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Politik, Demokratie und Geld

Über die US-Präsidentschaftswahl Election 2000

von Marcus Hawel

 

"Das Volk hat gesprochen, aber es wird eine Weile dauern herauszufinden, was es gesagt hat."

Bill Clinton


Nein, das Volk hat nicht gesprochen. Weil das Volk eine reale Fiktion ist, kann es gar nicht sprechen. Ihm wird etwas in den Mund gelegt, obwohl es keinen Mund hat. Es würde ewig dauern herauszufinden, was es gesagt haben soll, wenn man es nicht erfindet. Nach einer Wahl heißt es: das Volk hat gesprochen, es hat sich für einen bestimmten Kandidaten entschieden. Aber entschieden haben sich lediglich eine Mehrheit der Einzelnen für einen bestimmten Kandidaten, während eine Minderheit sich für jemand anderes entschieden hat. Nun werden aber Mehrheit und Minderheit wieder als Volk, das sich entschieden hat, zu einem Ganzen konstruiert. Diese demokratische Verfahrensweise, nach der sich die Minderheit der Mehrheitsentscheidung beugt, wird in der Regel von Demokraten anstandslos akzeptiert. Wenn aber die Mehrheiten hauchdünn sind oder gar die Wahlbeteiligung erschreckend niedrig ausgefallen ist, wird die Repräsentativität der Wahl in Frage gestellt, oder die Demokraten wandeln sich zu Fundamentalisten, die sich auf den demokratischen Formalismus berufen.[1]

Die Wahl des amerikanischen Präsidenten, die Election 2000, hat den Charakter einer Realsatire angenommen. Demokratie und Politik haben sich als das entlarvt, was sie im Spätkapitalismus in allen fortgeschrittenen Industriestaaten der Welt geworden sind. An der demokratischen Präsidentenwahl in den USA lassen sich die Verhältnisse lediglich besser erkennen als etwa in Europa, weil in Amerika der Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse in einem fortgeschrittenen Stadium ist. Freilich hat die Demokratie in den USA auch eine aus ihrer eigenen Geschichte hervorgegangene Besonderheit, die sich von der europäischen Tradition unterscheidet. Als äußerst zynisch nehmen sich deshalb die Worte des CNN-Moderators Wolf Blitzer, das Heilsame an der gegenwärtigen Wahl sei, daß die ganze Welt beobachten könne, wie demokratische Wahlen ablaufen, quasi als ein Effekt der Erziehung der Weltbevölkerung zu Staatsbürgern: "Millionen von Amerikanern und Millionen von Menschen in aller Welt erfahren, wie wir die Dinge in diesem Land handhaben, sie lernen Demokratie, sie lernen, wie sie funktionieren sollte. Wenn es irgend etwas Positives in dieser Angelegenheit gibt, dann die Lektion in Staatsbürgerkunde, die uns allen erteilt wird."[2]

Die USA haben kein egalitäres Wahlverfahren. Der unverhältnismäßige Einfluß des Geldes ist nicht zu übersehen.

Die USA haben kein egalitäres Wahlverfahren. Der unverhältnismäßige Einfluß des Geldes ist nicht zu übersehen. Das Geld erschließt den Zugang zur Öffentlichkeit, der über die einflußreichen privatisierten Medien vermittelt wird. Insgesamt vier Milliarden US-Dollar haben die Parteien von Gore und Bush in den Wahlkampf investiert. Die Summen wurden bereitwillig von Großkonzernen gespendet, die sich auf diesem Wege die Wahrung ihrer Interessen sichern. Auch Gore, der sich als Vertreter der Arbeitnehmer verkauft, hat das Geld der Konzerne dankbar angenommen.

