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Von Steinen und Bäumen

Ein Erfahrungsbericht zum Widerstand gegen den IWF- und Weltbankkongreß in Prag

von Utz Anhalt

"Wir sind Bäume. Wie kann ein Baum gewalttätig sein?"[1]
Ein Naturschutz-Aktivist der INPEG

"Eine politische Reform von IWF und Weltbank ist ebenso möglich wie unerläßlich"
PDS im Bundestag

"Weniger Bank. Mehr Menschen"
Transparent im rosa Block

"IWF SUCKS!"
Graffiti neben dem entglasten McDonalds am Wenzelsplatz

"IWF-Mördertreff"
Bundesdeutsche Autonome im anarchistischen Block

"Wir nehmen keine Alternativen an! Unser Zweck und Ziel ist die Beseitigung des Kapitalismus, also der Kultur des Werts durch revolutionäre Gewalt"
Rotes 19

"Capitalism kills. Kill capitalism"
Transparent im anarchistischen Block am Südeingang

"Sock it to 'em. Escalate wherever possible.Take no prisoners"
Grüße aus Liverpool im Infozentrum

So oder so ähnlich zeigten sich die Differenzen zwischen den einzelnen politischen Gruppen und Fraktionen, die an der Großdemonstration gegen IWF und Weltbank am 26. September (S26) in Prag beteiligt waren.

IWF und Weltbank

Warum demonstrierten am 26. September ca. 15.000 bis 20.000 Menschen gegen IWF und Weltbank in Prag?[2] Wer sich eingehend mit diesen beiden Institutionen beschäftigt hat, wird an ihnen nichts finden können, was nicht kritikwürdig, bzw. verdammenswert ist. IWF und Weltbank sind direkt verantwortlich für den Hungertod von Millionen von Menschen im Trikont. Die Kreditvergabe durch IWF und Weltbank an Länder, die diese nach jahrhundertelanger kolonialer Ausbeutung in die Schuldenfalle treiben, hat eine Kürzung der öffentlichen Ausgaben, also des sozial-, gesundheits- und bildungspolitischen Bereiches der jeweiligen Gesellschaften, zur Folge. Dies hat beispielsweise in Zimbabwe dazu geführt, daß die Vergabe von Kondomen an die Bevölkerung um 43% reduziert und die AIDS-Behandlung drastisch eingeschränkt wurde. AIDS ist die Haupttodesursache in Zimbabwe. Jede Woche sterben tausend Menschen an der Krankheit. Nach drei Jahren des IMF Structural Adjustment Programmes sind die Ausgaben für Grundschulausbildung um 29% und die für Gesundheitsvorsorge um 34% gesunken. Letzteres beinhaltet, daß die Anzahl der Frauen, die im Kindbett starben, sich in den drei Jahren des sog. "Strukturanpassungsprogramms" verdoppelte.[3]

Die Aussage "IWF - Mördertreff" hat, wie an solch konkretem Beispiel deutlich wird, nicht allein agitatorischen Wert. Gesundheitsfürsorge für "Schuldenrückzahlung" zu kürzen, ist Tötung aus niederem Motiv - Mord. Weltbank und IWF sind keinesfalls egalitäre Weltorganisationen, sondern vertreten vornehmlich die Interessen der fortgeschrittenen Kapitalstaaten. So haben die 10 reichsten Länder im Kontrollgremium des IWF einen Stimmenanteil von 52%, während die afrikanischen Länder sich mit 4% zufriedengeben müssen. Kredite der Weltbank werden ausschließlich im Rahmen von "Strukturanpassungsprogrammen" vergeben. Diese sollen die lokalen Märkte für den neoliberalistischen Weltmarkt öffnen, was unter anderem Lohndruck, Beschränkung von gewerkschaftlicher Arbeit und Verschlechterung von Arbeitsbedingungen bedeutet. Subventionen und Preiskontrollen von Grundnahrungsmitteln werden verboten. IWF und Weltbank koppeln die Vergabe von Krediten an die Privatisierung von Banken, Schlüsselindustrien, Bahn, Straßen, Strom, Schulen, Krankenhäusern und sogar des elementarsten Lebenselexiers: Wasser.

Die vom IWF bevorzugt geförderten Projekte sind umweltzerstörend. Großflächige Gebiete werden abgeholzt, gigantische Staudämme gebaut, Monokulturen errichtet. Vom IWF geförderte Auslandsinvestitionen transnationaler Konzerne gehen einher mit Massenvertreibungen der lokalen Bevölkerung. Verelendung in unfruchtbaren Gebieten oder das Leben in den Slums der Metropolen als Prostituierte oder Müllsammler ist die Folge.[4]

