Mit der Auflösung des Realsozialismus sind Transformationsprozesse in Gang gekommen, die von weltgeschichtlicher Bedeutung sind. Die Rede ist von der alternativlosen one world des Kapitalismus. Nicht nur der Realsozialismus wird mit seiner Auflösung geschichtlich annulliert, sondern mit ihm wird auch die russische Oktoberrevolution von 1917 in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung zurückgenommen - damit aber auch die Utopie einer gegenüber dem Kapitalismus besseren, einer befreiten Gesellschaft ins utopistische Niemandsland unrealistischer Träumereien verbannt. Nicht zuletzt geht es um das viel diskutierte Ende der Geschichte, das im Kapitalismus als der besten aller möglichen Welten erreicht sei. Der Kommunismus gilt als besiegt, wobei bis heute nicht ausreichend geklärt ist, woran der Realsozialismus in Gestalt der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks eigentlich zugrunde gegangen ist. Der völlig überraschte Sieger gibt sich euphorisch und preist sein als Neoliberalismus kursierendes Erfolgsrezept nunmehr auf der ganzen Welt an, die nach den politisch-ökonomischen Bedingungen des fortgeschrittenen Spätkapitalismus modernisiert werden soll. Was sein soll, wird aus Machtkonstellationen einer zu Bewußtsein gekommenen und wieder universal verlaufenden Universalgeschichte: des ökonomischen Krieges aller gegen alle abgeleitet. Die sogenannten Verlierer des Kalten Krieges sind nunmehr nach der über ein halbes Jahrhundert andauernden bipolaren Systemkonfrontation einem ungeheuren Assimilationsdruck ausgesetzt. Die Zauberformeln, vermöge derer die östlichen Aspiranten den Geist der westlichen Moderne rufen sollen, werden mit Markt und Demokratie benannt.
Es ist eine nachholende Modernisierung. Nachgeholt wird die Kapitalisierung der seit der Oktoberrevolution von der Universalgeschichte weitgehend isolierten Gesellschaften des Realsozialismus.[1] Zu Beginn des 21. Jahrhunderts finden sich diejenigen Länder, bei denen einmal zur Oktoberrevolution der Weltgeist in weltgeschichtlicher Absicht zu Hause zu sein schien, zurückgesetzt ins zweite und dritte Glied einer Hierarchie der globalen Modernisierung, die vor den geschichtlichen Errungenschaften der russischen Revolution von 1917 keine Notiz mehr nimmt und die Idee einer internationalistischen und befriedeten Weltgemeinschaft, in der der Widerspruch von Kapital und Arbeit aufgehoben ist, auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen hat. Einerseits sind diese Länder des ehemaligen Realsozialismus mit dem Stigma des bereits gescheiterten Versuches einer nachholenden Modernisierung, die unter den Vorzeichen eines autoritären Staatsprotektionismus abgelaufen ist, versehen; andererseits wird ihnen vorgegaukelt, daß sie mit Hilfe einer neoliberalen Umgestaltung ihrer Gesellschaften nun endlich die Modernisierung nachholen könnten, um chancengleich am Weltmarkt teilnehmen zu können.
Ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich in diesen Ländern die ökonomischen und politischen Verhältnisse aber eher noch dramatisiert. Vom Osten her sucht sich ein ethnisierender (Sub)-Nationalismus seine Bahn als Begleiterscheinung der nur scheinbar selbstreferentiellen Auflösung des Realsozialismus. Die Länder des Realsozialismus sind während der Auflösung der Sowjetunion in vielerlei Hinsicht ökonomisch und politisch kollabiert. Sie sind nicht einfach von nationalen Reformbewegungen übernommen worden, nachdem die kommunistische Sowjetideologie keinen Zusammenhalt mehr gewährleisten konnte; vielmehr spielte die nationale Frage in der Sowjetunion bereits von Anbeginn eine entscheidende Rolle bezüglich des Zusammenhaltes und später für den Zerfall ihres gigantischen Territoriums. Es wird noch zu verdeutlichen sein, daß die eigentümliche und widerspruchsvolle Nationalitätenpolitik der Sowjetunion den Nationalismus im Realsozialismus konserviert hat. Das spielt für ihren Zusammenbruch und die darauffolgende ethnisierende Auflösung des Realsozialismus keine unbedeutende Rolle.