Daß eine entscheidende Differenz der Wahl-Infrastruktur ein zusätzlich undemokratisches Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich bewirkt, erscheint dagegen kaum noch der Rede wert:

"Die Wahl findet an einem Wochentag statt, die Öffnungszeiten der Wahlbüros variieren je nach Wahlbezirk und hängen von der finanziellen Ausstattung der örtlichen Verwaltung ab: In den reichen Voorten der Weißen muß niemand anstehen, in den armen Stadtvierteln der Farbigen bilden sich lange Warteschlangen."[3]

Auch das indirekte Wahlsystem über ein Wahlmännerkollegium weist undemokratische Züge auf. Es heißt lapidar, das sei damals so eingeführt worden, weil man eine direktere Demokratie dem Wahlvolk aus Vernunftgründen nicht zutraute. Aber tatsächlich ging es nicht um das Wahlvolk allgemein, sondern um die politische Sicherung der Hegemonie der weißen Bevölkerung über die Schwarzen und ehemaligen Sklaven. Es ging um den Erhalt der politischen Hegemonie der Südstaaten und ihrer auf Sklavenarbeit basierenden Plantagenwirtschaft. "Dieselbe Regelung, die damals von den weißen Männern ersonnen wurde, um das politische System abzuschotten, führt zweihundert Jahre später zu dem Resultat, daß die Bewohner der kleinen ländlichen Staaten mit überwiegend weißer und konservativer Bevölkerung bei Wahlen mehr Gewicht haben als ihre Mitbürger in anderen Staaten."[4]

Aus diesem Grund hat Bush die Wahl gewonnen, obwohl Gore numerisch die meisten Stimmen bekommen hat: The winner takes it all. Dieses Prinzip schaltet kleine Parteien aus, weil sie in keinem Bundesstaat die Mehrheit der Stimmen erringenund die Wahlmänner bestimmen können, solange sie kleine Parteien sind. Und weil die beiden großen Parteien kaum noch auseinanderzudividieren sind, gibt es keine wirkliche Wahl-Alternative, sondern nur das ein bißchen kleinere Übel, das die Wähler schon im Vorfeld dazu anhält, erst gar nicht die kleinen Parteien zu wählen, weil diese Stimmen nur verschenkt wären.

Was soll es also bedeuten, wenn der ehemalige Regierungssprecher des US-Außenministeriums, James Rubin, in der International Herald Tribune davon spricht, daß die Freiheit in seinem Land so groß sei. Als Argument führt er an, daß "die Wahl des Präsidenten von einigen hundert Stimmen, von einem Millionstel der abgegebenen Stimmzettel abhängt."[5] - Was ist das für eine Freiheit? Vor allem wessen Freiheit?

Die politische Partizipation von oppositionellen Gruppen und Parteien ist auf parlamentarischer Ebene nicht gegeben. Sie können nicht gegen den Geldsegen der etablierten Parteien konkurrieren, weshalb sie auch keinen Zugang zu den Medien und damit zur Öffentlichkeit haben. Daraus ergibt sich freilich die Notwendigkeit einer außerparlamentarischen Opposition, die sich mit Mitteln des zivilen Ungehorsams und mit Gesetzesüberschreitungen in den Medien Gehör verschafft.[6]

Die Antwort des Staates ist die Kriminalisierung unbotmäßigen Verhaltens. In keinem anderen demokratischen Land sitzen als Folge einer wachsenden sozialen Misere so viele Menschen in Gefängnissen wie in den USA.[7] In Folge einer Gefängnishaft wurde vier Millionen Amerikanern das Wahlrecht entzogen. Vorrangig trifft es Latinos und Schwarze. Hatten letztere vor 35 Jahren in harten Kämpfen das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, so wird dieses durch das Strafrechtssystem wieder kassiert.

"Die amerikanische Politik, die in aller Welt für ihren demokratischen Charakter gepriesen wird, hat selbst noch den Schein der Autonomie verloren. Von wirtschaftlichen Interessen durchsetzt, befolgt sie brav die Vorgaben der Medien und der Justiz, die ihrerseits dem ehernen Gesetz des Geldes unterliegen. Amerika hat der übrigen Welt durchaus eine Lektion erteilt, aber es ist keine Lektion in staatsbürgerlichem Verhalten."[8]

- Gilt das, was Halimi und Wacquant über die amerikanische Demokratie urteilen, nicht auch tendenziell für alle Demokratien in den fortgeschrittenen Industrienationen?

Der Ohnmacht der Einzelnen steht eine institutionalisierte Kapitalmacht gegenüber. Das Gefühl der Ohnmacht verleitet berechtigterweise zur Politikenthaltung.

