Zur normalen Fassung

Die Ermordung eines Caudillo

Wie der charismatische Volkstribun Jorge Elicier Gaitan in den 40er Jahren die kolumbianischen Massen hinter sich brachte und zum Feind der Liberalen und Konservativen wurde

von Utz Anhalt

"Ich weiß nicht, wo ich geboren bin, und weiß auch nicht wer ich bin. Ich weiß nicht, woher komme ich. Ich weiß nicht, wo will ich hin. Von einem Baum, der wer weiß wo gestürzt ist, bin ich ein Zweig. Wo sind wohl meine Wurzeln, von welchem Baum bin ich ein Reis?"

Volkslied aus Boyoaca, Kolumbien


Jorge Elicier Gaitan war der Führer einer Oppositionsbewegung innerhalb der Liberalen Partei. Gaitan griff als Anhänger sozialistischer Ideen sowohl die Anhänger der alten konservativen Hierarchien an, als auch die Anhänger der liberalen Oligarchie. Sowohl die Führungskräfte der Liberalen als auch die der Konservativen gehörten in der Mehrheit einigen Familien an. Während tendenziell die Herrschaftsoligarchie der Liberalen Partei hauptsächlich aus Vertretern der städtischen Bourgeoisie bestand, die für eine Öffnung Kolumbiens zum Weltmarkt eintrat, setzte sich die konservative Elite aus den alten Großgrundbesitzern zusammen, die sich gegen jede Neuformierung der Wirtschaft zur Wehr setzten. Dieses schematische Bild vermischte sich in der Realität sehr stark. In erster Linie ging es um in Familien aufgeteilten Machterhalt. Die Interessen der Führungskräfte der großen Parteien waren mit denen der großen Familien identisch. Jorge Elicier Gaitan, von der liberalen Herrschaftsoligarchie Wolf oder Maulaffe genannt, hatte im Volk großes Ansehen erlangt und stellte eine Bedrohung der herrschenden Ordnung dar. Er begriff sich selbst nicht als Kommunist oder Revolutionär, sondern als Sozialreformer, der sich zum Volkstribun gegen die herrschende Klasse und die konservative Regierung ernannte, das parlamentarische System allerdings grundsätzlich nicht in Frage stellte.

Gaitan kann als Caudillo bezeichnet werden, als Vertreter jenes typischen lateinamerikanischen Führertypus, der sich als Quintessenz einer Massenbewegung ansieht, in dem sich gleichermaßen die Interessen der unterdrückten Massen wie auch deren Befreiung bündelt. In diesem Sinn ist Gaitans Satz: "Ich bin nicht ein Mann, ich bin ein Volk" zu verstehen. Von seinen Gegnern brachte ihm dieses Führerprinzip den Faschismusvorwurf ein. Dies war insofern berechtigt, als es in Europa vornehmlich die Faschisten waren, die die Bewegung des Volkes in Gegensatz zum Parteiensystem stellten und die Bündelung der von ihnen beanspruchten Interessen der völkisch definierten Masse in einer Führerfigur glorifizierten. Auch war Gaitan glühender Verehrer von Mussolini. Im Unterschied zu den lateinamerikanischen kommunistischen Parteien ging es Gaitan nicht um langfristige politische Pläne, um Klassenkampf oder revolutionäre Orientierung, sondern um eine Programmatik, die sich vor allem in Parolen und Schlagworten erschöpfte: die Bauern gegen die Ausbeuter, die Armen gegen die Reichen usw.. Diese Form von vermeintlich pragmatischer, in der Realität jedoch hauptsächlich populistischer Agitation erreichte in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts in Kolumbien eine Massenbasis. Wenn Gaitan von "herrschender Klasse" sprach, basierte dies nicht auf einem realen Klassenansatz, sondern bezeichnete wahlweise die konservativen Familien, Großgrundbesitzer etc..