Während der Auflösung benutzten die einzelnen Sowjetrepubliken die nationalistische Karte als Ticket, um sich von den festgefahrenen und verdinglichten kommunistisch-bürokratischen Strukturen der Moskauer Machtclique, die den Reformprozeß blockierte, loszusagen, während Gorbatschow vergebens in dieser Endphase der Sowjetunion die Legitimationskrise durch Glasnost und Perestroika abzuwenden versuchte. Es erscheint alles andere als abwegig, auch im Realsozialismus verdinglichende Mechanismen zu konstatieren. Am augenfälligsten sind diesbezüglich der bürokratische Verwaltungsapparat und die autoritäre Einparteienherrschaft, die in der kalten Atmosphäre des Verdachts den Einzelnen als bloßes Objekt der Überwachung mißtrauisch beäugten und das gesellschaftliche Leben verstaatlichten. Außerdem auch die heroische Verherrlichung und Fetischisierung der Arbeit, die nicht weniger als die kapitalistischen Produktionsverhältnisse aus dem Einzelnen ein bloßes Instrument zur Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums gemacht haben; es scheint für die Verdinglichung ganz egal zu sein, ob der produzierte gesellschaftliche Reichtum in private oder in volksstaatliche Hände abgezweigt wird. Eine nationalistische Revolte gegen die realsozialistische Verdinglichung der Gesellschaft kam aber solange nicht in Frage, wie sich die Sowjetunion in keiner ernsten Legitimationskrise befand. Die Nationalitätenpolitik der sowjetischen Einparteienherrschaft mag ein gewichtiger Grund für die mehrere Jahrzehnte währende Standfestigkeit der Sowjetunion gewesen sein. Nach einer genauen Arithmetik erfolgte die Besetzung der Machtstrukturen mit Personen aus allen Republiken nach dem Prinzip: divide et impera.
Nachdem die Sowjetunion zerfallen war, traf der Assimilationsdruck der Modernisierung direkt auf die selbständig gewordenen Republiken. Die historisch konservierten Traditionen des Nationalismus stellen nunmehr den Baukasten für die weitere ethnisierende Auflösung. Aus diesem Baukasten holen sich die neuen Ethnien und Nationen den am Leben erhaltenen historischen Urstoff für ihre Erfindung und konstruieren aus der Geschichte der Unterdrückung ihre Ursprungsmythen. - Das sich integrierende westliche Europa schaut zu, besorgt um die politische und ökonomische Stabilität ihrer protektorierten Räume.
Aber gerade die aus dem Westen stammenden neoliberalen Erfolgsrezepte scheinen für die katastrophale Entwicklung hin zu ethnisch motivierter Parzellierung und Nationalismus in Osteuropa und Zentralasien im Sinne einer Ethnisierung sozialer und ökonomischer Konflikte mit verantwortlich zu sein. Die katastrophalen Gesellschaften des ehemaligen Realsozialismus verstricken sich in jenem ungleichen Wettrennen gegen den ökonomisch weit überlegenen Westen, in ein Rückzugsgefecht einer machtpolitischen Position der bloßen Selbstbehauptung: in ein rastloses Handgemenge der Selbsterhaltung, deren Ausdrücke je nach vorangeschrittener Situation völkisches Nationalbewußtsein, Bürgerkrieg oder ethnisch motivierter Genozid sind - die entfesselten Furien des Verschwindens.[2]
Das Theorem von der verspäteten Nation,[3] das den völkischen Nationalismus im Nazideutschland zu erklären versuchte, berief sich auf den marginalen Einfluß der Aufklärung auf die politischen Prozesse in den deutschen Ländern. Politischer Liberalismus und demokratischer Rationalismus, wie sie aus der englisch-schottischen und der französischen Aufklärung hervorgegangen waren bzw. aus den ökonomischen Prozessen abgeleitet wurden, seien der deutschen Kultur fremd geblieben, weshalb ein völkischer Nationalismus als Kompensation an deren Leerstellen getreten sei: völkischer Nationalismus als Rechtfertigungsquelle der Existenz bei fehlender oder wenig ausgebildeter Staatsidee. - Es scheint, als ließe sich aus dem Theorem von der verspäteten Nation etwas Allgemeines ableiten, das in den Transformationsprozessen der Gesellschaften des aufgelösten Realsozialismus ebenso anzutreffen ist. Das gesellschaftliche Laboratorium, in welches sich der Realsozialismus durch den Eisernen Vorhang begeben hatte, erfüllte die Funktion, einer beschleunigten Beseitigung vorkapitalistischer Hemmnisse; aber es ließen "sich in ihm nicht die kulturellen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft erzeugen, die Marx zur unabdingbaren Voraussetzung einer sozialistischen Gesellschaft zählte und die Lenin am Ende seines Lebens so dringend herbeisehnte. Dieser Mangel an bürgerlicher Zivilisation führte zu einer Verstaatlichung der Gesellschaft, die jede spontane Regung zu ersticken droht."[4]
