Zur normalen Fassung

Politik der Moral

Die Instrumentalisierung von Auschwitz in deutscher Rhetorik zur Legitimation des NATO-Angriffskrieges gegen Serbien im Frühling 1999[1]

von Marcus Hawel


I.

Als die NATO am 24. März ihren Angriffskrieg gegen Serbien begann, konnte man unter der Linken in Deutschland eine Paralysierung ausmachen. Fast etwas hilflos wurde nicht um Begriffe gerungen, sondern erst mal grundsätzlicher: nach Luft geschnappt. Der Krieg schnürte der Linken die Kehle zu. Die Ereignisse begannen sich zu überstürzen. Es ist nicht einfach, ein Ereignis zu reflektieren, das noch inmitten seines Prozessierens ist und keinen Abschluß in sich erkennen läßt. Dieser Aufgabe sich zu stellen, ist mit einem gewissen Risiko von Falschaussagen verbunden. Die Eule der Minerva versucht den Flug vor einbrechender Dämmerung, in der Absicht, nicht zu spät zu kommen, und gerät mitten ins Handgemenge. Hoffentlich kommt sie ohne blaue Augen davon, damit ihr nicht auch bei Tag wie der sinnlichen Gewißheit in der Nacht alle Kühe auf dem Feld als Schwarz erscheinen. Man ist genötigt, vom Tagesgeschehen, von den Symptomen und Erscheinungsformen zu abstrahieren und das Wesen dieses Prozesses: die in die Zukunft gerichtete Tendenz zu erfassen. Um dieses prozessuale Wesen aufzuspüren, muß man seinen analytischen Stachel durch die ideologische Hülle der Legitimationsrhetorik der Kriegsbefürworter bohren. Den von den politisch Herrschenden ins Feld geführten Argumenten zur Legitimation des Angriffskrieges: es ginge darum einen Genozid zu verhindern, war aus gutem Grund mit Skepsis zu begegnen.

Schon seit einigen Jahren konnte man beobachten, wie die politisch Herrschenden im deutschen Staat mit salamitaktischem Tempo zur alten phantasierten Großmachtsouveränität zurückfanden. Deutschland werde endlich erwachsen hieß der Refrain des rhetorischen Eiertanzes deutscher Politiker, die ihren Nationalstaat wieder weltweit Verantwortung tragen sehen wollten. Der deutsche Kriegsminister sprach im Zusammenhang des Kriegsausbruches sogar etwas unverholen von einem Glücksfall für die Möglichkeit Deutschlands, sich als verantwortungsbewußter und souveräner Staat in der westlichen Staatengemeinschaft zurückzumelden. Der deutsche Staat wird in dem sich neu konstituierenden Europa eine herausragende Rolle spielen. Daß sich ausgerechnet unter einer sozialdemokratisch-grünen Regierung Deutschland dazu entschieden hat, ohne Einschränkung und Sonderrolle im Staatenverbund der NATO gegen Serbien kriegerisch einzugreifen, sollte nicht großartig verwundern. Vielleicht hätten keine anderen Parteien als diese, die in der Tradition von Pazifismus und sozialer Gerechtigkeit stehen und deshalb als moralisch integer erscheinen, so wirkungsvoll an einigen Wegweisern dieser Republik rütteln können. Die Wegweiser lauteten "Nie wieder Krieg von deutschem Boden" und "Nie wieder Auschwitz". Die dunkle Vergangenheit Deutschlands: zwei Weltkriege angezettelt zu haben, Faschismus und Auschwitz hatten das deutsch-nationale Selbstverständnis der Nachkriegsära negativ bestimmt. Dieses Selbstverständnis konnte sich über mehrere Jahrzehnte aufrechterhalten, weil die Öffentlichkeit seit '68 von den links-liberalen Kreisen dominiert wurde und das europäische Ausland, ebenso die USA und die Sowjetunion in dem "schlafenden Riesen", wie dieses Deutschland genannt wurde, eigene geostrategische Vorteile erblicken konnten. Doch mit dem Zusammenfall des Eisernen Vorhanges, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der bipolaren Weltordnung, mit der Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands wurde geradezu auch von den westlichen Industriestaaten eine vollwertig souveräne Rolle Deutschlands in Europa eingefordert. Der Krieg gegen Serbien diente nunmehr als der Abschluß des Transformationsrituals zu einem vollwertigen, machtpolitisch führenden NATO-Mitglied. Der Krieg besitzt deshalb den Status eines Schlüsselereignisses.

