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Kapitalismuskritik auf Sparflamme

Heiner Müller fehlte bei der Lesung von Sarah Wagenknecht

von Gregor Kritidis


"Die Mythen der Modernisierer" - unter diesem Titel trat Sarah Wagenknecht auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse auf einer Veranstaltung des Dingsda-Verlages an. Wer ein intellektuelles Feuerwerk gegen die Halbwahrheiten und geistigen Tiefflüge des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams, auf den sich das politische Personal bei jeder Gelegenheit bezieht, erwartet hatte, wurde enttäuscht. Mit dem angekündigten Thema hielt sich Sarah Wagenknecht nicht lange auf. Statt dessen gab es einige Allgemeinplätze gegen die Steuer- und Rentenreform, das Bündnis für Arbeit und die Durchsetzung des "amerikanischen Modells des Kapitalismus" in Deutschland.

"Sind die Menschen für die Wirtschaft da, oder ist die Wirtschaft für die Menschen da?", fragte Wagenknecht in der Manier eines Gewerkschaftsfunktionärs. Eine derart oberflächlich vorgetragene Kapitalismuskritik hätte zu jeder PDS-Wahlkampfveranstaltung gepaßt, nicht jedoch zu einer Lesung auf einer Buchmesse. Entsprechend vage und blutleer fielen auch ihre Vorstellungen über eine sozialistische Gesellschaft aus. Als Alternative zur neoliberalen Hegemonie und zum Kapitalismus propagierte die Referentin "gesellschaftliche Rahmenplanung", die sie pflichtbewußt gegen die "fürchterlich zentralisierte Planungsbürokratie" in der verflossenen DDR abgrenzte. Es müsse mehr Einfluß der Menschen "auf die Entscheidungen und die Verteilung" geben, damit realisiert werden könne, was "technologisch machbar" sei. "In diese Richtung", so Sarah Wagenknecht, "muß weiter diskutiert werden".

Eine derartig verdinglichter Antikapitalismus hätte auf einer Veranstaltung christlicher Sozialethiker in den 70er Jahren genauso gut Platz gefunden. Wo blieb der beißende Spott auf die Priester der neoklassischen Wirtschaftsdoktrin, wo die energische Anklage der gegenwärtigen, für viele Menschen erniedrigenden Verhältnisse? Trat hier eine Sozialistin auf, die mit flammender Begeisterung einer durch und durch verkommenen und absurden Gesellschaftsordnung theoretisch zu Leibe rückt? Jeder hat mal einen schwachen Tag, aber auf dieser Lesung hätte nicht einmal die Anwesenheit von Lothar Späth, der ebenfalls auf der Messe sprach, dem kritischen Geist von Sarah Wagenknecht auf die Sprünge geholfen. Jeder, der sie mal in einer Talkshow mit mindestens 50jährigen Wirtschaftsvertretern erlebt hat, weiß ihre Qualität zu schätzen, durch geschickte Fragen und passende Bemerkungen Leute in Schwierigkeiten zu bringen, die glauben, über die "Marktwirtschaft" Bescheid zu wissen. So wurde jedoch ihre eigene Schwäche, die Verhältnisse auf den Begriff zu bringen, offenbar. Es drängte sich der Eindruck auf, daß hier auch ein inhaltliches Problem vorliegt. Exemplarisch wurde das an der Aussage deutlich, die "gesellschaftlichen Verhältnisse sind Schuld" daran, daß sich die Arbeitslosen minderwertig und ohnmächtig fühlen. Sind nicht die Arbeitslosen selbst Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit mitverantwortlich für ihre Situation, auch wenn sie weniger Einfluß auf ihr Leben haben als die sozialen Eliten? Daß wir gegenwärtig die Durchsetzung neuer Herrschaftsverhältnisse erleben, die jede noch so kleine Feinheit unserer Existenz betreffen, wurde auf dieser Veranstaltung nicht erwähnt.

Heiner Müller mit seiner manchmal ätzenden Negativität hätte dieser prosaischen Lesung sicher den nötigen Schwung verliehen. Auch Müller hat sich nie von der Idee des Sozialismus verabschiedet, und sich, wie auf einer Lesung von seinem Biographen Jan Christoph Hauschild im Theater "fact" am Abend zuvor zu hören war, auch zu den positiven Errungenschaften der DDR bekannt, ohne damit seine Utopiefähigkeit zu beschädigen. "Utopie", zitiert Hauschild Müller im Vorwort zu seiner Biographie, "ist ja zunächst nichts weiter als die Weigerung, die gegebenen Bedingungen, die Realitäten als die einzig möglichen anzuerkennen, ist also der Drang nach dem Unmöglichen. Und wenn man das Unmögliche nicht verlangt oder will, wird der Bereich des Möglichen immer kleiner".[1] Eine Linke, die kulturell und politisch in die Offensive kommen will, wird mehr Müller und weniger Wagenknecht benötigen.


Anmerkung

[1] Jan Christoph Hauschild, Heiner Müller oder das Prinzip Zweifel, Eine Biographie, Berlin 2001, S. 7.

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