Nachdem der Eiserne Vorhang gefallen ist, wird der noch immer bestehende Mangel an bürgerlicher Zivilisation erneut zu einem Problem nachholender Modernisierung. Der politische Liberalismus und der demokratische Rationalismus (rationale Rechtsidee), welche sich als Substanz des bürgerlichen Staates bezeichnen lassen und sich zuerst in England und Frankreich herausgebildet hatten, waren Resultat eines ökonomischen und politischen Transformationsprozesses tief in das Gesellschaftsgefüge verwurzelter Traditionen. In Osteuropa haben diese Prozesse keinen besonders großen und in Zentralasien nur einen geringen Einfluß auf die Verhältnisse ausgeübt. Politische Bewegungen, die auf dem Gebiet der zeitlich darauffolgenden Sowjetunion zumindest kurzfristig zu national-bürgerlichen Regierungen geführt haben, sind zumeist von keiner besonders einflußreichen Wirkmacht gewesen, da sie nur wenige Monate etwa in der Ukraine, Weißrußland, Bessarabien, Georgien, Tschetschenien usw. existierten und im Zuge der russischen Oktoberrevolution und der Durchsetzung der Bolschewiki gegenüber den Menschiwiki von der roten Armee erfolgreich bekämpft wurden. In den Jahren 1920 bis 1923 kam es schließlich zu der Einrichtung 17 autonomer Regionen und Republiken innerhalb des erschaffenen politischen Territoriums der RSFSR. Die national-bürgerlichen Bewegungen waren besiegt, ihre noch zarten Strukturen durch bolschewistische aufgehoben. Nach der Oktoberrevolution von 1917 und während der folgenden Ostblockformation waren die Gesellschaften, die innerhalb der Einflußsphäre der Sowjetunion existierten, d.h. der Regie einer autoritären Parteienherrschaft unterlagen, in ihrer universalgeschichtlichen Modernisierung insofern aufgehalten, als sie in dieser verstaatlichten Gesellschaftsformation den Anschluß an die liberalen Ideen der Aufklärung nicht finden konnten, während sie dem Schein nach geschichtlich über sie hinaus waren. Aber die russische Gesellschaft ist 1917 für eine sozialistische Formation nicht bereit gewesen, eben deshalb, weil ihre bürgerlichen Strukturen bis zu diesem Zeitpunkt nicht ausreichend entfaltet gewesen waren.
An die Macht gekommen sind die Kommunisten deshalb auch nicht wegen ihrer kommunistischen Ziele, die in der russischen Bevölkerung auf breite Zustimmung gestoßen wären. Die Parolen, unter denen die Menschen in Rußland zum Ende des Ersten Weltkrieges zu einer Revolution bereit gewesen waren, hießen Brot, Land und Frieden. - Parolen, die nicht explizit sozialistisch oder kommunistisch waren und von den unterschiedlichsten politische Bewegung auf ihre Fahnen hätten geschrieben werden können. Der Erste Weltkrieg spielt denn auch eine wichtige Rolle als Mitauslöser der Oktoberrevolution: seine Brutalität und Gewalt waren quasi die Geburtshelfer einer neuen Welt, mit der die alte schwanger ging und eine mißliche Frühgeburt zustande brachte. Die Kommunisten ließen die nationale Frage nicht unbeantwortet und fanden eine die Massen geschickter mobilisierende Antwort als die bürgerlich-nationalen Bewegungen zur selben Zeit. Man kann sich deshalb des Eindruckes nicht verwehren, daß die Kommunisten gar nicht daran interessiert waren, Nation und Nationalismus als Übergangsphänomene zu behandeln. Es gab denn auch kein Land, in dem die Kommunisten in der nationalen Frage nicht mit bürgerlich-nationalen Gruppen um die Macht konkurrierten. Nirgends konnten die Kommunisten die Macht ergreifen, ohne auf die nationalistische Karte zu setzen. Was aber einmal zur Macht verholfen hatte, konnte im Fortgang nicht mehr außer acht gelassen werden. Die Realkommunisten fanden eine strategische Lösung, in der das Setzen auf die nationalistische Karte zu einem integralen Bestandteil ihres Kalküls nicht nur zur Machtergreifung, sondern auch zum Zwecke des Machterhaltes wurde. Sie verhielten sich bezüglich der nationalen Frage aber weder konsequent noch widerspruchsfrei.