Neoliberalismus, die Politikvorstellung eines Schimpansen mit einem Maschinengewehr in der Hand, setzt darauf, durch Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung die Gewinne des Kapitals und die Renditen der Vermögensbesitzer zu steigern. Profitmaximierung resultiert in kontinuierlichem Sozialabbau, zunehmender Ausrichtung von Schulen und Universitäten auf die Wirtschaft, Konkurrenzkampf, Renaissance von Sozialdarwinismus, archaischem Rassismus und Faustrecht. Die Politik der Weltbank und des IWF funktioniert in den armen Ländern über Zuckerbrot und Peitsche. Soziale Rechte und individuelle Freiräume gelten, da sie keinen Profit abwerfen, als anachronistisch. Vormoderne und vorchristliche Vorstellungen eines schicksalhaften Ringens im barbarischen Überlebenskampf in einer in Gewinner und Verlierer geteilten, globalen und brutalkapitalistischen Wirtschaftsordnung werden als alternativlos dargestellt. Propagandistisch aufgebauscht wird das in den europäischen und nordamerikanischen Metropolen. Durch die Weltbank und den IWF werden auch die ärmsten Länder in dieses neobarbarische Konzept hineingezogen. Wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der staatskapitalistischen Modernisierungsdiktaturen, der sogenannten realexistierenden Sozialismen und der nicht weiterhin bestehenden Notwendigkeit des Kapitals, über Fordismus und Keynesianismus durch die Abfederung der schlimmsten Auswüchse des Systems dieses in einer zweigeteilten Welt als den besseren Weg darzustellen, zeigt der globale Kapitalismus sich neoliberal als das, was er immer gewesen ist: als pure Verwertbarkeit menschlichen Lebens, Recht des Stärkeren, immer schnellere Bewegung der Profiteure, Ausgrenzung und Verreckenlassen des überwältigenden Teils der Weltbevölkerung, der nicht funktionieren will oder kann. Elf Jahre, nachdem Francis Fukuyama mit dem Ende der bürokratischen Diktaturen das Ende aller Geschichte verkündete, wiederholt sich Geschichte als Tragödie. Mit der Globalisierung feiert der Imperialismus als politisches und ideologisches Zugtier eine massive Wiederkehr. Denn die globalen Folgen der neoliberalen Entrechtungs- und Verelendungspolitik lassen sich vor allem durch die militärische und autoritäre Eroberung der jeweiligen Märkte kontrollieren. Wenn die neoliberalen Zyniker vom "schlanken Staat" reden, so ist damit der Abbau des Sozialstaats gemeint. Gegen einen Polizeistaat, der den freien Markt schützt, haben sie nichts. "Wirtschaftsliberalismus und autoritärer Staat schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander." (Oskar Negt) Dies zeigte sich auch in Prag, wo die tschechische Polizei vom amerikanischen FBI für Bürgerkriegssituationen ausgebildet und mit modernstem Aufstandsbekämpfungsgerät versehen wurde - Ein unausgesprochener Ausnahmezustand.

Selbst die Masken der "demokratischen Bürgerrechte" zählen nichts, wenn es um die Interessen des globalen Kapitals geht. Ideologisch funktioniert hat die neoliberale Propaganda in Mitteleuropa insofern, als immer weniger Menschen ihre persönlichen Ziele auf etwas anderes als den Job oder das Ausstechen von Rivalen richten wollen. Selbst wenn sie dies nicht wollten, würde ihnen das schwer fallen, da die Versklavung durch Scheinselbständigkeit, flexible Arbeitszeiten (permanente Abrufbarkeit) immer weniger Zeit übrig läßt, den Neoliberalismus auf den Begriff zu bringen und in Frage zu stellen.

Der Neoliberalismus folgt dabei einem religiösen Dogma. Einige Konzernchefs und Manager vertreten die Priesterkaste, zu der die sich selbst versklavende Masse der Gläubigen aufblicken und den Punchingball spielen darf, um auszutesten, wann die Wachstumsgrenzen des Systems erreicht sind. Das Mantra derjenigen, "die es geschafft haben", geriert sich zur Bergpredigt des Neoliberalismus. In diesem darwinistischen Ökonomismus erscheinen dann all diejenigen, die diesen undialektischen Schwachsinn in Frage stellen, als weltfremd oder anachronistisch. Bezogen auf den IWF geht die Verdrehung der Realität in ihr Gegenteil dann so weit, daß der IWF-Boss Wolfensohn sich vor dem Prager Kongreß erdreistete, die Armutsbekämpfung als zentrales Ziel des IWF zu entdecken und seine Ansichten als nahezu deckungsgleich mit denen der Globalisierungsgegner darstellte.[5] Ob da der Wolf Kreide gefressen hat, Dracula sich als Blutspender ansieht, oder er wirklich an seine Phrasen glaubt, sei dahingestellt. Die Realität des Systems, das von ihm repräsentiert wird, entlarvte der Londoner Bürgermeister: "Das internationale Finanzsystem tötet jährlich mehr Menschen als der zweite Weltkrieg."[6]

Geschichte des IWF

Nachdem der US-Dollar Leitwährung wurde, verfügten die europäischen Banken allmählich über einen großen Kapitalüberschuß, den sie in Krediten an die Dritte Welt anlegten. Mit Wissen des IWF wurden dabei staatlichen Kontrollen der Rückzahlungsfähigkeit übergangen. So konnten die kapitalistischen Metropolen nicht nur durch die Rohstoffproduktion, sondern auch über die Steuerabschöpfung in der Peripherie von der Wertschöpfung in den verschuldeten Ländern profitieren. Diese Schulden stiegen von 1961 bis 1980 auf 560 Milliarden Dollar. Koppelungen an die Interessen der Länder des Nordens wurden bereits in den 70er Jahren aufgebaut, indem die Vergabe von Krediten damit verbunden war, von den erhaltenen Geldern Rüstungsgüter aus dem jeweiligen Gläubigerland anzuschaffen. Mit Auflagen wurden die südlichen Länder daran gebunden, ihre Waren auf dem freien Weltmarkt zu verkaufen. Von dem daraus entstehenden Verfall der Rohstoffpreise profitierten erneut die nördlichen Metropolen. 1982 erklärten verschiedene Dritte-Welt-Länder, daß sie ihre Auslandsschulden nicht mehr bezahlen könnten. Der heutige Schuldenberg der Dritten Welt liegt bei ungefähr 2000 Milliarden US-Dollar. Die alljährliche Schuldenabzahlung beträgt 250 Milliarden US-Dollar. Basis der Finanzinstitutionen Internationaler Währungsfond und Weltbank war seit ihrer Gründung 1944 eine "dynamische Weltwirtschaft" und ein "ungehinderter Welthandel", also die Festschreibung der Ausbeutung der armen Länder durch die Finanzeliten des Nordens.