Mittlerweile dürfte einsichtig sein, daß es in diesen Zeiten um die Einrichtung einer neuen Weltordnung geht, die mit der Vorherrschaft der westlichen Industriestaaten in Gestalt der NATO an diesem Krieg sich zu etablieren begann. Und der deutsche Staat mischt kräftig mit. Diese neue Weltordnung konstituiert sich auf den Ruinen der zusammengefallenen bipolaren Weltordnung. Seit 1989 ist eine alte Dynamik wieder in Gang gekommen, die während der Zeit des Kalten Krieges durch eine ungeheuerlich ideologische Klammer, die die gesamte Welt erfaßte, weitgehend stillgestellt war. Wir sind nicht am Ende der Geschichte, sondern geradewegs wieder mitten in sie hineingefallen. Das Europa nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung sieht sich einem Prozeß ausgesetzt, der, so befürchtet man, die Stabilität insgesamt in Gefahr bringen könnte. Die unter den einst so genannten real existierenden Sozialismen zusammengehaltenen Vielvölkerstaaten drohen aufgrund ihrer bisher mißglückten Umbrüche und Umstellungen auf die liberal-kapitalistische Produktionsweise in sogenannten ethnischen Konflikten weiter zusammenzufallen und ein destruktives Potential freizusetzen, das die europäische Ordnung ins Wanken bringen könnte. Der westlichen Staatengemeinschaft fällt in diesem Zusammenhang nichts besseres ein, als die Zersplitterung in Kleinststaaten zu unterstützen, weil solche viel besser zu kontrollieren und abhängig zu machen sind. Parallel hierzu wird die Festung Europa weiter ausgebaut. Die politische und militärische Verfaßtheit des westlichen Europas beginnt sich unter der Gefahr der Destabilisierung des gesamten Europas neu zu konstituieren. Es geht darum, die Errungenschaften einer kapitalisierten und allgemein vermeintlich im Wohlstand angekommenen Zivilisation zu verteidigen. Die Konflikte auf dem Balkan dienen hier als Anlaß, die neue Sicherheitsarchitektur in Europa und weltweit voranzutreiben.

In der Rhetorik der westlichen Staatengemeinschaft hört sich das natürlich etwas anders an. Ihr Thema ist das der Menschenrechte. Sogenannte ethnische Säuberungen, Völkermorde sollen in der Welt nicht mehr ungestraft stattfinden dürfen. Dan Diner mutmaßt affirmativ in der ZEIT, es könnte sich um einen neuen kategorischen Imperativ handeln: In die Souveränität aller Nationalstaaten einzugreifen, die zu ethnischen Säuberungen als Mittel der Politik zur Homogenisierung ihrer Bevölkerungen greifen.[2] Das soll die Botschaft des Krieges sein, die weit über Jugoslawien hinausgehen soll, schon der Mahnung wegen, die vorauseilenden Gehorsam in der barbarischen Welt erzwingen soll, weil es sich die westlichen Industriestaaten finanziell und politisch auf Dauer gar nicht leisten könnten, überall dort militärisch zu intervenieren, wo Menschenrechte aufs massivste verletzt werden. Sollen jetzt etwa auch auf unzählige andere Staaten Bomben abgeworfen werden: auf Indonesien, Tschetchenien, Ruanda, Äthiopien, Kambodscha, Iran, Irak? - Der alljährliche Bericht von amnesty international könnte ja zum Kriseninterventionskalender der NATO werden; er gäbe Aufschluß darüber, wo alles in der Welt auf massive Weise Menschenrechte verletzt werden. Wird dann auch der türkische Staat bombardiert? Wohl kaum. Der Krieg der türkischen Regierung und Militärs gegen die Kurden im eigenen Land wird von der NATO und den einzelnen westlichen Industriestaaten sogar unterstützt. Türkei ist NATO-Land. Daß in China Menschenrechte keinen Pfennig wert sind, hindert keinen Staatsmann daran, Verträge zum wirtschaftlichen Austausch mit China abzuschließen, solange die Rechte der Investoren gewahrt bleiben. Daß in einem Land aus humanitären Gründen interveniert wird, während die Menschenrechtsverletzungen und Völkermorde in einem anderem Land stillschweigend geduldet oder sogar unterstützt werden, sollte jeden selbständig denkenden Menschen dazu veranlassen, der Legitimationsrhetorik der Kriegstreiber zu mißtrauen.

