Impressum Plattform SoPos |
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können. Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror. Linn und Gilbert in RheinsbergWolfgang Helfritsch »Marc Kayser hat Kurt Tucholskys weltberühmten Klassiker ... ins Heute versetzt und ein neues Bilderbuch für Verliebte geschaffen«, verspricht der Klappentext der mit dem Untertitel »Liebeserklärung an Rheinsberg« versehenen ersten Auflage von »Ein Wochenende mit Tucholsky«. Eine originelle Idee, mit heutigen Personen ein Pendant zum Original zu schaffen. »Hätten wir es nicht besser ein wenig kleiner?« fragte ich mich allerdings, nachdem ich am 30. März die Vorstellung des Büchleins im Tucholsky-Literaturmuseum in Rheinsberg miterlebt hatte. Wenn man schon weiß, dass die Claire-Wölfchen-Geschichte von 1911 jungen Leuten als Vorlage für ein freieres Liebesleben im illegalen Hotelbett, im schaukelnden Kahn oder im weichen Moos diente und ein reichliches Jahrhundert nach Werthers verklemmtem Liebeskummer manchem dazu verhalf, auf den Suizid vorerst noch zu verzichten und in einer nach wie vor verspießerten Umgebung nach anderen Lösungswegen zu suchen, erschien mir das dem Prolog vorgestellte Versprechen »Für alle Liebenden, alle Geliebten und jene, die auf der Suche waren oder noch sind« – mit Verlaub – doch ein wenig hochgestochen. Der Gedanke, ein vom Alter und von den Lebenserfahrungen her reiferes Pärchen rund 100 Jahre später auf den Spuren Tucholskys durch das märkische Städtchen wandeln und rudern und erotisch brenzeln zu lassen, ist verlockend. Von den bislang 45 Rheinsberger Stadtschreibern seit 1992 haben zwar 35 eine Beziehung zum Städtchen und zur sanft geschwungenen Landschaft hergestellt. Aber bestenfalls zehn haben sich in ihrem literarischen Praktikum um einen Bezug zur Person des unbekannten Juristen und später berühmten Publizisten, vielseitigen Schreibers und anspruchsvollen Frauenfreundes K. T. bemüht. Einer von ihnen ist der in Potsdam lebende Journalist, Interviewer, Kriminalschriftsteller und Sachbuchschreiber Marc Kayser. Einen weiteren Vorzug der Veröffentlichung – bezeichnen wir sie wie Tucholskys »Tagebuch für Verliebte« ebenfalls als Novelle – sehe ich darin, dass der Autor Personenforschung betreibt und vor allem die Claire Pimbusch alias Else Weil aus ihrem Inkognito holt. Er greift dabei die Spurensuche von Sunhild Pflug auf, die sich vor Jahren verdienstvoll um die im Tucholsky-Literaturmuseum veröffentlichte Lebensdokumentation der jüdischen Ärztin bemühte. Ein Glück, dass sich im Gästebuch einst die Eintragung der in London lebenden Gabriele Weil fand, Else-Claires Nichte, die sich gern auf Nachfragen zu ihrer geliebten rothaarigen Verwandtschaft einließ. Dass aktuelle Paar, Linn und Gilbert, ist sympathisch. Dass die Angejahrten mit dem Auto über die B 96 andüsen und nicht mit der Bahn über Löwenberg, ist bei der Situation der ostprignitzschen Umlandanbindungen und der im Winterhalbjahr dahinrostenden Gleise durchaus nachvollziehbar. Dagegen kann selbst Gilbert, laut Autor Kayser Fahrplanmacher bei der Bahn, nichts ausrichten. Dass die Liebe aus der Rheinsberger Umgebung und dem literarischen Vorbild Impulse erhalten kann, soll nicht in Zweifel gestellt werden und wird durch die Vignetten Klaus Ensikats romantisch unterstrichen. Und dass Linn nicht wie weiland die Claire »... gepackt und wie ein Wickelkind davongetragen wurde bis in die blumige Mulde ...