Es lassen sich während der Sowjetunion verschiedene Phasen der Nationalitätenpolitik bestimmen, die sich zueinander widersprüchlich verhalten und diese Inkonsequenz verdeutlichen: Während in den Zwanziger Jahren nationale Kulturen von der bolschewistischen Parteienherrschaft gefördert wurden (Korenisazija), ging man ab Mitte der Dreißiger dazu über, den Sowjetpatriotismus der ewigen Völkerfreundschaft zu ideologisieren. Stalin veranlaßte gleichzeitig mit seinen Säuberungswellen die Verfolgung der nationalen Eliten. Anfang der Vierziger Jahre wurden die Bevölkerungen der nicht-russischen Sowjetrepubliken im Rahmen der Russifizierungspolitik von Deportationen erfaßt. Der Sowjetpatriotismus, der im Großen Vaterländischen Krieg gegen den Hitlerfaschismus, seinen vorläufigen Höhepunkt fand, transformierte sich in einen offenen russischen Chauvinismus. Nach Stalins Tod wurde die nationale Frage instrumentalisiert für ein taktisches Kalkül des Kandidatenkarusells zur Besetzung der höchsten Ämter. Berija kehrte wiederum aus taktischen Gründen zur Förderung nationaler Kulturen zurück. Nach dessen Ausschaltung durch Chruschtschow wurde schließlich die Rehabilitierung der deportierten Nationalitäten veranlaßt und der Begriff des Sowjetvolkes (sowetskij narod) geprägt, worunter man eine Menschengemeinschaft aus verschiedenen Nationen mit einheitlichen Wesenszügen verstand. Unter Breschnew und Andropow wurden diese angegebenen Gemeinsamkeiten des Sowjetvolkes kontinuierlich verherrlicht.[5]
In Windeseile soll heute - allerdings unter anderen Vorzeichen - der Mangel an bürgerlicher Zivilisation nachgeholt werden, diesmal aber nicht unter den Bedingungen eines gesellschaftlichen Laboratoriums, sondern inmitten der universalgeschichtlichen Globalisierung.[6] Die Einrichtung wirtschaftsliberaler Staaten mit parlamentarisch-demokratischen Verfassungen gleicht denn auch eher einer flüchtigen Umkleideprozedur und Maskerade. Politischer Liberalismus und demokratischer Rationalismus bedurften für ihre Entstehung in Europa vieler Voraussetzungen, die bisher nur bedingt im Osten gegeben sind. Der Kapitalismus findet seinen Ursprung in Europa. In demselben Kontext haben sich auch Nation und Staat, schließlich auch der territoriale Nationalstaat herausgebildet, während der Kapitalismus auf die ganze Welt übergriff und die jeweiligen Verhältnisse zu modernisieren begann. Die vorgeschichtlichen Voraussetzungen hierfür waren die in der Renaissance und Reformation, in der rationalen Naturrechtslehre und Naturwissenschaft vorangetriebene Loslösung der weltlichen Herrschaft von der Vorherrschaft der Kirche: die Säkularisierung und das Hervortreten des bürgerlichen Individuums aus den sich auflösenden religiösen, mittelalterlichen Bindungen - verursacht durch ursprüngliche Enteignung und Umwälzung der Produktionsverhältnisse. In der Französischen Revolution von 1789 befreite sich das Bürgertum endgültig auch politisch vom Feudalismus. Die bürgerliche Gesellschaft und ihr selbstbewußtes Bürgertum übernahmen die Herrschaft in Form von Nationalstaat und Parlamentarismus. Dieser Formwandel der Herrschaft gelang durch die revolutionäre Ablösung der feudalen Epoche, in der die Menschen von absolutistischer Monarchie und Kirche, von Mächtigen Gottes Gnaden beherrscht waren. Der Nationalstaat erfüllte zwei wichtige Funktionen für das Bürgertum: zum einen sollte er die territorial abgegrenzten, wirtschaftsliberalen bürgerlichen Gesellschaften gegeneinander schützen, wenn auch gerade durch diese Problematik handfeste Kriege einer neuen Qualität in die Welt gekommen sind. Außerdem bediente er das Bedürfnis der aus den traditionalen Bindungen des Feudalismus entlassenen Einzelnen nach Zugehörigkeit und Geborgenheit: nach einer allgemeinen Identität. Während der Kapitalisierungsprozeß die Einzelnen zunehmend vereinzelte, entfremdete und abstrakte, anonyme Bindungen hinterließ, konnten diese durch ein Nationalbewußtsein kompensiert und wieder konkretisiert werden. Am Ende des 20. Jahrhunderts scheint allerdings der Nationalstaat in Europa überholt zu sein. Seine Funktionen werden durch größere politische Einheiten ersetzt, die dem vorangeschrittenem Stadium des Spätkapitalismus weltweit besser gerecht werden.
Wirkliche Substanz haben die kapitalistischen Transformationsprozesse in den Gebieten des ehemaligen Realsozialismus deshalb nicht, weil die Modernisierungsformeln, die Begriffe für Nationalstaat und Liberalismus in ökonomischer und politischer Hinsicht aus ihrem zunächst europäischen Zusammenhang dekontextualisiert wurden: die Wirklichkeit europäischer Modernisierung, verklärt zum Ideal oder zum universalen Gesetz, das nun als europäisches oder maskiert als universales Modell der globalen Modernisierung auf den, wenn auch steinigen, aber vermeintlich einzig gangbaren Weg weist, ohne die spezifischen historischen und gegenwärtigen Dispositionen der einzelnen Gesellschaften, die sich modernisieren sollen: ihren Mangel an bürgerlicher Zivilisation zu berücksichtigen. Gesellschaften können nicht einfach mit neuen Kleidern versehen werden, in die sie erst noch hineinwachsen müßten; sie gehören in allem, was sie sind und wie sie erscheinen, der Geschichte an, die tief bis in das gesellschaftliche Getriebe hinein lebendig ist und jede gegenwärtige Entwicklung entscheidend beeinflußt. Wenn das Neue nicht mit dem Alten dialektisch verbunden ist, mithin aus ihm selbst hervorgeht, ist die Verbindung künstlich und provoziert die unbewußte Revolte des Alten. Dies verweist auf ein der Universalgeschichte des Wertgesetzes inhärentes Problem: sie ist zu gewalttätig, als daß man sie den liberalistischen Vorstellungen gemäß einfach nur machen lassen sollte.