II.

Der deutsche Staat hat den Rubikon der eigenen Schande überschritten und wähnt sich in der Gegenwart angekommen. Der Versuch, mehr Demokratie im eigenen Land zu wagen, gilt als erfolgreich abgeschlossen. Es sind andere Staaten, die eine Lehrstunde für mehr Demokratie bekommen sollen, - und wenn es nicht anders geht, dann wird die Demokratie mit Bomben gelehrt. Dabei wird leicht übersehen, daß die Demokratisierungsprozesse in den westlichen Industriestaaten rückläufig sind und sämtliche Symptome einer schleichenden Militarisierung und Autoritarisierung aufzeigen. Während über die defizitäre Einhaltung der Menschenrechte am Rande und außerhalb Europas sich entrüstet wird, werden die eigenen Defizite verschleiert, aus dem Licht genommen.

Es wird keine Kniefälle vor der eigenen schändlichen Vergangenheit mehr geben. - Rechtzeitig zur Jahrtausendwende will man den bösen Geistern, die einmal gerufen wurden, einen positiven Anstrich verleihen, wenn man sie schon nicht loswerden oder vergessen kann. Die Jahrtausendwende wird noch einmal zusätzlich begünstigen, daß die Verbrechen des Nazi-Deutschlands der Vergangenheit angehören und derjenige als verstaubt erscheint, der den Staub des vergangenen Jahrtausends aufzuwühlen beginnt, obwohl tatsächlich nur ein paar Jahrzehnte vergangen sind.

Die dunkle Vergangenheit Deutschlands wurde positiv gewendet. Kein anderes Land als Deutschland, stehe in der glaubwürdigen Verantwortung, gegen die "Fratzen der Vergangenheit" konsequent vorzugehen. Was einem Walser und anderen nicht gelang, einen Schlußstrich unter Auschwitz zu setzen, scheint nun der Politik zu gelingen: die Geschichte, wenn man sie schon nicht vergessen machen konnte, positiv zu wenden. Geschichte wird annulliert, indem sie über Verschiebungen und Projektionen als überwunden angesehen wird. Gegenwärtig soll diese dunkle Geschichte bei den "neuen Hitlern" der Anderen sein. Indem plötzlich jeder Diktator zu einem "kleinen Hitler" hochstilisiert wird - wobei das Adjektiv klein so unbedeutend klein erscheinen soll, daß es manchmal sogar gleich weggelassen wird und damit der vermeintlich kleine zu einem großen Hitler avanciert - wird Auschwitz in einem ortslosen Raum angesiedelt. Die Verbrechen der Nazis an den Juden werden nicht nur auf eine andere Bevölkerung projiziert und damit quasi ungeschehen gemacht, annulliert, sondern im gleichem Zuge derart verallgemeinert, daß zum einen die Naziverbrechen verharmlost und die gegenwärtigen Verbrechen eines Milsosevic den Stempel eines neuen Zivilisationsbruches aufgedrückt bekommen.

Auschwitz aber ist der Name nicht eines namenlosen Grauens irgendwo oder überall, sondern steht für den bis dato historisch einmaligen, industriellen Massenmord an den europäischen Juden, durchgeführt von deutschen Nazis mit einem Höchstmaß an instrumenteller Vernunft. Der industrielle Massenmord an den europäischen Juden durch Verwaltung war die zivilisierte Barbarei, die einen Einblick verschafft hat in die immanente Irrationalität der okzidentalen Rationalität, in die Dialektik der Aufklärung.

