In Europa können nur die inzwischen seit dreißig Jahren bestehenden "Madres de la Plaza de Mayo" und deren Kampf gegen die argentinische Militärdiktatur einen gewissen Bekanntheitsgrad aufweisen. Über Argentiniens Frauenbewegung ist hingegen kaum etwas bekannt. Dabei ist sie nicht nur sehr aktiv, sondern auch äußerst pluralistisch. Akademikerinnen, die wissenschaftliche feministische Tagungen organisieren oder wie letztes Jahr an der Universität Córdoba einen Ehrentitel an Nancy Fraser verleihen, zählen ebenso zu ihr wie Gruppen, die sich gegen Frauenhandel und Zwangsprostitution einsetzen.
Das Spektrum der Frauengruppen, die für das Recht auf Abtreibung kämpfen, reicht bis hin zu den "Católicas por el derecho de decidir", einer Gruppe katholischer Frauen, die sich für das Frauenrecht auf Selbstbestimmung einsetzen und auch an der "Campaņa Nacional al aborto legal, seguro y gratuito" beteiligt sind. Diese seit 2005 laufende Kampagne setzt sich landesweit für die Legalisierung und Straffreiheit von Abtreibung ein. Getragen wird sie von über 400 feministischen, sozialen und akademischen Organisationen. Die argentinische Gesetzgebung erlaubt einen Schwangerschaftsabbruch nur in zwei Fällen: bei Gesundheitsgefährdung der schwangeren Frau durch ihre Schwangerschaft oder bei geistiger Behinderung der Mutter. Doch selbst dann muß die Abtreibung erst gegenüber konservativ-katholischen Ärzten und Richtern durchgesetzt werden und ist mit einem langen juristischen Weg verbunden. Zudem werden Schwangerschaftsabbrüche selten in öffentlichen Krankenhäusern durchgeführt, sondern fast ausnahmslos in Privatkliniken, womit hohe Kosten verbunden sind.
Seit einigen Jahren ist in Argentinien eine äußerst aktive Lesbenbewegung anzutreffen, die maßgeblich an der Organisation autonomer, das heißt parteiunabhängiger frauenpolitischer Aktivitäten beteiligt ist. Die aus dieser Szene hervorgegangene Band "Lesbian Banda" spielt auf nahezu allen größeren (Frauen-) Demos. Es boomen auch Aktivitäten, die über den klassischen Feminismus hinausweisen, so etwa die Estudios de Género (Gender Studies), die Beschäftigung mit Autoren wie Judith Butler oder sub-kulturelle Ausdrucksformen wie Queer Tango. Einen eigenen Pol bilden die in linken Parteien organisierten Aktivistinnen, die die "Frauenfrage" als "Nebenwiderspruch" im Kampf für die Revolution aufgehoben wissen. Sie vertreten den Standpunkt, daß Frauen möglichst geeint mit ihren männlichen Compaņeros für die Revolution kämpfen sollten. Daß Frauen an sozialen Kämpfen massiv beteiligt sind, zeigt sich beispielsweise daran, daß sie in den Piquetero-Organisationen 70% ausmachen.
Einen der wenigen gemeinsamen Referenzpunkte der Frauenbewegung stellt das nationale Frauentreffen dar, das in Argentinien jährlich in einer anderen Stadt veranstaltet wird. Hier kommen Frauen aus linken Parteien, Gewerkschafts- und Basisorganisationen, aber auch aus unabhängigen Strukturen wie feministischen Gruppen, Indigena-Organisationen oder Arbeitslosen- und Hausfrauengruppen zusammen. Gegründet wurde das Frauentreffen 1985 auf Initiative einer Gruppe von Feministinnen, die kurz nach dem Ende der Militärdiktatur die erste UN-Frauenkonferenz besucht hatte. Während 1985 "nur" tausend Frauen teilnahmen, waren es 2005 in La Plata bereits 30.000 und 2006 im schwer erreichbaren Jujuy rund 16.000 Frauen, die ihre Erfahrungen in rund fünfzig Workshops austauschten und über soziale, politische und ökonomische Verbesserungen diskutierten.
Wie sieht eure Arbeit bei No a la Trata konkret aus?