1947 wurde deutlich, daß Gaitan der nächste Präsidentschaftskandidat der Liberalen werden würde. Am 9. April 1948 wurde er jedoch, damals Bürgermeister von Bogota, auf offener Straße erschossen. Daraufhin brach der "bogotazo", der Massenaufstand aus. In Kolumbien selbst ist der Begriff "nueve de abril" gebräuchlicher. Dieser Begriff ist zutreffender, da die Unruhen nicht auf Bogota begrenzt blieben, sondern sich auf das gesamte Land ausdehnten. In großen wie in kleinen Städten mit liberaler Mehrheit wurden Anhänger der Konservativen getötet und Geschäfte geplündert. In Puerto Tejida (Provinz Kali) wurden etwa führende Konservative geköpft und die Köpfe als Fußbälle benutzt. Am meisten von den Zerstörungen war Bogota betroffen. An den Unruhen waren hauptsächlich Arme beteiligt, die keine Anhänger von Gaitan waren.

Aufruhr
Der Aufruhr erlangte Bürgerkriegscharakter, der Justizpalast und die Zentralen konservativer Zeitungen wurden komplett zerstört

Die Kommunisten, einzige organisierte Opposition gegen die Oligarchien, hatten in den frühen 40er Jahren mit den Liberalen zusammengearbeitet, um eine konservativ-faschistische Machtübernahme zu verhindern. Aus diesem Grund griff die Oppositionsbewegung innerhalb der Liberalen die Regierung weit schärfer an, als es die Kommunisten taten. Nachdem die Konservativen aufgrund der Spaltung der Liberalen 1946 gesiegt hatten, stellte die Volksbewegung unter Gaitan nach wie vor für die Regierung eine außerparlamentarische Bedrohung dar. Nach dem Mord an Gaitan brach der Volkssturm aus. Die Regierung wurde für den Mord verantwortlich gemacht, der Aufruhr richtete sich direkt gegen sie. Die Polizei von Bogota verteilte Waffen an die Aufständigen. Der Sturm auf den Präsidentenpalast konnte nur durch den Einsatz der Armee und das Erschießen von Hunderten von Demonstranten vereitelt werden. Der Aufruhr erlangte Bürgerkriegscharakter, der Justizpalast und die Zentralen konservativer Zeitungen wurden komplett zerstört.

Die Unruhen in Bogota dauerten mehrere Tage und wurden unter äußerstem Einsatz militärischer Mittel zurückgeschlagen. In den folgenden Wochen zeigte sich, daß es dem Gaitanismo nicht gelungen war, eine übergreifende politische Mobilisierung zu erreichen. Der Widerstand nahm nun dezentrale und lokale Formen an.

Im bogotazo zeigte sich, daß die Armee hinter der konservativen Regierung stand und die Führer der Liberalen vor einem Staatsstreich zurückschreckten. Während aus Sicht der Volksmassen die Konservativen hinter der Ermordung Gaitans standen, sah die konservative Propaganda den bogotazoals Beweis für eine internationale kommunistische Verschwörung an. Trotz erneuter Koalition von Liberalen und Konservativen (oder vielleicht gerade deswegen) brach ein Jahr später die Gewalt von neuem aus.

Der nuevo de abril - Die Ermordung Gaitans

Zu Beginn der 40er Jahre stellte Kolumbien eine oligarchisierte Gesellschaft dar, die wirtschaftliche Lage wies sogar auf eine Prosperität hin, was sich an steigenden Kaffeepreisen, der agrarischen Expansion und einer steigenden Industrialisierung zeigte.

Marsch der Stille
Marsch der Stille für die Opfer der konservativen Todesschwadronen