Für die kurzfristigen Interaktionen war zunächst der IWF vorgesehen, für die langfristigen die Weltbank, wobei sich diese Aufgabenbereiche allerdings seit Anfang der 80er Jahre überlappen. Im Rahmen der Kapitalakkumulation sind Institutionen wie IWF und Weltbank notwendig, um unter Verzicht auf militärische Gewalt die entsprechenden Länder des Südens dazu zu zwingen, sich dem ökonomischen Zwang und ihrer eigenen Entrechtung zwangsweise, "freiwillig" anzupassen. Die Weltbank und der IWF sind Instrumente der G-7 Staaten, ihre neoliberal-barbarische Politik in der Welt zu verankern. Die Kreditvergabe ist geknüpft an die Aufgabe der wirtschaftspolitischen Souveränität. "Strukturanpassung" bedeutet Abschaffung von Mindestlöhnen und Arbeitslosenunterstützung sowie von sicherheits- und gesundheitspolitischen Arbeitsschutzvorschriften. Konkret heißt "Strukturanpassung" Anstieg der Arbeitslosigkeit, Kindersterblichkeit und Infektionskrankheiten. Nachdem im Zuge der Finanzkrise auch von Wissenschaftlern und Politikern Kritik an der Politik der beiden Institutionen geäußert wurde, tauften diese den Begriff "Strukturanpassung" in "Armutsbekämpfung" um. Orwell läßt grüßen. Heute gehört dem reichsten Viertel der Weltbevölkerung 82,7% des Reichtums und dem ärmsten 1,9%.

Widerstand gegen ökonomische Globalisierung

Daß trotz perfektionierter Werbestrategien diese Verwertungspolitik nicht widerspruchslos hingenommen wird, verblüffte die global players in den massenhaften und gewaltfreien Protesten gegen die ökonomische Globalisierung in Seattle.[7] Der Seattle man wurde zum Topos der entstehenden Widerstandskultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Es gab vor und nach Seattle andere Kämpfe, die aber nicht im gleichen Ausmaß in das Licht der Öffentlichkeit rückten. Wo immer die global players, die internationalen Finanzbarone auftauchten, waren ihre Gegner schon da. Ob Peoples Global Action oder INPEG (Initiative gegen ökonomische Globalisierung), die Gegner des ökonomischen Terrorsystems Neoliberalismus organisieren sich gerade dort, wo der Kapitalismus seine größten Wachstumszahlen zu verbuchen hat, d.h. sie vernetzen sich per Internet. Wie Prag gezeigt hat, internationalisieren sich auch verschiedene Widerstandsformen gegen die Globalisierung, aber oft ohne Verbindung untereinander. Klassische klassenkämpferische Aktionsformen, wie sie gerade für die sozialrevolutionäre Linke in Südeuropa typisch sind, treffen auf öffentlichkeitswirksame kreative Happenings, die eher an die Anti-Vietnam- oder Brokdorftradition erinnern.

In Prag

Wir sind als Gruppe von 9 Leuten und einem Kleinkind am vorigen Tag nach einigen Grenzquerelen wegen eines fehlenden Deutschlandaufklebers in die Stadt gekommen, wo wir Unterschlupf nahe des Stadiums Strahov finden. Dieses Stadion sollte Unterkunft für 10.000 Demonstranten bieten, doch lediglich 900 finden sich, die dieses Angebot der Prager Stadtverwaltung annehmen. Mag sein, daß für viele Linke die Assoziation zu Pinochets Folterstadion zu groß ist, oder daß "dissidents generally don't do what they're told".[8] Im Infopoint, der direkt in der Altstadt liegt, ist nur wenig über die Demonstrationsroute zu erfahren. Auch nichts darüber, daß die Demonstration verboten worden ist.

Die Flugblätter und Aushänge der unterschiedlichen Gruppen weisen auf ein vielfältiges Spektrum an Gruppen hin, die gegen den IWF mobilisieren. Wir erfahren, daß die Prager Bevölkerung vor möglichen Ausschreitungen gewarnt wurde und sich jeder vierte Prager nicht in der Stadt befindet. Selbst der Schulunterricht wird auswärts abgehalten. Der Infopoint bietet nur wenig Information von anderen politischen Gruppen als der INPEG.

Am Vortag der Demonstration wirkt die städtische Polizei sehr kulant. Die Präsenz der Sicherheitskräfte ist sehr gering. Unser Hauswirt bezeichnet das Polizeiaufgebot jedoch als Invasion. Die Bevölkerung geht nicht in die Innenstadt.

Warnungen im Infopoint: Nicht bei Rot über die Ampel gehen und ähnliche Kleinvergehen vermeiden, da die Polizei sehr scharf ist, Leute einzufangen.

Abends besuchen wir das convergence camp, welches am nächsten Abend von der Polizei geschlossen werden wird. In diesem Kommunikationszentrum treffen wir internationale Aktivisten, darunter Italiener, Schweizer, Spanier, die aus dem Alternativ- und Bauwagenbereich zu stammen scheinen. Es liegen verschiedene Flugblätter von anarchistischen und anderen Gruppen aus. Auf der Brücke vor dem Camp steht Polizei mit Knüppeln und Pistolen.

26.9.