Wann Mißhandlung, Schändung, Vertreibung, Mord und Pogrom die Dimension von Auschwitz erhalten ist keine quantitative, es ist eine qualitative Frage. Industrieller Massenmord durch Verwaltung bedeutet nicht das massenhafte mißhandeln, schänden, vertreiben und morden in einem Staat unter seiner Duldung oder mit seiner unausgesprochenen Legitimation. Das ist zwar bereits grausam genug, aber leider eine ganz gewöhnliche Erscheinungsform von Kriegen und Bürgerkriegen allgemein. Die Vorgeschichte des Verwaltungsmassenmords begann mit der sukzessiven Entrechtung der diskriminierten Minderheiten durch die Rechtsprechung des Staates selbst; sie setzte sich fort mit der Ermittlung der vermeintlichen Rassenminorität durch den willigen Verwaltungsapparat des Staates selbst, mit dem rechtmäßig gemachten Raub des Eigentums der diskriminierten Minderheiten, mit der systematischen Verhaftung und Verschleppung durch Polizei oder paramilitärische Einheiten unterm Gewand der Legalität, und der Verwaltungsmassenmord kam zu sich selbst in der fabrikmäßig und bürokratisch organisierten Massenliquidation in Tötungslagern: dort wurden die entmenschlichten Menschen als dingliche Exemplare mit Registriernummer sachlich kalt getötet, mit der gleichen Anteilnahmslosigkeit, wie man Waren bei Überproduktion entwertet: ohne Emotionen, nicht einmal mit Haß.

Die Vertreibungen und Greueltaten, die im Kosovo stattgefunden haben, grenzen weder an Verwaltungsmassenmord, noch sind sie es selbst gewesen. Was stattgefunden hat, ist deswegen aber keineswegs zu verharmlosen. Es waren einzelne, unsystematische, aber gehäufte Exzesse der Gewalt und des Hasses, durchgeführt von losgelassenen paramilitärischen und militärischen Banden unter staatlicher Duldung: Pogrome. Aber es gibt keinen faschistischen Staat in Jugoslawien; es existieren keine Tötungslager. Das wissen auch diejenigen, die das Gegenteil behauptet haben: sie behandeln Milosevic einerseits als Kriegsverbrecher, den man mit Freiheitsentzug bestrafen möchte, andererseits als ein freies, bürgerliches Subjekt, mit dem man Verträge schließen kann, wenn sie auch zuvor mit Gewalt erzwungen wurden. Im Vertrag anerkennen sich die Vertragspartner gegenseitig als gleichwertige Personen. Und Milosevic wird von den Besatzungsmächten im Amt gelassen; die landeseigene Oppositionsbewegung soll ihn stürzen. Einen wirklichen Hitler sollte man ganz anders behandeln.

Auschwitz ist bisher historisch einmalig geblieben. "Was die Nazis den Juden antaten," heißt es in den Minima Moralia von Adorno, "war unsagbar: die Sprachen hatten kein Wort dafür, denn selbst Massenmord hätte gegenüber dem Planvollen, Systematischen und Totalen noch geklungen wie aus der guten alten Zeit des Degerlocher Hauptlehrers. Und doch mußte ein Ausdruck gefunden werden, wollte man nicht den Opfern, deren es ohnehin zu viele sind, als daß ihre Namen erinnert werden könnten, noch den Fluch des Nicht gedacht soll ihrer werden antun. So hat man im Englischen den Begriff genocide geprägt. Aber durch die Kodifizierung, wie sie in der internationalen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt ist, hat man zugleich, um des Protestes willen, das Unsagbare kommensurabel gemacht. Durch die Erhebung zum Begriff ist die Möglichkeit gleichsam anerkannt: eine Institution, die man verbietet, ablehnt, diskutiert. Eines Tages mögen vorm Forum der United Nations Verhandlungen darüber stattfinden, ob irgendeine neuartige Untat unter die Definition des genocide fällt, ob die Nationen das Recht haben einzuschreiten, von dem sie ohnehin keinen Gebrauch machen wollen, und ob nicht angesichts unvorhergesehener Schwierigkeiten in der Anwendung auf die Praxis der ganze Begriff des genocide aus den Statuten zu entfernen sei. Kurz danach gibt es mittelgroße Schlagzeilen in der Zeitungssprache: Genocidmaßnahmen in Ostturkestan nahezu durchgeführt."[3]