Dieser vermeintlich steigende Wohlstand ging jedoch an weiten Teilen der Bevölkerung vorbei, da nahezu 75% der Bevölkerung aus peasants (Pächtern) bestand, während 3% der Großgrundbesitzer die Hälfte des Landes gehörte. Der liberale Präsident Alberto Lieras Camargo hatte 1945 die Arbeiterstreiks für illegal erklärt: Die Pächter wurden durch das Gesetz 100 niedergehalten, daß die "Rechte" der Großgrundbesitzer "squatters" von ihren Ländereien fernzuhalten, festschrieb. Dies setzte bereits einen enormen Konfliktstoff frei, der in der Ermordung von Gaitan explodierte. Dieser hatte zwei deutlich reformistische Forderungen, nämlich die Partizipation der unteren Schichten an der politischen Macht sowie sozialen Ausgleich in das Zentrum seiner Propaganda gestellt. Die soziale Mobilisierung, die sich in der entstehenden breiten Volksbewegung entwickelte, veränderte ihre reformistische Basis und verlieh ihr eine enorme Dynamik. In den beginnenden 30er Jahren schaffte es Gaitan, sich als Inhaber demokratischer Werte und als Kämpfer gegen die Oligarchie hinzustellen, woraufhin sich sowohl die konservative als auch die liberale Oligarchie gegen ihn wandten. Die liberalen Führungskräfte bezeichneten Gaitan als den "faschistischen Verrat an der kolumbianischen Seele", eine Argumentation, der sich auch die kommunistische Partei anschloß. Dies fügte dem wachsenden Anstieg der Bewegung allerdings keinen Schaden zu. Die Konservativen stellten hingegen Gaitans Agitation zur "moralischen Restaurierung" als ihr ureigenstes Anliegen dar, was zum einen eine Spaltung der Liberalen provozierte, zum anderen dem "gaitanismo" einen ungeheuren Aufschwung zeitigte. Nun begeisterten sich auch die konservativen Massen für Gaitan, was die konservative Partei dazu zwang, eine andere Strategie einzuschlagen: Sie stellten Gaitan als Kommunisten dar, als Bedrohung der "dunklen Kräfte, die den freien Wettbewerb zerstören würden". Jeder in Kolumbien erinnerte sich an den Gaitan, der 1928 eine flammende Rede gegen den Despotismus des ausländischen Kapitals gehalten hatte, nachdem ein Massaker unter Arbeitern in der Bananenzone gehalten worden war. Die Landarbeiter, besonders die in Cundnamarca und Tolima, hatten ihn in ihrem Kampf in den frühen 30er Jahren auf ihrer Seite gesehen. Während dieser Zeit hatte Gaitans Partei, die Union Nacional Izquierdista Revolucionaria (UNIR), die Vergehen gegen Landarbeiter und Tagelöhner angeklagt. In den 40er Jahren hatten sich die Städte durch Industriealisierung und Migration zu Zentren der Macht und des Kapitals entwickelt.

Dort richtete Gaitan seine Propaganda auf die Mittelschichten (Ladenbesitzer, Industriearbeiter und Angestellte im Dienstleistungsgewerbe), welche eine enorme Rolle im bogotazo spielen sollten. In den frühen 40er Jahren hatte Gaitan eine in Kolumbien neue historische Situation geschaffen, indem er die Massen durch traditionelle Parteilinien hindurch mobilisierte. Sein Problem war jedoch, die Widersprüchlichkeit auszuhalten, die sich aus seiner Rolle als Kopf der Liberalen Partei und als radikalreformistischer Führer ergab.[1]

Während der ersten Apriltage des Jahres 1948 bereitete die oligarchische Regierung den neunten Pan-Amerikanischen Kongreß vor, der in Bogota stattfinden sollte. Diplomatische Delegationen aus Süd- und Zentralamerika wie auch der Karibik sollten sich in Bogota versammeln, welches die Funktion eines kontinentalen Schaufensters innehatte. Der US-Sekretär George C. Marshall sollte eine antikommunistische Deklaration vorlesen. In der Vorbereitung des Treffens wurde Bogota von Bettlern, Schuhputzern und Straßenfegern, d.h. von den unteren sozialen Schichten, "gesäubert". Gaitan war von der kolumbianischen Delegation auf der Konferenz ausgeladen worden. Er gehörte zum alltäglichen Kolumbien, er repräsentierte es: das Kolumbien des Elends.

Am 9. April 1948 wurde Jorge Elicier Gaitan auf offener Straße unter bisher unbekannten Gründen erschossen. Gaitans Mörder, ein Mann namens Roa Sierra wurde gelyncht, sein Körper zerrissen, in den gleichen Straßen, in denen zwei Monate vorher der Marsch der Stille für die Opfer der konservativen Todesschwadronen stattgefunden hatte. Mit dem Mord an Gaitan begann der kolumbianische Bürgerkrieg, der als sog. violencia in die Geschichtsschreibung Lateinamerikas einging und sich bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erstreckte.

Anmerkung

[1] Violence In Colombia: The Contemporary Crisis In Historical Perspective, Edited by Charles Bergquist, Ricardo Penanda, Gonzalo Sanchez., o.A., p. 75-89.

Zur normalen Fassung

https://sopos.org/aufsaetze/3a6c6149019f2/1.html