« (Tucholsky, Rheinsberg), findet durchaus mein, der höheren Altersgruppe geschuldetes Verständnis. »Alles hat wohl seine Zeit«, sagt ein alter Mann, der wie ein schwedischer Troll unseren Zeitgenossen immer wieder über den märkischen Weg schlurft. »Was früher einmal war, ist vorbei.« »Das Städtchen von heute ist nicht mehr das Städtchen von einst«, konstatiert auch der Autor Kayser. Wahrlich. Wo jetzt noch ein stattliches Gebäude das Postamt verspricht, muss längst keins mehr drin sein. Andere Dienstleister haben nur ihr Gesicht verändert und das Angebot sogar erweitert: Der Kolonialwarenhändler Krummhaar bot einst Waren aus dem fernen Indien an – heute werben Lidl, Aldi und Edeka für Orangen aus Afrika, Erdbeeren aus Neuseeland und Knoblauch aus China. »Das sind die Kolonialhändler von heute«, bemerkt Gilbert. Wo aber bleibt denn da Tucholskys Ratschlag an den Verbraucher, nur deutsche Zitronen zu kaufen? Zu des aufmüpfigen Dichters Zeiten gab es noch kein Tucholsky-Literaturmuseum, keine Akademie für junge Sängerinnen und Sänger, keine Tucholsky-Buchhandlung und kein inzwischen aufgegebenes Tucholsky-Café mit nachdenklichen Lebensweisheiten an den Gasthauswänden. Zu DDR-Zeiten existierten außerdem ein Atomkraftwerk in der Nähe, ein Diabetiker-Heim im Rokoko-Schloss, und im Umfeld der Stadt warteten sowjetische Bündnis-Truppen auf den glücklicherweise nicht eingetretenen Ernstfall. In Nachwendezeiten gab es Mobiltelefone und Smartphones, rekonstruierte und farbenfrohe Gebäude, aber auch provokatorische Veranstaltungen der Rechten, wie sie die Tucholsky-Fans zu ihrer zeitgleichen Jahrestagung im Herbst 2014 erlebten. Davon und von ähnlich gearteten Vorfällen ist allerdings in den Plaudereien zwischen oder mit dem Paar nicht die Rede. Gut, dass der Autor eine Begegnung Linns und Gilberts mit dem Stadtschreiber arrangiert. Dadurch erfahren wir wenigstens etwas über das Wirken und das Leben des Rheinsberger Arztes Joachim Weidauer, an dessen Mut und Zivilcourage eine Gedenktafel am Hause seiner ehemaligen Praxis erinnert. Mit dem aktuellen barfüßigen Stadtschreiber kommen sie beiläufig ins Gespräch über Tucholsky und dessen glückliche Tage mit Else Weil, über die Bücherverbrennung und über den Tod des Dichters in Göteborg. »Du meinst, sein Geist hat hier Frieden gefunden?« fragt Linn ihren Gilbert. Der »stupst sie in die Seite«, und alles bleibt offen. »Die Kernfragen um die Liebe sind heute nicht neumodischer, als sie es schon 1911 waren«, stellt der Autor in seinem Epilog fest. Mag sein. Aber ich hatte etwas mehr Tucholsky und noch etwas mehr an zeitgeschichtlichen Ansätzen erhofft. Andererseits soll man nicht mehr erwarten, als der Autor von sich aus verspricht. Immerhin erwähnt er auch Tucholskys Mitarbeit an der Weltbühne. Marc Kayser: »Ein Wochenende mit Tucholsky. Liebeserklärung an Rheinsberg«, mit Vignetten von Klaus Ensikat, Bild und Heimat Verlag, 112 Seiten, 14,99 €
Erschienen in Ossietzky 10/2017 |
This page is hosted by SoPos.org website
<http://www.sopos.org> Contents copyright © 2000-2004; all rights reserved. Impressum: Ossietzky Maintained by webmaster@sopos.org |