S 26, der Aktionstag. Wir werden morgens um 8.15 von in der Luft kreisenden Hubschraubern geweckt. Unser Hauswirt mahnt uns zur Vorsicht vor der Polizei. Am námêsti Míru treffen wir auf die Demonstration. Diese ist riesig, einzelne Leute in rosa Wachsanzügen mit Schilden, schwarz-roten Luftballons, am Anfang, im rosa Block, ein großer Lautsprecherwagen mit Technomusik. Eine Verbindung des umkreisten A mit dem Frauenzeichen. Darunter der Schriftzug: "We are winning!" Viele tschechische Gruppen sind auf der Demonstration, Gruppen von Aktivisten, die sich mit Autoreifen behängt haben und Gasmasken tragen. Zuerst halte ich sie für Anti-AKW-Demonstranten. Erst später wird mir klar, daß die Autoreifen den Wasserwerfern und die Gasmasken dem Tränengas dienen. Im gelben Block marschieren Mitglieder der TKP/ML, vermummt mit Hammer- und Sichelfahnen. Die P.A.S.O.K. ist dabei, unter der Parole Humans against Profit. Eine andere Parolen ist Unemployment is the worst form of racism. Einige fahren einen selbstgebauten rosa Panzer durch die Gegend. Andere tanzen unter einem Transparent, auf dem steht: La beaute dans la rue. Wir reihen uns in den Zug ein, als der blaue Block in einem Meer von schwarzen und schwarz-roten Fahnen vorbeizieht. Das Balkan Socialist Centre ist dabei, und die infernal noise brigade. In dieser Brigade trommeln Seattle-Aktivisten, die phantasievolle Kostüme, Russenmützen und Gasmasken, große Spiegel als Schilde tragen. Ihre Flaggen sind grün und schwarz. Einige im anarchistischen Block tragen SWP-Schilder, das Logo Socialist Worker ist von den Schilden jedoch abgerissen. Auf Deutsch höre ich die Parole: IWF - Mördertreff. 15 Jahre alte Parolen erfahren ein Revival. Die Demonstration teilt sich in drei verschiedene Züge: einen blauen, einen rosa und einen gelben, die verschiedene Routen zum Gebäude auf dem Vyšehrad-Hügel nehmen, in dem das IWF-Treffen stattfindet.

Der Widerstand gegen die Globalisierung ist international: Am Südeingang kämpfen spanische, italienische und französische Anarchisten, deutsche Autonome, polnische Linksradikale und britische Punks zu den Trommeln der infernal noise brigade aus Seattle mit tschechischen Bullen, die vom amerikanischen FBI auf Bürgerkrieg trainiert wurden, während die organisierten kommunistischen und ML-Gruppen, italienische ya basta-Aktivisten, die türkische TKP/ML, die britische SWP und ihr deutscher Jungtrieb Linksruck, australische und neuseeländische Sozialisten auf der Brücke vor dem Haupteingang mit einem weit größeren Polizeiaufgebot konfrontiert werden.

Wir befinden uns an der Straße Lumirowa, am Südeingang des IWF-Gebäudes. Der schwarze Block ist riesig, wahrscheinlich 5000 oder mehr Menschen. Der Eingang wird von zwei Wasserwerfern, gepanzerten Polizei- und Sondereinheiten bewacht. Sofort startet der Angriff. Pausenlos fliegen Steine, Molotowcocktails und Holzlatten gegen die Polizeiblockade. In der ersten Stunde gelingt es einem Pulk von vielleicht fünfzig Leuten, die Blockade zu durchbrechen und in Richtung Gebäude zu laufen, bevor sie von Sondereinheiten zurückgeschlagen werden. Die Polizei ist defensiv, was aber auch daran liegt, daß sie kaum eine andere Chance hat, da die Offensive massenhaft, militant und organisiert abläuft.

Die Versuche der Sondereinheiten, einzelne Individuen aus dem Block herauszugreifen, scheitern. Ständig werden zwei Wasserwerfer eingesetzt, die aber im Vergleich zu den bundesdeutschen Arm- und Brustkorbbrechmaschinen ziemlich soft sind. Selbst Menschen, die fünf oder zehn Meter von den Wasserwerfern entfernt stehen, können sich ohne Probleme auf den Beinen halten. Immer wieder greifen Einzelpersonen die Bullen direkt mit Knüppeln an. Viele Demonstranten tragen Bauhelme. Einer trägt einen Helm der spanischen CNT. Die Greiftrupps der Bullen tragen schwarze insektenartige Plastikuniformen. Kurzfristig gelingt es immer wieder, die Masse an Militanten direkt vor dem Polizeizug durch das Werfen von Schockgranaten zurückzudrängen. Zwar sind die Granaten harmlos, aber sie blenden und betäuben die Ohren. Ihr Schwefelgestank brennt in den Schleimhäuten. Auf dem Berg (der Südeingang befindet sich in einer Talsenke) bricht neben mir ein tschechischer Amateurfotograf zusammen. Ich helfe ihm auf die Beine. Wieder ertönt aus hunderten von Kehlen der Schlachtruf: "NO PASARAN!" - "Kein Durchkommen". Die Parole aus dem besetzten Madrid im spanischen Bürgerkrieg. Die Parole gegen den Faschismus. Jedesmal, wenn die Aktivisten durch Tränengas und Schockgranaten zurückgetrieben werden, ist dies der Ruf, um den Sturm erneut zu eröffnen und in das Gebäude eindringen zu können. Ich treffe einen vom Wasserwerfer durchnäßten Bekannten aus Hannover. Er trocknet sich das Gesicht an meinem Hemd, und verschwindet erneut im Getümmel. Und wieder: "NO PASARAN." Für heute der Ruf der antifaschistischen Gegner des Neoliberalismus. Die mit Gasmasken geschützten Musiker der infernal noise brigade spielen die Musik zum Kampf. Einzelne bieten sich in Heldenpose dem Strahl des Wasserwerfers dar. Andere klettern über den Zaun und greifen die Sondereinheiten an. Festnehmen, zusammenschlagen und foltern wird die Polizei erst später. Noch hat sie keine Gelegenheit dazu, da manche Polizisten bis zu den Knien in Pflastersteinen stehen und pausenlos mit Steinen, Ästen und Flaschen beworfen werden.