Das Netzwerk haben wir im Jahr 2003 gegründet, um Frauen und Mädchen zum Reden zu bewegen und ihre Erfahrungen mit der Prostitution und als Opfer von Frauenhandel publik zu machen. Ich habe aber zuvor schon in anderen Organisationen zu dem Thema gearbeitet, teilweise sogar schon während der Diktatur. In Argentinien ist seit 1999 laut Strafgesetzbuch nurmehr die Prostitution von Minderjährigen strafbar. Wenn eine Frau - aus welchen Gründen auch immer - in der Prostitution arbeitet, so ist das eine Sache. Der Handel mit Frauen ist aber etwas ganz anderes. Der wird von einem Ausbeutungszirkel betrieben, der sich im ganzen Land breit machen konnte. Eine unglaublich hohe Zahl der Frauen und Mädchen, die in diese Netzwerke geraten, werden entführt, verkauft und zur Prostitution gezwungen. Meist werden sie von einem Ort zum anderen geschickt und bleiben nirgends länger als zwanzig Tage, um zu verhindern, daß sie sich mit anderen Frauen oder mit Klienten anfreunden. Daß sie dabei mißbraucht werden und massiven Gewaltakten ausgesetzt sind, steht außer Frage.
Es ist zweifelsohne ein gutes Geschäft, das sicher nicht ohne die Mithilfe von Polizei, Staat, Provinzen und Gemeinden auskommt. Die Mächtigen in diesem Land sind selber in diese Netzwerke verstrickt, und deswegen tut auch niemand etwas dagegen. Wir kämpfen hingegen auch auf anderen Ebenen. Jedes Mal, wenn ein neues Gesetz in diesem Zusammenhang diskutiert wird, gehen wir in den Senat, ins Parlament und streiten. Inzwischen fragen sie uns auch um Rat. Wir sammeln Nachrichten, die auf Spanisch erscheinen, recherchieren, verbreiten Informationen. Natürlich sind unsere Kapazitäten dabei begrenzt, obwohl wir in einem weiteren Umfeld ungefähr 400 interessierte Leute haben.
Auf welche Resonanz stößt eure Arbeit?
Es ist sehr schwierig, zu dem Thema zu arbeiten, weil wir einfach alle gegen uns haben: den Staat, die Presse und auch den nationalen Konsens. Für die meisten Menschen gibt es hierzulande nur zwei Frauentypen: Die guten Frauen und die schlechten Frauen, also Huren, die sich das selber ausgesucht haben. Ähnliche Argumentationen kennen wir ja schon von Frauen als Opfer häuslicher Gewalt, die hätten es sich ja auch "ausgesucht" oder "verdient". Die Mehrheit der Frauen, mit denen wir arbeiten, haben große Probleme sich selber zu verwirklichen und Dinge zu machen, die ihnen gut tun, selbst wenn sie aus diesen Zirkeln ausbrechen konnten. Sie haben aus dem Erlebnis extremer Gewalt einen großen psychischen Schaden davon getragen. Uns geht es darum, diesen Frauen zu helfen, sie zum Sprechen zu bringen.
An jedem dritten Tag des Monats finden Kundgebungen statt, die auf die Situation der verschwundenen Frauen aufmerksam machen. Wie ist es dazu gekommen?
Zum fünften Jahrestag des Verschwindens von Marita Véron[1] haben wir beschlossen, öfter etwas zu unternehmen. Dazu kam noch der Tod von Otoņo Uriarte[2], der uns ebenfalls sehr getroffen hat. Wir gingen auf die Straße und riefen: "Auftauchen - lebend!". Diese Forderung bezieht sich auf all die Frauen und Mädchen, die über Prostitutions- und Frauenhandelskreise in Argentinien verschwunden sind. Seither veranstalten wir einmal im Monat eine Kundgebung vor dem Kongreß, mit Redebeiträgen von Opfern, verschiedenen Institutionen und Organisationen. Es ist immer sehr beeindruckend, wenn Opfer sprechen oder Familienangehörige und Freunde der Verschwundenen anreisen, um die Grausamkeiten des Frauenhandels zu thematisieren.
Die wenigsten Menschen in Argentinien sind darüber informiert, daß auch in Zeiten der Demokratie noch massenhaft Menschen verschwinden, vor allem Frauen. Wenngleich es insbesondere am Anfang ein großes mediales Interesse gegeben hat, lassen die Politiker keine Taten folgen. Die sagen, sie wüßten von nichts und hätten keine Ahnung, wo nach den Verschwundenen gesucht werden könnte. Wenn's keine Verschwundenen gibt, gibt's auch keine Statistiken. Es wird einfach nicht anerkannt, daß es sich um ein ernstes und wichtiges Thema handelt.