Die osteuropäischen und zentralasiatischen Länder haben eine eigene, zum westlichen Europa ungleiche Geschichte; sie weisen ihre spezifischen Dispositionen in Religion und Kultur auf, die eine übernahme der auf den Westen zugeschnittenen neoliberalen Konzepte einer zu Bewußtsein gekommenen Universalgeschichte zumindest erschweren, und nur unter Hinnahme gesellschaftlicher Katastrophen abzulaufen scheinen. Die neoliberalen Apologeten sind allerdings der Auffassung, das sei notwendige Hinnahme, weil es sich schließlich um den einzig gangbaren Weg handle; ggf. suchen sie nach Möglichkeiten, diesen Transformationsprozeß weniger katastrophal ablaufen zu lassen; sie sehen in den gesellschaftlichen Flächenbränden ein, die Modernisierung störendes und von außen herangetretenes Moment, das sich mit Hilfe von Gewalt und Monopolisierung der Gewalt von außen lösen lasse. Das dialektische Verhältnis zwischen den Katastrophen und den Modernisierungsprozessen bleibt aber ungesehen. Unreflektiert bleibt das Destruktionspotential, welches gerade durch die universalen, also raum- und zeitlos verstandenen Zauberformeln der Moderne: Markt und Demokratie freigesetzt werden. Das Destruktionspotential kommt nicht von außen als die Modernisierung störendes Moment hinzu, sondern entspringt direkt demselben Prozeß der Modernisierung. Das eine ist scheinbar nicht ohne das andere zu haben.
Die kapitalistischen Transformationsprozesse führen eine Mélange aus Tradition und Moderne herbei, die in Osteuropa und in den ehemaligen Sowjetrepubliken historisch eigenwillig und ohne wirkliche Substanz ist: eine inkonsistente Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft, in der sich die Menschen für eine aus beiden projizierte Unmittelbarkeit entscheiden, indem sie sich die Traditionen erfinden, um von einer vermeintlich besseren Zukunft träumen zu können. Sie scheinen mit der rasanten Schnelligkeit, mit der ihre Verhältnisse in der Gegenwart einer grundsätzlichen Veränderungen ausgesetzt sind, nicht zurechtzukommen. Alles gesellschaftliche Leben erfordert Anpassung der Einzelnen an die Verhältnisse. Die Gegenwart ist deshalb verhaßt, weil sie so, wie sie erscheint, den Menschen keine Zukunft läßt und die Einzelnen in ihrer Anpassung überfordert. In der ambivalenten Gewißheit, die Notbremse gezogen zu haben und sich gegen die gegenwärtigen Entwicklungsschübe der Modernisierung zu immunisieren, indem die gesellschaftlichen Verhältnisse derart phantasiert werden, daß eine individuelle Anpassung gar nicht mehr erforderlich zu sein scheint, werden die betroffenen Gesellschaften durch ihre ethnisierende Identitätspolitik, die eine Praxis des gegenseitigen und nicht selten äußerst aggressiv auftretenden Ausschlusses ist, in einen im Kontrast zur Integrationsideologie der Globalisierung anachronistisch erscheinenden, desintegrierenden Zustand von Stammeskriegen zurückgeworfen. Die Gesellschaften, auf die diese Katastrophen hereinbrechen, zerfallen in einzelne rivalisierende Gruppen größerer Einheiten, die - kleiner als die Nation und größer als die Familie - sich als Ethnien neu erfinden und ihr Recht auf Selbstbestimmung auf dem abgesteckten Territorium, der kleiner als der Nationalstaat und größer als der familiäre Vorgarten ist, erkämpfen wollen mit dem Ziel, eine eigene politisch anerkannte, allgemeine Herrschaftsinstanz zu bilden, was nichts anderes heißt, als von dem Status der rebellierenden Ethnie zur allgemein anerkannten Nation überzugehen und auf dem erkämpften Territorium einen neuen Nationalstaat zu konstituieren, der auf seinem angeeigneten Territorium zum Zwecke des Herrschaftserhaltes gegen jede weitere ethnisierende Auflösung das Prinzip der Identität und Homogenität auch mit Gewalt verficht.