Ein Baum neben dem Wasserwerfer gerät in Brand. Laute Beifallsrufe ertönen aus dem Nebel der Schockgranaten. Der Selbstschutz des blauen Blocks ist hervorragend organisiert. Eigene Ambulanzen bleiben stehen und rufen die Menschen auf, nicht in Panik zu geraten, was schwer fällt, da der Lärm und das Blenden der Schockgranaten die Instinkte und Reflexe ansprechen. Sondertruppen versuchen, von der Seitenstraße her anzugreifen und werden zurückgeschlagen. Dann setzt die Polizei Tränengas ein. Ich sehe nichts mehr und taumle benommen über den Berg, fühle mich wie betäubt. Wenn die Polizei jetzt den Berg stürmen würde, könnte ich nicht reagieren. Um mich herum rennen die Massen in Panik den Hügel hinauf, Richtung Bahngleise. Ein Mann flößt mir Wasser in die Augen. Es hilft, und ich bin wieder in der Lage, in meinen Rucksack zu greifen und eine Zitrone herauszuholen. Ich träufle den Saft in die Augen. Im ersten Moment brennt es fast doppelt so stark wie das pure Gas, doch nach wenigen Minuten tränen meine Augen und der Schmerz ist vorbei. Die Zitronensäure neutralisiert die Lauge des Tränengases. Eine vollgeschützte Frau bekommt einen Kreislaufkollaps und wird von mehreren Männern den Berg hinaufgetragen. Immer wieder: "NO PASARAN!" An den Hängen, zur Talsenke am Eingang hinunter, sind einige Aktivisten permanent damit beschäftigt, Mülltonnen mit Pflastersteinen zu füllen und nach vorne zu den Kämpfenden zu rollen und sie auf der Straße auszuschütten, wohl, um den Rückzug zu decken. Seit zwei Stunden fliegen Steine und Molotowcocktails.

Auch die Pressevertreter, die durch rote Umhänge kenntlich sind, leiden unter dem Tränengas, um mich herum viele friedliche Demonstranten mit rotgeschwollenen Gesichtern. Greiftrupps der Polizei in insektenartigen Plastikpanzern versuchen im Tränengasnebel auf den Berg vorzudringen und die Verletzten und Liegengebliebenen zu schlagen. Sie werden abgewehrt. Immer wieder: "No justice, no peace. Fuck the police." Tschechische Krankenwagen sind im Einsatz. Ich habe keinerlei Einblick auf das Gros der Demo hinten an der Straße, doch es scheint verhältnismäßig wenig Verwundete zu geben.

Einige Aktivisten benutzen die auf Rollen gestellte Metallwand einer Baustelle um geschützt zu den Wasserwerfern vorzudringen. Daraufhin rücken von der Seite die paramilitärischen Polizeieinheiten an. Nach dem dritten Tränengaseinsatz beginnen die Sondereinheiten die Straße zu räumen. Die Polizei hat sich als Schildkröte formiert und nimmt den Berg ein. Der Wasserwerfer fährt auf die Straße vor. Der Rückzug läuft geordnet ab und ist durch Barrikaden, die jeweils im Abstand von vielleicht 20 oder 30 Metern errichtet sind, abgesichert. Mülltonnen werden angezündet. Die Aktivisten in den ersten Reihen verschanzen sich hinter Schildern. Als die Demonstranten rechts in eine Seitenstraße abgedrängt werden, kommt es zu Panik. Die Polizei klopft mit Knüppeln auf ihre Schilde, eine Art archaisches Kriegsritual. Einzelne bleiben stehen, rufen den Flüchtenden zu, nicht zu laufen. Zu Recht, denke ich, denn das würde den Jagdtrieb der Menschenjäger entfesseln.

Die Stehengebliebenen schlagen Pflastersteine aneinander: ihre Antwort auf den Kriegstanz der Gegner. Sie halten die vom FBI auf Bürgerkrieg ausgebildeten Schlägertruppen so lange in Schach, bis die anderen hinter die schützenden Barrikaden fliehen können. Die Straße wird von der Polizei jetzt Stück für Stück geräumt, aber auf hunderten von Metern stehen Gruppen von Menschen und bauen Barrikaden. Einige schieben einen Skoda auf die Straße, werden aber von anderen daran gehindert, da dies nicht das Auto eines Reichen ist. An der Straßenbahnhaltestelle wird eine Metallabsperrung aus dem Boden gerissen und quer über die Straße gestellt. Der Bürgersteig wird mit brennenden Mülltonnen blockiert. "NO PASARAN!" Hier kommt die Poliei nicht durch. Mißhandlungen werden erst später auf den Polizeiwachen stattfinden, noch gehört die Straße den Gegnern der ökonomischen Globalisierung. Eine alte Frau wirft den Aktivisten Schokoriegel aus dem Wohnungsfenster zu: "Viva la revolucion!" ruft ein junger spanischer Anarchist ihr zu. Sie lächelt. Menschen, die sich vor wenigen Jahren einer bürokratischen Diktatur in der Samtrevolution entledigten, haben keinerlei Interesse an Polizeigewalt, ganz egal, wie diese ideologisch gerechtfertigt wird.