Kaum einer ahnt nicht, daß die in den demokratischen Verfassungen formulierte Behauptung, das Volk sei der Souverän, unzutreffend ist. Die Stimmen der Einzelnen, die Wahl zwischen sich kaum unterscheidbaren Parteien, sind nichtig. Von den Gesellschaftsinsassen wird ein demokratisches Bewußtsein verlangt, das Resultat einer mit staatlichem Auftrag durchgeführten Staatsbürgererziehung sein soll und den Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem gemäß den Anforderungen an die Erfordernisse einer spätkapitalistischen Realität in sich unsichtbar gemacht hat.

Der Ohnmacht der Einzelnen steht eine institutionalisierte Kapitalmacht gegenüber. Das Gefühl der Ohnmacht verleitet berechtigterweise zur Politikenthaltung, da die politische Partizipation gegenüber der Übermacht des Faktischen als sinnloses Unterfangen erscheint. Politikenthaltung gilt aber als un- und antidemokratisch. Der Nicht-Wähler macht sich schuldig, den extremistischen und demokratiefeindlichen Kräften unverhältnismäßigen Einfluß zuzuspielen.

"Aber das Schicksal politischer Formen geht nicht auf im Bewußtsein derer, aus denen die Gesellschaft sich bildet, sondern wird überwiegend determiniert von objektiven Tendenzen und Kräften, die vollends heute in der verwalteten Welt, über den Köpfen der Menschen hinweg, sich durchzusetzen drohen."[9]

Parlamentarische Politik in Demokratien kapitalistischer Prägung dient als Herrschaftserhalt, also zum Zwecke der Perpetuierung von Klassenherrschaft, indem institutionalisierte Verfahrensregelungen praktiziert werden, die der Aussöhnung bzw. zur Schaffung von Kompromissen zwischen den antagonistischen Klasseninteressen dienlich sind. Das ganze wird als nationales Interesse bezeichnet. Das sogenannte nationale Interesse ist aber lediglich eine Chiffre für die ökonomischen, allgemeinen Interessen der herrschenden Klasse. Der Widerspruch zwischen allgemeinem und partikularen Interesse ist darin repressiv zu einer Einheit gebracht.

Politikkonzepte, die auf eine Demokratisierung des parlamentarisch-repräsentativen Verfahrens zielen, heben den Gegensatz von allgemeinem und partikularen Interesse nicht auf, sondern perpetuieren die Herrschaft über Menschen und den Vorrang der Kapitalinteressen. Weil politische Partizipation nur auf Kosten von Vereinzelung und nur im Sinne eines Fortschritts im Ganzen betrieben werden kann, ist wirkliche Emanzipation im Sinne eines Fortschritts des Ganzen nur als Aufhebung von bürgerlicher Politik im Sinne einer Abschaffung parlamentarischer Demokratie und ihres bürokratischen Apparates denkbar. Keine Demokratie ohne Sozialismus.

Anmerkungen

[1] Die Beteiligung an Präsidentschaftswahlen in den USA liegt traditionell kaum höher als 50%.

[2] Wolf Blitzer, CNN, 15. November 2000.

[3] Serge Halimi und Loic Wacquant: "Demokratie in Amerika", LE MONDE diplomatique vom Dezember 2000, S. 8.

[4] Halimi, Wacquant, a.a.O.

[5] James Rubin, International Herald Tribune, 15. November 2000.

[6] Die aus diesen objektiven Verhältnissen resultierende Notwendigkeit einer außerparlamentarischen Bürgerbewegung in den USA läßt sich nicht auf Europa übertragen, weshalb Parolen des Widerstands gegen die Globalisierung, von denen sich eine Ausweitung sozialer Kämpfe in Europa durch ein Anknüpfen an die sozialen Proteste in Amerika (z.B. "Turn Prague into Seattle") erhofft werden, etwas hohl erscheinen. Die Proteste in Europa werden hauptsächlich getragen von zahmen Gewerkschaften und traditionell radikalisierten anarchistischen, autonomen und kommunistischen Gruppen, während das Protestpotential der "ganz normalen Bürger" im Gegensatz zu den Verhältnissen in den USA durch wesentlich direktere Partizipationsmöglichkeiten am parlamentarischen System absorbiert wird.

[7] Vgl. Loic Wacquant: "Les Prisons de la misère", Paris (Raison d'agir) 1999.

[8] Halimi, Wacquant, a.a.O., S. 9.

[9] Th. W. Adorno: Zur Demokratisierung der deutschen Universität, in: GS, Bd. 20.1, Frankfurt a.M. 1986, S. 337.

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