Von Auschwitz als von einer historischen Einmaligkeit zu sprechen, wäre ebenso problematisch wie seine Verallgemeinerung. Die kategorische Behauptung der Inkommensurabilität von Auschwitz, mit allem, was danach kommt, nimmt Auschwitz als einmaliges Ereignis, quasi als historischen Unfall, aus der Geschichte. "Die Einzigartigkeit des Holocaust kann dahingehend enthistorisiert werden," schreibt Moshe Zuckermann in der Züricher Weltwoche, "daß man seine Singularität zur Abwehr jeden Vergleichs benutzt, mithin die Monstrosität aktueller Gewaltverbrechen relativierend entsorgt."[4] Es kommt darauf an, Auschwitz aus der Geschichte heraus zu erklären. Dabei wird man feststellen, daß die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die Auschwitz gezeitigt haben, bis heute nicht aus der Welt geschaffen sind. Etwas Ähnliches könnte sich deshalb durchaus noch einmal wiederholen. Adornos kategorischer Imperativ, alles dafür zu tun, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe, steht nicht zufällig in einer Linie von Kant und Marx. In Adornos kategorischem Imperativ ist aufgehoben, daß der Mensch den Menschen nie allein als bloßes Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck behandeln solle, und daß dies nur in einer Welt geht, in der die objektiven Verhältnisse, die den Menschen zu einem geknechteten, verächtlichen Wesen machen, umgestürzt sind. Dann erst hätte man alles dafür getan, damit Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe. Wer den Kapitalismus nicht kritisieren will, sollte über Auschwitz schweigen.

Die Parolen "Nie wieder Auschwitz" und "Nie wieder Krieg" haben ihren Begründungszusammenhangs verloren. Übriggeblieben sind Phrasen, die gegeneinander ausgespielt und mit neuem Inhalt gefüllt werden können. Das, was Auschwitz ähnlich sein könnte, kann ohne Aufklärung und ihre Dialektik nicht auf den Begriff gebracht werden. Das Wort Auschwitz wird vom Alltagsbewußtsein als Synonym für allgemeinen Völkermord verwandt. Auschwitz als gewöhnlicher Genozid, wie ihn viele Territorialstaaten in ihrer Entstehungsgeschichte aufzuweisen hätten, relativiert. Die herrschenden Politiker haben das getan, ohne zugleich bewußt die Dimension von Auschwitz selbst zu schmälern. Das implizierte, man müsse gegen Milosevic in genau derselben Härte und Konsequenz vorgehen, wie einmal gegen Hitler. Dem Nato-Krieg gegen Jugoslawien und im besonderen den deutschen Truppen wurde gemäß dieser Gleichsetzung die Weihe der antifaschistischen Allianz des Zweiten Weltkrieges zuteil. Die deutschen Tornados bombardierten zwar in Wirklichkeit serbische Einrichtungen, es gibt jedoch noch eine zweite Wahrheit, daß sie die deutsche Wehrmacht von 1941 in Gestalt der serbischen Armee bombardiert haben. Scharping nannte die serbischen Soldaten die SS von Milosevic. Daß aber von Beginn an eine Intervention mit Bodentruppen von diesen deutschen Politikern ausgeschlossen wurde, läßt einen harten Widerspruch in der Legitimationsrhetorik der Kriegsbefürworter gemäß ihrer eigenen Logik erkennen, der Grund zum Zweifeln an der Authentizität ihrer eigenen moralischen Weltauffassung gibt. Jemand der davon überzeugt ist, es wiederhole sich Auschwitz irgendwo in der Welt, der müßte, um glaubwürdig zu sein, zu allem bereit sein, das eine solche Wiederholung adäquat verhindern kann. Gezielte Bombardements auf die Infrastruktur eines Landes, die sich nicht nur das dortige Militär zu eigen macht, sondern ebenso - und das viel grundsätzlicher - der Zivilbevölkerung zum Leben als Voraussetzung gilt, sind kein geeignetes, sondern ein ironisch teuflisches Mittel: ein Teil jener Kraft, die vermeintlich das gute will und das böse schafft. Die Bombardements der NATO haben nicht nur ein Massenelend für die gesamte vor Ort lebende Bevölkerung erzeugt, sondern diese Bombardements haben die serbischen Militärs und Paramilitärs zu noch größerer Grausamkeit angehalten. Die Bombardements haben nicht einen Völkermord verhindert, sondern noch zusätzliches Elend und Leid in die Region gebracht. Seit den ersten Bombenangriffen der NATO waren nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der UNO (UNHCR) über 782.000 Menschen vor den serbischen Einheiten auf der Flucht. Vor den Bombenangriffen war es eine weitaus geringere, jedoch unbekannte Menge. Durch den NATO-Krieg starben 4000 serbische Soldaten; 6000 wurden verletzt. Über die Anzahl der Bombenopfer aus der Zivilbevölkerung macht die NATO keine Angaben. Die jugoslawischen Behörden schätzen die Zahl der durch NATO-Bomben Getöteten auf 1500 und 5000 Verletzte. Ca. 500.000 Arbeitsplätze wurden durch die Bombardierung von Fabriken etc. in Serbien vernichtet.