Meine Gruppe habe ich verloren und schleiche mich an der Moldau entlang Richtung Karlsplatz. Die ganze Stadt ist voller Greiftrupps, die jetzt die vereinzelten Kleingruppen festnehmen und zusammenschlagen. In welchem Ausmaß an diesem rassistische und sexistische Gewalt angewendet wird, soll ich erst später erfahren. Als ich in der Altstadt ankomme, ist alles ruhig. Aber da werden die Festgenommenen bereits in den Knästen mißhandelt.

Am Abend treffe ich in unserem Haus meine Leute wieder. Demonstranten sollen massiv vor der Oper und dem Nationalmuseum aufgetreten sein. McDonalds am Wenzelsplatz wurde komplett entglast, ebenso ein Kentucky Fried Chicken-Restaurant und mehrere Banken. In der Innenstadt und auf der Brücke am Haupteingang kam es zu Auseinandersetzungen. Dort mußte insbesondere die linkskommunistische Gruppe Ya Basta unter Polizeigewalt leiden. Sie war allerdings mit Autoreifen, Schilden, Helmen und Schaumstoff auch geschützt. Im gelben Block waren hauptsächlich ML-Gruppen aktiv, aber auch Linksruck und die SWP. Der rosa Block bestand aus tschechischen Demonstranten, die sich bei Übergriffen und Ausschreitungen der Polizei tanzend zwischen diese und die Aktivisten stellten. Einige gelangten tatsächlich in den ersten Stock des Kongreßgebäudes, bevor sie von Sondereinsatzgruppen der Polizei eingemacht wurden.

27.9

16.15

Infopoint. Ich diskutiere mit einer christlichen Missionarin aus Guayana, die zwar mit der INPEG nichts zu tun hat, aber mit den Zielen der Demonstration sympathisiert, da sie in ihrem Land mit sozialem Kahlschlag als Folge der Globalisierung täglich zu kämpfen hat. Von ihr erfahre ich, daß 19.000 Kinder jeden Tag wegen der Schuldenfalle sterben "müssen". - Einzelne Gruppen wurden in der Nacht inhaftiert und abgeschoben. Sondereinheiten mißhandelten gezielt Schwarze aus der SWP, brachen ihnen Arme und Finger. - Eine Frau brach sich die Hüfte, als sie die Mißhandlungen beim Verhör nicht mehr ertragen konnte und aus dem zweiten Stock der Wache sprang.

Seit gestern Abend herrscht im Prager Stadtgebiet der Polizeistaat.

Wir kommen am entglasten McDonalds vorbei. Drinnen essen die Arbeiter Pizza vom Bringdienst. Polizei ist aufgestellt. Ein Polizist grinst uns an und wedelt mit seinem Knüppel. Wir verschwinden. In der Prager Innenstadt werden die Personalien kontrolliert. Einige Punks stehen am Infopoint, einer trägt ein "Ärztefans gegen Rechts" T-Shirt. Wer sich am Ausgangspunkt der gestrigen Demo aufhält, wird festgenommen. Alle U-Bahnstationen sind gesperrt, 10 deutsche Namen stehen auf den Listen der Festgenommenen. Zur gleichen Zeit werden in verschiedenen europäischen Staaten tschechische Botschaften besetzt wegen Mißachtung der Menschenrechte. Ich lese Flugblätter im Infopoint: "Haider, Le Pen & Co sind nicht Gegner, sondern die giftigen Früchte des Neoliberalismus!" steht in einem. Die INPEG lehnt jegliche Gewalt gegen Menschen, Tiere und Umwelt ab wie auch jeglichen Eingriff von Autoritäten, das Recht auf Demonstrationsfreiheit zu unterdrücken. Sie fordert Entwicklungshilfe, die grundlegende Menschenrechte beachtet, wozu Essen und Kleidung gehören, aber auch Arbeits- und soziale Rechte: etwa gerechte Löhne, Bildung und Sozialfürsorge.

18.30

Demonstration in der Altstadt. Ungefähr 300 Leute, hauptsächlich Spanier. Sie fordern Freiheit für die inhaftierten Dissidenten. Jongleure sind dabei, Trommler, Feuerspucker. Viele sind mit grünen oder roten Masken vermummt. Ein Mann hat sich mit schwarzem Tesaband gefesselt. Etliche tragen ein Schild umgehängt, auf dem steht: "I'm also activist against W.B. & I.M.F. Why don´t you arrest me?" Es ist eine Solidaritätsaktion. Mehr als 400 Ausländer sind festgenommen worden. Die Sondereinheiten sollen gezielt friedliche Demonstranten festgenommen und mißhandelt haben und besonders brutal gegen südländisch aussehende vorgegangen sein. Die meisten Inhaftierten sind Tschechen.

Ein Südspanier erzählt mir, daß an der Grenze der ersten zur dritten Welt, an der Grenze zu Marokko jeden Monat über 30 Menschen ertrinken. Schweden sind da und Kanadier. Eine Schwedin lehnt die Militanz von seiten der Demonstrationsteilnehmer ab. Ein spanischer Aktivist meint, daß auf dieser Demonstration möglichst vielfältige Aktionsformen zu Wort kommen sollten. Die Polizei war seiner Meinung nach grausam. Er beschreibt Knochenbrüche, sexistische Übergriffe. Eine Frau wurde im Gefängnis von Polizisten vergewaltigt. Folter durch Schlafentzug, Nierenschläge. Ich spreche mit einem Sizilianer. Er findet es beschämend, daß auf der großen Demonstration nur 20.000 Menschen waren, da allein in Europa Millionen unter den Schweinereien der Weltbank zu leiden hätten. (Die Zeitung spricht von bloß 7000 Demonstranten.)