[1] Marita Verón ist eine 23-jährige Frau aus Tucumán, die am 3. April 2002 ihr Haus verließ, um zum Gynäkologen zu gehen, und nicht mehr wiederkehrte. Ihre Eltern begannen mit der Suche nach ihrer Tochter, die bis heute ohne Erfolg blieb. Ihre Suche machte nicht nur auf die Existenz der Entführungen von Frauen aufmerksam, die meist zur sexuellen Ausbeutung gezwungen werden, sondern verdeutlichte auch das Ausmaß des dahinter stehenden Netzwerkes.
[2] Otoņo Uriarte, ein 16-jähriges Mädchen aus Río Negro, galt seit dem 23. Oktober 2006 als verschwunden. Ihre Leiche wurde im April 2007 in einem Fluß gefunden.
Worauf beruht deine intensive Beschäftigung mit Judith Butler?
Durch Zufall bin ich im Rahmen eines Forschungsprojekts auf ein Buch von Judith Butler gestoßen, das mich interessiert hat. Daraufhin habe ich einige Bücher von ihr bestellt. Mein größtes Interesse galt dabei ihrem Konzept der Redefinition, das für mich als eine logische Konsequenz und als radikalisierter Standpunkt aus dem Linguistic Turn hervorgeht. Wenn die Realität nicht mehr außerhalb des Sprachlichen betrachtet wird, wenn vielmehr das Sprachliche selbst in den Mittelpunkt gerückt wird als jene Instanz, die bezeichnet und normt, dann wird sie gleichsam zur einzigen Realität.
Das hat mir einen neuen Blickwinkel eröffnet. Anfang der 1990er mußte ich alle Bücher auf Englisch lesen, weil Übersetzungen erst viel später auf dem Markt erschienen und die meisten auch bis heute sehr schlecht sind. In Argentinien kannte man zuvor lediglich einige wenige Texte französischer Theoretiker wie Foucault und Derrida, die aber meist über die Schriften nordamerikanischer Theoretiker wie Adrienne Rich, die sich eben auf diese Autoren bezogen, nach Lateinamerika kamen. Die mangelnde Verfügbarkeit von Literatur macht die Auseinandersetzung mit ihr natürlich nicht einfacher.
Ich habe dann ein Dossier über Butler gemacht, über den Begriff des Subjekts in ihrer Theorie. Mir schienen ihre Postulierungen vor allem deshalb spannend, weil die Mehrheit der Feministinnen bis zu diesem Zeitpunkt das Subjekt meist mit dem Mißtrauen einer Simone de Beauvoir verstanden hatte, daß sich nämlich das Subjekt erst zum Subjekt verwandelt. Daraufhin habe ich mehr von der französischen und italienischen Schule und auch von Universalistinnen wie Nancy Fraser gelesen. So kam es dann zu einer umfassenderen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Subjekttheorien, aus der schließlich die beiden Bücher, die ich über Butler publiziert habe, hervorgingen.
Wie sieht die Situation von Estudios de Género an argentinischen Unis aus?
An der öffentlichen Uni in Buenos Aires (UBA) haben wir Ende der 1980er Jahre gemeinsam mit Leuten aus der Geisteswissenschaft, Philosophie und Geschichte das interdisziplinäre Institut für Geschlechterforschung gegründet. Die endgültige Institutionalisierung ist uns aber erst 1994 gelungen. Bis heute ist es nicht möglich, Gender Studies als eigenständige Studienrichtung zu belegen. An einigen Universitäten in Argentinien werden Gender Studies lediglich als Postgraduate angeboten, als Magisterstudium aber fast nie, und so sind auch Vorlesungen mit Gender-Perspektive selten - und nie verpflichtend.
Es geht eben nicht primär darum, die Gender Studies in den regulären Wissenschaftsbetrieb einzugliedern. Das Hauptproblem ist immer wieder, daß "die Frauen" hinten angehängt werden. In vielen Vorlesungen der Philosophie ist es meist so, daß in der letzten Stunde unter dem Motto "und die Frauen?" über Frauen gesprochen wird, sie also an den hegemonial männlich geprägten Kanon angehängt werden. An der UBA lassen sich zwar Seminare über weibliche Schriftstellerinnen oder andere "Frauenthemen" finden, aber das impliziert noch keine kritische Auseinandersetzung mit der Kategorie Geschlecht. Für mich geht's aber vielmehr darum, die gängigen Konzepte und den Kanon in Frage zu stellen.
Seit wann bist du in der argentinischen Lesbenbewegung aktiv?