Die realen Fiktionen Ethnie und Nation scheinen für die Gebiete des ehemaligen Realsozialismus nicht unabhängig voneinander diskutiert werden zu können. Sie sind in ihrer politischen Dimension miteinander - wie der Sohn zum Vater - sehr verwandt, weswegen auch von ethnisierendem Nationalismus die Rede ist. Vielleicht beruht ihre Unterscheidung oftmals nur auf Willkür, zumindest aber auf der Definitionsmacht derjenigen Instanz, die auf dem betroffenen Territorium über den Herrschaftsapparat verfügt, mithin als Staat etabliert ist. Bei der Ethnie muß jedoch zum Zwecke ihrer Erfindung und in Abgrenzung zur Nation historisch viel weiter zurückgegriffen werden, um sie durch einen Ursprungsmythos zu legitimieren, weil sie in der Gegenwart mit der bereits historisch verwurzelten und etablierten Nation konfrontiert wird, von der sie sich abzugrenzen versucht. - Die Ethnie ist innerhalb des ihr übergeordneten Rahmens, der durch den Nationalstaat repräsentiert wird und innerhalb dessen sie aufbegehrt, die ihrer selbst bewußt gewordene Nicht-Identität in der vom Nationalstaat legitimierten Identität. Das Programm einer sich selbst bewußt gewordenen Nicht-Identität ist die Herstellung der Identität mit sich,[7] also eine Abkehr von der allgemeinen Totalität, um ihre eigene homogene Totalität zu verwirklichen. Ethnisierung entspricht in der Moderne der Logik des (nationalen) Zerfalls.
In den Ethnien scheinen die Menschen die Überschaubarkeit von Gemeindestrukturen der Vergangenheit gegen die anonyme Unübersichtlichkeit der Moderne wiederherzustellen. Diese Logik aber, nach der dieser Prozeß abläuft, könnte, wenn sie nicht vorher abbricht oder abgebrochen wird, ihren Höhepunkt in zunehmender staatlicher Autoritarisierung und im Genozid ethnischer Säuberungen finden, weil der Nationalstaat, auf dessen Territorium sich dieses Trauerspiel ereignet, in der Regel es nicht zuläßt, daß sein Gewaltmonopol in Frage gestellt wird. In den meisten Fällen aber ist das Gewaltmonopol schon längst in Frage gestellt und die Gesellschaft der willkürlichen Gewalt regional rivalisierender Cliquen schutzlos ausgeliefert.
Die Globalisierung überträgt die entfremdeten, abstrakten Verhältnisse der spätkapitalistischen Moderne auf die ganze Welt und provoziert Angst und Irrationalismus bei den Bevölkerungen des zusammengebrochenen Realsozialismus, die sich seit der russischen Revolution in historisch spezifischen Bindungen befunden haben. Der ethnisierende Nationalismus und die massive Wiederkehr der Religion sind Ausdrücke des kollektiv und unbewußt ablaufenden Versuchs, die sich auflösenden traditionellen Bindungen durch Surrogate zu ersetzen. Der Sache nach geht es um eine ethnisierende Revolte gegen die in der Modernisierung gespeicherte Gewalt, die den Einzelnen ihre Anerkennung ermöglicht und zugleich annulliert. Während der Kampf um Anerkennung in der politisch-ökonomischen Sphäre ausgefochten wird, verschiebt sich in der Revolte gegen die Annullierung der Anerkennung die Kampfstätte in die Sphäre der realen Fiktionen.
Die "Kritik der politischen Ökonomie" von Marx zeigt auf, wie die Menschen nach der ökonomischen Rationalität des Äquivalententauschs sich gegenseitig als Personen anerkennen. Damit die Waren zirkulieren können, bedarf es eines gemeinsamen gewaltfreien Willensaktes der Warenbesitzer, die sich als Ware und ihre Waren aufeinander beziehen. Die Personen erkennen sich gegenseitig im Tausch erst als Personen in Gestalt von Privateigentümern an. Die Form dessen ist der bürgerliche Vertrag, in dessen gemeinsamen Willensverhältnis sich das scheinbar gewaltlose: das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. Dieses scheinbar gewaltfreie ökonomisch-rationale Verhältnis ist das versachlichte Resultat eines vorangegangenen, gewalttätigen Kampfes um Anerkennung, der auf Leben und Tod ausgefochten wurde, solange kein Gewaltmonopol sich eingerichtet hatte, das die Einhaltung der Verträge sowie für die Sicherheit der Person und ihres Eigentums garantieren konnte. Viel ungerechtes Blut ist dabei geflossen, um ein staatliches Gewaltmonopol mit der Aufgabe zu betreuen, den inneren Frieden zu garantieren, jedenfalls das Blutvergießen dort zu verhindern, wo Anerkennung individuell verweigert wird. Diesen geschichtlichen Prozeß haben sämtliche westlichen Bevölkerungen auf ihrem Weg zur Konstituierung eines territorialen Nationalstaates durchgemacht.
Was hier durch das Gewaltmonopol gewährleistet werden soll, ist aber keineswegs Gewaltfreiheit, sondern der mehr oder minder versteckte, ökonomische Bürgerkrieg der Konkurrenz aller gegen alle. Dieser ökonomische Krieg ist die Normalform bürgerlicher Gewalt, die sich erst entfalten kann, wenn auf der Oberfläche der Schein von Gewaltfreiheit, abstrakter Rechtsgleichheit, Vertragssicherheit und ökonomischer Freiheit durchgesetzt wurden.