Die Demonstranten heben und senken die Arme. Auf der Karlsbrücke, die überall mit Insektenrobotern gesprenkelt ist, reihe ich mich in eine Gruppe spanischer Demonstranten ein. Wir rufen zusammen alle laut: "NO PASARAN!" In der ins Abendrot gehüllten mittelalterlichen Kulisse der Karlsbrücke wirken die Paramilitärs wie eine kafkaeske Invasion von Robocops aus der Zukunft oder wie die Kakerlaken im Film Mimic. Die Straßen sind leer. Später erfahre ich, daß die Touristen wild flohen, als sie die Demonstration hörten. Die Touri-Läden in der Altstadt schlossen ihre Türen und verwehrten den Schutzsuchenden die Zuflucht. Auch das Foltermuseum, das ich nachmittags noch besucht hatte. Leider ist Folter nicht, wie in der Ausstellung beschrieben, barbarische Vergangenheit, sondern bittere Realität.

28.9.

Václac Havel soll die Weltbank aufgrund deren Menschenrechtsverletzungen kritisiert haben. Weiß er nichts von dem Treiben der Polizei hier oder will er es nicht wissen? Ein ehemaliger Bürgerrechtler ist Oberhaupt eines Staates, in dem nach dem 26.09. die Bürgerrechte für Demonstranten außer Kraft gesetzt wurden. Auf dem Wenzelsplatz, wo Millionen Tschechen durch Demonstrationen das bürokratische Regime in die Knie zwangen, werden von tschechischen Polizeikräften die demokratischen und freiheitlichen Demonstranten gegen die Diktatur des IWF und der Weltbank verhaftet und mißhandelt. In der Stadt, wo im Prager Frühling die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus durch die Panzer des Warschauer Paktes zerstört wurden, werden heute demokratische und freiheitliche Sozialisten mit tschechischen Räumpanzern und Wasserwerfern von den Straßen gejagt. Dabei hat das Geschwafel von IWF-Bossen über Armutsbekämpfung so viel Gehalt wie die Lüge der Ostblockdiktaturen vom "real existierenden Sozialismus." IWF und der von uns erlebte tschechische Polizeistaat haben mit Demokratie und Menschenrechten soviel zu tun, wie die ehemaligen stalinistischen Terrorstaaten mit Sozialismus: NICHTS!

Resümee

Zusammenfassend läßt sich über die Aktionstage gegen IWF und Weltbank, die in diesem Artikel nur fragmentarisch beschrieben werden konnten, sagen, daß von Seiten der Globalisierungsgegner vielfältige Ansätze formuliert wurden, die aber nicht den Charakter einer gemeinsamen sozialen Bewegung tragen. Es ist zu hoffen, daß es zu keiner Spaltung an der Gewaltfrage kommt, bevor überhaupt eine Bewegung entsteht. Die unterschiedlichen Gruppen: Sozialisten, Anarchisten, Naturschützer, Reformer, etc. waren massiv und zahlreich vertreten. Zu Beginn der Großdemonstration am 26.09. sah es so aus, als ob hier die vereinte Linke geschlossen innerhalb eines gemeinsamen Konsens' marschieren würde. Es taten sich jedoch Gräben auf, bei denen sich die Frage stellt, ob sie überbrückt werden können.

Spanische, griechische oder italienische Anarchisten und Kommunisten haben ein vollkommen anderes Bewußtsein über direkte Aktionsformen als Naturschützer aus den USA. Während das eine aus der Erfahrung des bewaffneten Kampfes gegen den historischen Faschismus wuchs, ist das Recht, öffentlich seine Meinung zu äußern und darzustellen tief in breiten Schichten der us-amerikanischen Bevölkerung verankert. Letzteres bedeutet vor allem durch phantasievolle Aktionsformen Medienöffentlichkeit zu schaffen, während ersteres darauf basiert, eigenständige Organisation abseits von staatlicher Herrschaft aufzubauen. Leider sind gerade die kreativen Aktionsformen der Seattle-Gruppen in der Berichterstattung über Prag untergegangen. Auch die militanten Gruppen haben allerdings nichts mit dem zu tun, was Christopher P. Winner in der Prague Post als marauding class bezeichnet und mit Hooligans vergleicht.[9] Hier führt eine formale Gleichsetzung von unpolitischer Gewalt mit linker Militanz zu einer Nichtbeachtung der Inhalte. Die Kennzeichnung der IWF-Führer als ökonomische Hooligans, wie die INPEG sie zu Recht benannte, wurde nun in der Presse gerade auf den Widerstand gegen deren verbrecherischen Irrsinn umgedreht.

Uneinigkeit bestand darüber, wie das IWF- und Weltbanktreffen verhindert werden sollte. Während ein Teil der Demonstranten das Gebäude blockieren wollte, versuchte es ein anderer Teil durch das Vordringen ins Gebäude. Mit einer besseren Koordination der verschiedensten Gruppen untereinander hätte zumindest eine Blockade durchaus Aussicht auf Erfolg gehabt. Ein Teilerfolg war es dennoch. Die Kongreßteilnehmer konnten das vorgesehene Kulturprogramm nicht absolvieren. Die Veranstaltung wurde vorzeitig abgebrochen, die Medien berichteten mehr über den Widerstand, weniger über das Treffen selbst.