Ich habe bereits Anfang der 1980er Jahre, also noch während der Diktatur, immer wieder versucht, Anschluß an eine möglicherweise existierende Szene zu finden. Aber an den wenigen Orten, die es gab, bin ich meist nur auf Männer gestoßen. Zu Beginn der Demokratie hat dann ein Zentrum aufgemacht, das sich "Lugar de Mujer"[1] nannte, wo ich dann einerseits Feministinnen und andererseits auch andere Lesben getroffen habe. Das hat mir viele neue Blickwinkel eröffnet. Es war ein Kollektiv von zirka 15 Frauen, die Workshops zu allen möglichen Themen organisiert und Feministinnen aus der ganzen Welt eingeladen haben. Wir waren beispielsweise die ersten, die häusliche Gewalt thematisierten. Natürlich gab es unter den aktiven Frauen auch einige Lesben, und so haben wir eine lesbische Reflexionsrunde gegründet, in Argentinien wahrscheinlich die erste Lesbengruppe überhaupt. Es kamen sogar Frauen aus der Provinz zu uns. Wir haben eigene Publikationen herausgegeben. Trotzdem hatten wir auch viele Probleme und sind auf gewisse Art und Weise unsichtbar geblieben. Unsere Treffen fanden fast heimlich hinter der Küche statt, und wir durften auch nicht offiziell Teil des Zentrums sein, weil andere Frauen Angst hatten, sie würden sonst Schwierigkeiten bekommen.
Gibt es heute noch Probleme in der Zusammenarbeit mit der Frauenbewegung?
Wir haben uns selber sichtbar gemacht, indem wir an einem 8. März mit einem Banner zur Kundgebung vor dem Kongreß marschiert sind, auf dem "leidenschaftlich lesbisch" stand. Die Reaktionen waren sehr hart für uns, weil unsere eigenen Freundinnen nicht grüßten und wir mit unseren Flugblättern in einer Ecke mehr oder weniger isoliert dastanden. Die Einzigen, die uns ermutigten und sich für unseren Auftritt begeistern konnten, waren Frauen, die aus dem Exil zurückgekehrten waren und so etwas schon aus anderen Ländern kannten. Ähnliche Dinge passieren heute immer noch, aber nicht mehr so offenkundig. Früher haben dich die anderen Frauen zumindest komisch angesehen, heute sagen sie dir, daß eh alles okay ist. In Wirklichkeit fühlen sie sich von uns bedroht und haben mit uns als Lesben ein Problem. Ich habe das Gefühl, daß es noch jede Menge Vorurteile gibt, die noch lange nicht aus der Welt geschafft sind und die uns oftmals aufzwingen, besser als andere Frauen sein zu müssen.
Wie sieht deine Arbeit in der "Lesbian Banda" aus?
Als Lesbe auf die Straße zu gehen, war nie einfach. Die Sprüche, mit denen wir auf Demos mitmarschierten, hatten immer mit Kritik, Schock und Protest zu tun. Mit der Lesbian Banda, die wir 2004 gegründet haben, ist das anders. Es geht mehr darum, Spaß zu haben, gut drauf zu sein, auf kreative Art und Weise etwas Positives einzubringen. Normalerweise sind feministische Demos eher traurig, weil's immer um Mißstände in der Gesellschaft geht. Mit der Band haben wir neuen Schwung rein gebracht. Es geht darum zu zeigen, wie gut es ist, daß wir Lesben sind. Und daß wir die Möglichkeit haben, das zu sein, was wir eben sind, einen Raum für uns zu schaffen. Es ist eine sehr ausdrucksstarke Botschaft, die wir mitbringen, und wir wollen auch, daß die Leute mitmachen, mit uns tanzen.
Wie reagieren die Leute darauf?
Manche sind erstaunt, manchen gefällt, was wir machen, andere haben wiederum gar kein Verständnis. Beim Frauentreffen in Mar del Plata haben wir am Strand getrommelt, und viele Leute fragten uns, wer wir wären. Als wir antworteten, daß wir die Lesbian Banda sind, waren viele erstaunt, daß es in Argentinien eine lesbische Band gibt. Eine der beeindruckendsten Erfahrungen machten wir letztes Jahr bei der Demo anläßlich des 30. Jahrestags der Militärdiktatur, als sehr viele Frauen mit uns gezogen sind. Es ist schwierig, sich zwischen all den politischen Parteien einen Platz zu schaffen, und das ist uns an diesem Tag gelungen.
[1] Ort der Frau
Interviews: Judith Goetz.
Sie studiert Vergleichende Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft in Wien.
Dieser Beitrag erschienen zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 303.
https://sopos.org/aufsaetze/478943b907742/1.phtml
sopos 1/2008