III.

Staatliche Herrschaft beruht auf Anerkennung der Beherrschten. Verringert sich die Anerkennung, wird der Herrschaft ihre Grundlage entzogen; die Herrschenden müßten, um ihre Herrschaft zu erhalten, Bajonette aufpflanzen - mit denen man bekanntlich alles machen kann, nur nicht auf ihnen sitzen (Lafayette). Aus diesem Grund gibt es einen Kampf um das Bewußtsein. Es liegt nicht in der Macht der Herrschaft, das Bewußtsein allein zu produzieren. Das gesellschaftliche Sein geht nicht im Staat auf. Das gesellschaftliche Sein ist kein widerspruchsfreies, in sich identisches Gefüge. Die konkrete Totalität des gesellschaftlichen Seins ist nicht totalitär, sondern ein Zusammenhang von Produktion und nicht-identischer, erweiterter Reproduktion, ein Spannungsfeld gesellschaftlicher Akteure, Klassen, die ihre sozialen Konflikte und Kämpfe gegen- und miteinander austragen, durch die gesellschaftliche Widersprüche wahrnehmbar werden.

Es liegt allerdings durchaus in der Macht der Herrschenden durch ihre Hegemonie in der Öffentlichkeit, das Bewußtwerden der gesellschaftlichen Widersprüche zu behindern, in dem die Widersprüche kulturindustriell verschleiert werden. Dem Alltagsbewußtsein erscheint das Bestehende als unveränderliche Natur; es geht der normativen Kraft des Faktischen, das durch Gesetz und Recht gesetzt ist, fast vollständig auf den Leim selbst dann noch, wenn die Herrschenden ihre eigenen Gesetze spontan übertreten haben und neues Recht durch ihr Handeln etablieren und vermittels ihrer Rhetorik legitimieren.

Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien war für das westliche Europa vor allem ein Medienereignis. Der Flut der medialen Bilder, die aus der Wirklichkeit als Collage zusammengestellt wurden, haben keinen Zusammenhang hergestellt. Sie blieben abstrakt: vom Gesamtzusammenhang isoliert. Deshalb haben sie keine Wahrheit über die Verhältnisse vor Ort vermittelt. Sie haben statt dessen etwas vermittelt, das dem moralischen Bewußtsein Stoff zur bloßen Entrüstung, aber keinen Anreiz zur darüber hinausgehenden Reflexion bot. Die moralische Entrüstung aber war gewollt. Darüber erfuhr der Kriegseinsatz der NATO seine Anerkennung in der Bevölkerung. Denn "was kann schon moralischer sein als 'Nie wieder Auschwitz'?, stellt Zuckermann fest. "Das ist ideologisch im übelsten Sinne des Wortes: die Rationalisierung eigener Mitschuld am Verbrechen durch 'moralische' Verklärung, die Vertugendung eigenen Versagens. Ob sich Auschwitz dafür eignet, werden sich Fischer und seine Kollegen früher oder später Rechenschaft ablegen müssen."[5] Was wir erleben ist eine Politik der moralisierenden Moral. Das bloße moralische Gewissen, das sich nur auf sich bezieht und aus sich heraus einen Standpunkt gewinnt, ist bei Hegel eigensinniger Eigendünkel, der in sich inkonsistent und stets auf dem Sprung ist, ins Böse umzuschlagen. Es macht nämlich täglich die Alltagserfahrung, daß es in dieser Welt nur mit einem unmoralischen Verhalten zu seinem eigenen Vorteil leben kann und ist derart bestürzt darüber, so daß es sich selbst enthemmt: demoralisiert. Dieses hin und her geworfene unglückliche Bewußtsein hat sich aufgrund seiner privatistischen Sicht auf die Welt in ein Dilemma hineinmanövriert. Und tatsächlich ist in den letzten Wochen das Wort Dilemma auch zum Modewort unter den gewandelten grünen Pazifisten geworden. Man befindet sich in einem Dilemma, so wie man manchmal Migräne hat und deshalb nicht ansprechbar ist. "Ich bin natürlich zunehmend verzweifelt, antwortet Angelika Beer - militärpolitische Sprecherin der Grünen - in einem Interview vom 20. April, "aber ich habe keine Zweifel. Ich weiß keinen anderen Weg."[6] Das Dilemma erfüllt die Funktion des Kitts zwischen der Kluft der eigenen moralischen Gesinnung und der häßlichen Wirklichkeit. Aber keineswegs führt die Erfahrung eines solchen Dilemmas in die Passivität oder Handlungsunfähigkeit, sondern diente in diesen Tagen zur Rechtfertigung dessen, was das moralische Bewußtsein eigentlich nicht rechtfertigen kann: zum Abbau der eigenen moralischen Skrupel. Ein Dilemma muß man aushalten, und wer es aushält, ist angehalten, sich um 180 Grad zu drehen. Das Dilemma erfüllt die Funktion der rhetorischen Wendung hin zum Konvertiten; es ist die Geisteskrankheit der "neuen Mitte". Die Politik bewegt sich gegenwärtig auf diesem Niveau: es ist die Politik des gesunden Menschenverstandes.

Gegen eine Politik der Moral muß sich die Kritik richten. Aufklärung bedeutet hier, Zusammenhang zwischen der fragmentierten, gesellschaftlichen Totalität herzustellen, die Widersprüche aufzuzeigen und - mit Adorno gesprochen - zu verhindern, sich von den herrschenden Verhältnissen dumm machen zu lassen.

Die Menschenrechte als Bedingung allen Handelns einzuklagen, ist verlogen. Es werden die Menschenrechte angemahnt, aber der Mechanismus, der die Wiederkehr der unmittelbaren Barbarei und auch der zivilisierten aus dem Zentrum dieser Gesellschaft heraus stets möglich macht, dieser Mechanismus ist der Zweck und Motor für die Menschenrechte. Die Alternative zur Barbarei ist nicht der Kapitalismus, der immer schon auf halben Wege zu ihr ist. Die wirkliche Alternative lautet: Sozialismus oder Barbarei.