Was die unterschiedlichen Widerstandsgruppen sowohl in der INPEG als auch außerhalb davon auszeichnet, ist positiv. Der größte Teil von ihnen hängt nicht am Tropf von Parteien und Verbänden, ist basisdemokratisch organisiert und entbehrt hierarchischer Strukturen. Trotz des Auftretens in Kleingruppen war es möglich, eine große Demonstration zu organisieren, auf der die einzelnen Gruppen gemeinsam durch die Straßen zogen. Der Widerstand gegen die ökonomische Globalisierung ist international, reicht von brasilianischen Landlosenbewegungen über Naturschutzgruppen aus Papua-Neuguinea bis zu französischen Kuhbauern und milchgesichtigen Linksrucklern aus deutschen Landen. Bisher ist es noch keiner Gruppe gelungen, diesen Widerstand für die eigenen Ziele zu instrumentalisieren. Das ist gut. Dieses Spektrum der unterschiedlichsten Aktivisten beinhaltet verschiedenste Aktionsformen. Mal fühlte ich mich an den spanischen Bürgerkrieg erinnert, mal an Brokdorf, ein paar Straßen weiter an Woodstock. Neu ist die internationale Vernetzung per Internet. Ob daraus eine soziale Bewegung entstehen kann, hängt davon ab, ob die einzelnen Gruppen in Zukunft bereit sind, zusammenzuarbeiten. Dies geht nur im Wissen über den eigenen Standpunkt und eine gewisse Toleranz anderen Ansätzen gegenüber.

Ausgrenzung oder Wahrheitsverkündungen führen zu nichts. Auch reform-orientierte Gruppen, die im Naturschutz- oder Menschenrechtsbereich arbeiten, können sehr sinnvolle Ansätze haben. Zumindest sind sie sich mit Linksradikalen darüber einig, daß globalisierter Kapitalismus nicht die schönste aller Welten ist. Gleichermaßen führen auch Abgrenzungen und Ausgrenzungen von Militanten zu nichts, wenn sich eine soziale Bewegung nicht in eine austauschbare Märtyrer- und Opferrolle hineinmanövrieren will. Immerhin haben die Militanten Gewaltexzesse von Seiten der Polizei zumindest stundenweise verhindern können und damit die physische Unversehrtheit derjenigen gewährleistet, die friedlich demonstrieren wollten. Was jeder Einzelne tut oder unterläßt und wie er das macht, sollte ihm selbst überlassen bleiben. Auch wenn die einen Steine sammeln und die anderen sich als Bäume verkleiden.

Abschließend können einige Punkte festgehalten werden: Die europäische Linke hat sich radikalisiert, Artikulationen nichtopportunistischer Emanzipationsbestrebungen treten deutlicher hervor als noch vor wenigen Jahren. Ein breites Unbehagen auch bei denen, die sich im Kapitalismus weitgehend eingerichtet hatten, macht sich breit. Über den Widerstand gegen die ökonomische Globalisierung, d.h. über die Abwehr der Angriffe auf gesellschaftliche Freiraum in jedem Land, werden gemeinsame Ziele freigesetzt, die in vorherigen Protesten nicht erkennbar sein konnten. Im Kampf gegen Totalität und Globalität der neoimperialistischen Infantilisierungsgewalt der global players werden Ansätze von Bündnissen deutlich, die in den nächsten Jahren lebenswichtig werden könnten. Der Zynismus, mit dem von neoliberalen Kapitalstrategen Klartext über ihre menschenverachtende Politik geredet wird, hat zur Folge, daß auch ehemals systemkonforme Individuen und Gruppen dieser Politik immer skeptischer gegenüberstehen. Eine Vernetzung von Basisgruppen über das Internet ermöglicht eine internationale Kommunikation, wie sie noch vor wenigen Jahren undenkbar war. In Prag gab es allerdings eher ein Nebeneinander denn ein Miteinander der einzelnen Fraktionen im Widerstand. Die Formulierung eines Minimalkonsens' ist Basis einer zukünftigen solidarischen Arbeit. Der entscheidende Punkt ist, ob es der Linken gelingt, durch die Manifestation konkreter sozialer Utopien das religiöse Dogma der Diktatur des freien Marktes zu durchbrechen. Dies bedeutet, Bewußtsein über ein egalitäres Zusammenleben sozial verantwortlicher Individuen ohne Ausbeutung als einzige Perspektive in der Weiterentwicklung von Gesellschaft zur Freiheit und Gleichheit aller Menschen zu schaffen.

Schönen Gruß an Fukuyama: Die Geschichte des Widerstandes gegen ökonomischen Terrorismus geht weiter, da Emanzipation außerhalb der Gedankenstrukturen neoliberaler Verwertungslogik im Entstehen begriffen ist.

Anmerkungen

[1] Diese Aussage stammt von US-amerikanischen Aktivisten, die sich in einer gewaltfreien und direkten Aktion als Bäume verkleidet hatten.

[2] Die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) schrieb von 6000 Demonstranten, die Süddeutsche Zeitung von 12.000, die tschechischen Zeitungen blieben ungefähr bei 10.000. Unseren Einschätzungen zufolge sind diese Zahlen zu niedrig angesetzt.

[3] Flugblatt der Iniciativa Proti Ekonomcke´ Globalizaci. PO Box 56, 11121 Praha 1, Czech Republic.

[4] Schöner leben. Göttinger Zeitung gegen den IWF/Weltbank-Gipfel in Prag. September 2000. - Der Großteil der Hintergrundinformationen dieses Artikels basiert auf dieser Analyse.

[5] Teilweise mag diese Unverschämtheit auch der Kontur- und Inhaltlosigkeit der Globalisierungsgegner geschuldet sein.

[6] Zit. nach: DIE ZEIT. 21. September 2000. S. 23.

[7] Nach Aussagen eines Aktivisten aus Seattle, der in Prag im blauen Block demonstrierte, ging in Seattle die Provokation ausschließlich von der Polizei aus.

[8] The Prague Post, Special Report, September 27 - October 3, 2000. S. B1.

[9] The Prague Post. Special Report. Winners and Losers. September 27 - October 3, 2000. S. B1.

Fotos: LN - J. Zatorsky (3), AP (1), CTK - S. Peska (1).

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