Die sogenannte ethnische Gewalt, die nach dem Zusammenfall der bipolaren Weltordnung im ehemals politischen Osten gehäuft in Erscheinung tritt, wird nicht durch die Natur des Menschen oder durch kulturelle Unterschiede freigesetzt, sondern freigesetzt wird sie durch die Normalform bürgerlicher Gewalt auf dem Boden bestehender Herrschaftsverhältnisse, die in aller Regel aus ökonomischen und politischen Gründen in eine Legitimationskrise geraten sind und zunehmend den Fortbestand ihrer Herrschaft mit aufgepflanzten Bajonetten absichern, auf denen es sich bekanntlich alles andere als sitzen läßt. Erst in diesem Augenblick werden die kulturellen Differenzen zu einer brisanten Entität stilisiert, indem sie mit kollektiven Ressentiments beladen werden; es ist die Geburtsstunde der modernen Ethnie als reale Fiktion. Die ethnische Gewalt ist eine ideologische, unbewußte Revolte gegen die verdinglichenden Tendenzen der Normalform bürgerlicher Gewalt, die dem Individuum die Gefühle der Ohnmacht und Gleichgültigkeit zuteil werden lassen. Diese Gefühle kommen in der Regel nur ideologisch zu Bewußtsein; sie stellen die Quellen dar, aus denen die ethnisierende Revolte ihre unbewußten Energien entfaltet.
In der Verdinglichung ist die individuelle Differenz nivelliert und damit - ausgehend von der subjektiven Wahrnehmung - die gegenseitige Anerkennung wieder zurückgenommen. Es bleibt die mechanische Anerkennung des Menschen als produktives Mittel: als warenproduzierende Ware Arbeitskraft - und oft bleibt nicht einmal diese mechanische Anerkennung. Die Verdinglichung besteht darin, als Person auf ein jeder Zeit ersetzbares Instrument reduziert zu sein, das Zwecken dienen muß oder für diese als nutzlos erachtet wird, die nicht die eigenen sind.
Die ethnisierende Revolte beseitigt aber nicht die Mechanismen der Verdinglichung, sondern sie betreibt eine feindliche Abgrenzung vom Außen, durch das sie ihr Inneres definiert. Die falschen Identitäten: Nation und Ethnie, die hier entstanden sind oder homogenisiert werden, sind feindliche Ausgrenzungen dessen, was mit den erfundenen Traditionen nicht mehr identisch ist. Das Nicht-Identische muß draußen bleiben; alle Aggression richtet sich gegen es: es wird drangsaliert, vertrieben, deportiert oder gleich liquidiert. Die ethnische Säuberung stellt eine überschaubare Gemeinschaft verzerrt wieder her, die von der Ökonomie in einzelne, anonyme und abstrakte Robinsonaden vereinzelt und durch den Nationalstaat mit Gewalt mehr schlecht als recht zusammengehalten wurde. Die ethnische Gewalt stellt diese Gemeinschaft her, in dem das, was nicht mehr identisch ist, liquidiert wird. Da die ökonomischen Mechanismen, die eine Vereinzelung und Anonymisierung der Menschen vorantreiben, dabei unangetastet bleiben, kann es denn in dieser unbegriffenen Logik der gesellschaftlichen Auflösung immer so weitergehen. Die auf Selbstbestimmung drängenden politischen Territorien werden immer kleiner, nebenbei werden in dem erzeugten Gewaltklima numerisch bedeutende Teile ihrer Bevölkerungen, die nicht mehr dazugehören sollen, liquidiert, bis ihre "Gesellschaften" allmählich an die Grenze ihrer Funktionsfähigkeit gelangt sind.
Die nachholende Modernisierung im Osten droht zu einer größeren Katastrophe zu werden. Die Länder des ehemaligen Realsozialismus sind gezwungen, die nachholende Modernisierung zu beschleunigen, um gegenüber den fortgeschrittenen spätkapitalistischen Ländern konkurrenzfähig zu werden. Die jeweiligen Bevölkerungen werden deshalb von besonderer Härte getroffen, was eine Autoritarisierung der Herrschaft sowie ihre ethnisierende Auflösung provoziert. Ein totalitärer Staat ist zum einen imstande, nationale Modernisierung gegen die globale Konkurrenz und die historisch bedingte Zurückgeworfenheit zu beschleunigen, zum anderen vermag er den ethnisierenden Auflösungstendenzen der Gesellschaft, die er selbst provoziert, mit hemmungsloser Gewalt seine national-staatlichen Grenzen aufzuzeigen.
Der ungeheure Druck, der durch die globale Konkurrenz auf diese Länder ausgeübt wird, läßt keineswegs automatisch eine bürgerliche Zivilisation und ihre blühenden Landschaften entstehen. Der ungeheure Assimilationsdruck provoziert viel eingehender statt dessen die antibürgerlichen und den Mangel an bürgerlicher Zivilisation kompensierenden Gesellschaftsformationen, in denen die Ideen des Volkstums und der Ursprünglichkeit als Rechtfertigungsquellen sich durchsetzen können.
