouses, Sklavenarbeit und gewaltsamer Disziplinierung. Der moderne Kapitalismus im 19. Jahrhundert beutete die Arbeiter bis an die Grenze ihrer physischen Belastbarkeit aus. Lafargue schreibt vor diesem Hintergrund: "Unser Jahrhundert wird das Jahrhundert der Arbeit genannt; tatsächlich ist es das Jahrhundert der Schmerzen, des Elends und der Verderbnis."

Der moderne Kapitalismus im 19. Jahrhundert beutete die Arbeiter bis an die Grenze ihrer physischen Belastbarkeit aus.

Erst allmählich wurde, vor allem durch den Widerstand der Arbeiterklasse erzwungen, den Proletariern notwendige Ruhephasen zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft zugestanden. Muße freilich sollte dem Proletariat zunächst weiterhin ein Fremdwort bleiben. Aber das organisierte Proletariat erkämpfte sich die Reduzierung der Arbeitszeit, etwa die Zehn-Stunden-Bill im Jahre 1847.

Lafargue hatte dagegen eine viel weitergehende Forderung: ein Gesetz, das die tägliche Arbeitszeit von mehr als drei Stunden für alle Menschen verbietet. Das mochte damals vielleicht etwas naiv erscheinen. Dennoch war Lafargue kein Utopist. Er war ein Satiriker, dem es vorrangig unter dem Eindruck der allzu großen Arbeitspein um die vernünftige und radikale Verkürzung der Arbeitszeit ging. Was aber damals vielleicht eine satirische Übertreibung gewesen war, könnte heute durchaus zu einer realistischen Forderung werden. Eine radikale Reduzierung der Arbeitszeit könnte für jeden das sogenannte Reich der Freiheit neben dem dadurch marginalisierten Reich der Notwendigkeit entstehen lassen. Eine radikale Vergesellschaftung des gesellschaftlichen Reichtums, der mit Hilfe des gegenwärtigen Niveaus der Produktivkräfte geschaffen wird, würde das ermöglichen.

Die Gewalt des Staatsapparates steht aber dagegen. Es ist weniger einer Arbeitssucht der Menschen zuzuschreiben, weshalb sich die menschenverachtenden Verhältnisse im Kapitalismus perpetuieren. - Lafargue war dieser Ansicht, weswegen er gegen die Arbeitssucht polemisierte.

"Aber damit ihm seine Kraft bewußt wird, muß das Proletariat die Vorurteile der christlichen, ökonomischen und liberalistischen Moral überwinden; es muß zu seinen natürlichen Instinkten zurückkehren, muß die Faulheitsrechte ausrufen, die tausendfach edler und heiliger sind als die schwindsüchtigen Menschenrechte, die von den metaphysischen Advokaten der bürgerlichen Revolution wiedergekäut werden; es muß sich zwingen, nicht mehr als drei Stunden täglich zu arbeiten, um den Rest des Tages und der Nacht müßig zu gehen und flott zu leben." (Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit.)

Lafargue war ein Satiriker, dem es vorrangig unter dem Eindruck der allzu großen Arbeitspein um die vernünftige und radikale Verkürzung der Arbeitszeit ging.

Marx hatte präziser von einem Heißhunger nach Mehrarbeit gesprochen, welcher sich aus einem objektiven Zwangsverhältnis ableitet. Die Konkurrenzsituation zwingt dem Kapitalisten den Heißhunger auf, was nur als eine Sucht erscheint. Die Verinnerlichung des Arbeitszwangs, die protestantische Ethik des Arbeiters ist dagegen etwas, das nur zusätzlich das System mit am Laufen hält. Auch ohne eine Arbeitssucht könnte der Kapitalismus funktionieren; freilich würde die nach innen verlegte Peitsche wieder äußerlich, die versteckte Gewalt für den Arbeiter wieder sichtbar und vor allem spürbar werden. Und tatsächlich zeichnen sich überall, wo der Prozeß der modernen Disziplinierung als Verinnerlichung der Normen abstrakter Arbeit noch nicht wesentlich hat Fuß fassen können oder an Terrain wieder verliert, die gesellschaftlichen Verhältnisse durch nackte Gewalt und barbarische Autorität aus.

Wo offene Gewalt angewandt werden muß, schwindet jedoch unaufhörlich auch die Anerkennung der Herrschaft bei den Beherrschten, weshalb auf längere Sicht die Verinnerlichung der Herrschaft in Form von Moral und Normen für den Fortbestand der Herrschaft effizienter ist, wie es sich an den fortgeschrittenen westlichen Industrienationen zeigt. Vor diesem Hintergrund erlangt die Polemisierung gegen Moral und Gehorsam im Stile Lafargues eine wichtige Bedeutung für die Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

"Aber das Proletariat zu überzeugen, daß die Parole, die man ihm eingeimpft hat, pervers ist, daß die zügellose Arbeit, der es sich seit Beginn des Jahrhunderts ergeben hat, die schrecklichste Geißel ist, welche je die Menschheit getroffen, daß die Arbeit erst dann eine Würze der Vergnügungen der Faulheit, eine dem menschlichen Organismus nützliche Übung, eine dem gesellschaftlichen Organismus nützliche Leidenschaft sein wird, wenn sie weise reglementiert und auf ein Maximum von drei Stunden täglich beschränkt wird - das ist eine schwierige Aufgabe, die meine Kräfte übersteigt." (Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit.)

Descansar es salud - sich ausruhen ist gesund.


Anmerkung

[1] Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit. Widerlegung des "Rechts auf Arbeit" von 1848.

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