Dem Wesen nach verbirgt sich hinter der Idee der Menschenrechte historisch die Moral der Ökonomie. Die "Kritik der politischen Ökonomie" von Marx zeigt auf, wie die Menschen nach der ökonomischen Rationalität des Äquivalententauschs sich gegenseitig als Personen anerkennen. Damit die Waren aufeinander bezogen werden können, müssen diese von den Warenbesitzern auf den Markt getragen werden. Es bedarf des gemeinsamen, gewaltfreien Willensaktes, die Waren aufeinander zu beziehen. Die Personen erkennen sich gegenseitig im Tausch als Personen, als Privateigentümer an. Die Form dessen ist der bürgerliche Vertrag, in dessen gemeinsamen Willensverhältnis sich das scheinbar gewaltlose, d.i. das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. So setzte sich mit dem Wertgesetz unter der Prämisse des Privateigentums allgemein das Menschenrecht durch: die Welt der gegenseitigen Anerkennung von Herren und Knechten, in der sich die unmittelbaren Herr-Knechtschaftsverhältnisse in vermittelte transformierten. Dieses scheinbar gewaltfreie ökonomisch-rationale Verhältnis ist das versachlichte Resultat des vorangegangenen, gewalttätigen Kampfes um Anerkennung auf Leben und Tod. Diese Geschichte haben sämtliche westlichen Territorialstaaten durchgemacht. Viel ungerechtes Blut ist dabei geflossen. Man kann sagen, die Menschenrechte sind mit Blut und Feuer in die Annalen der Geschichtsbücher eingegangen. Das kapitalistische Wertgesetz setzte sich maskiert unter dem Schleier der Menschenrechte durch und steht als letzter Grund auch heute noch hinter jeder bürgerlichen Apologie der Menschenrechte. Was in Europa als ethische Wertegemeinschaft bezeichnet wird, verdient eher als Mehrwertgemeinschaft bezeichnet zu werden. In der heutigen Zeit wird mit Gewalt das Menschenrecht dort zu erzwingen versucht, wo das Wertgesetz sich noch nicht vollständig hat durchsetzen können. Das Kapital benötigt Gewaltfreiheit auf der Oberfläche, die durch ein staatliches Gewaltmonopol gewährleistet wird, abstrakte Rechtsgleichheit, Vertragssicherheit, ökonomische Freiheit. - Das sind die basalen Knochen des Skeletts der Menschenrechte.

Was wir Frieden nennen, ist nicht einmal die Abwesenheit von Krieg, sondern nichts anderes als der mehr oder minder versteckte, ökonomische Bürgerkrieg der Konkurrenz aller gegen alle. Dieser ökonomische Krieg ist die Normalform bürgerlicher Gewalt. Solcher Frieden ist schon nicht das wahre Eden der Menschenrechte, wie es der Schein von Gewaltlosigkeit in der Zirkulationssphäre glauben machen möchte. Natürlich ist ein solcher Zustand allemal einem vorzuziehen, wo es nur das Faustrecht des Stärkeren gibt, und der Mensch dem Menschen ein Wolf sein muß, um zu überleben. Der wahre Frieden, die wahre Gemeinschaft, in dem die Menschenrechte zu sich selbst gekommen sind, ist aber erst die befreite Gesellschaft, in der die kapitalistische Produktionsweise, die Produktionsverhältnisse, der Klassenantagonismus von Lohnarbeit und Kapital aufgehoben sind und die Menschen nicht mehr als leere, dingliche Warenhüter gelten, sondern das gesellschaftliche Leben auf ihre individuellen Bedürfnisse und Begehren abgestimmt ist; wo jeder so sein kann, wie er ist, ohne dem Terror des Allgemeinen ausgesetzt zu sein; wo jeder ungezwungen anders sein darf, ohne Haß zu provozieren. Eine solche Gemeinschaft käme auch ohne die allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus.

Anmerkungen

[1] Überarbeitete Fassung des Eröffnungsvortrages "Politik der Moral - Zur Legitimationsrhetorik der Kriegsbefürworter" gehalten zur Eröffnung des studentischen Kongresses "Die neue Weltordnung - Frieden und Krieg" vom 9. - 11. Juli 1999 an der Universität Hannover.

[2] Dan Diner: "Ein Schlüsselereignis - Die atlantische Gegenwartskultur setzt auf dem Balkan ein unübersehbares Signal", In: Die Zeit, Nr. 24, 10. 06. 1999, S. 45 f.

[3] Adorno: Minima Moralia, GW Bd. 4, Anhang, Aph. II.

[4] Moshe Zuckermann: "Die Vertugendung eigenen Versagens", in: Züricher Weltwoche, 29.04.1999.

[5] Zuckermann, a.a.O.

[6] Angelika Beer, zit.n. konkret, Nr. 6, 1999, S. 12.

Zur normalen Fassung

https://sopos.org/aufsaetze/39cb77508a52c/1.html