Der Kampf um Anerkennung verwandelt sich in ein nihilistisches
Gefecht. Hegel drückte sich drastisch aus, als er von der
Notwendigkeit eines Kampfes um Leben und Tod sprach. Aber der Tod kann in
dem Kampf um Anerkennung insofern keine Rolle spielen, als er
überhaupt nicht in Erscheinung treten darf. Denn anerkannt werden
kann eine Person nur durch das Leben und von Lebenden. Die Furien des
Verschwindens sind dieser Notwendigkeit gegenüber blind eingestellt.
Ihre reflexionslose Revolte richtet sich gegen Moderne überhaupt und
zerstört jedwede Grundlage, auf der wirkliche Anerkennung sich
vollziehen könnte. Es ist deshalb kein Kampf mehr um Anerkennung. Es
geht vielmehr um die Revolte der Natur, die sich mit roher Gewalt ihr
Recht verschafft.
[1] Die Isolation der realsozialistischen Gesellschaften von der Universalgeschichte des Wertgesetzes hat nicht total stattgefunden. - "Ost und West waren auf seltsame Weise miteinander verbunden gewesen, und zwar einerseits durch die transnationale Wirtschaft, die keiner von beiden kontrollieren konnte, andererseits durch die merkwürdigen Interdependenzen im Machtsystem des Kalten Krieges. Wie wir wissen, hatte dies nicht nur beide Supermächte, sondern auch die dazwischenliegende Welt stabilisiert. Und beide sollten in Aufruhr geraten, als dieses System zusammenbrach." - Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998, S. 521.
[2] Der Terminus geht auf Hegel zurück. In der Phänomenologie des Geistes bezeichnet er in der Reflexion auf die Schreckensherrschaft der Jakobiner während der Französischen Revolution als Furie des Verschwindens jenes Handeln, das nicht allgemeines Selbstbewußtsein erlangt und deshalb kein positives Werk der Freiheit hervorbringen kann und in den Terror führt. Es bleibt ein negatives Tun. "Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen inneren Umfang und Erfüllung hat; denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolut freien Selbsts; er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers." - G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Frankfurt a.M. 1986, S. 436.
[3] Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Ffm 1974.
[4] Detlev Claussen: Blick zurück auf Lenin, in: Ders. (Hg.): Blick zurück auf Lenin. Georg Lukács, die Oktoberrevolution und Perestroika, Frankfurt a.M. 1990, S. 24.
[5] Vgl. Margareta Mommsen: Von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, in: Nationalismus in Osteuropa. Gefahrvolle Wege in die Demokratie, hrsg.v. Margareta Mommsen, München 1992, S. 18-46.
[6] Der Begriff der Globalisierung ist etwas irreführend. Er ist ungefähr seit der Auflösung der Sowjetunion allgemein aufgekommen. Der Begriff soll aussagen, daß der Kapitalismus eine neue Qualität erreicht habe. Wirklich neu im Kapitalismus ist aber nicht die Globalisierung, wenn mit ihr der marxsche Termini der Kapitalisierung der Welt (Weltmarkt) gemeint ist. - Diesen Kapitalisierungs- und Kapitalkonzentrationsprozeß gibt es schon seit den kapitalistischen Anfängen und wurde bereits vor über 150 Jahren von Marx und Engels erkannt. Neu ist auch nicht unbedingt das bloße Maß vorangeschrittener Kapitalkonzentration, sondern wohl hauptsächlich, daß seit der russischen Revolution zum ersten Mal wieder die Universalgeschichte wirklich universal (global) abläuft, weil ihr der Zugriff auf die Gebiete des ehemaligen Realsozialismus nun nicht mehr verweigert wird. Nach der Auflösung der realsozialistischen Gesellschaftsformationen erscheint es nunmehr so, als haben diese Gesellschaften viele Jahrzehnte der Modernisierung nachzuholen. Die wieder universal in Kraft getretene Universalgeschichte geht dabei wie ehedem mit zurückgeworfenen bzw. ungleichzeitigen Verhältnissen nicht besonders zimperlich um. Schon Marx schrieb nüchtern über diesen Umwälzungsprozeß, daß alles Stehende verdampft. - Vgl. Michael R. Krätke: Standortkonkurrenz - Realität und Rhetorik, in: Ökonomie ohne Arbeit - Arbeit ohne Ökonomie? Entwicklungstendenzen des Kapitalismus und politische Intervention, hrsg. von der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Hannover 1997, S. 45-90.
[7] Hobsbawm hat für diese Art der Praxis den Begriff der Identitätspolitik geprägt. - Vgl. Eric Hobsbawm: Identitätspolitik und die Linke, in: Perspektiven, Nr. 33, Mai 1998, S. 25-28.
https://sopos.org/aufsaetze/39804a4b15444/1.html