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Wo einst der weltumspannende Sozialismus von jungen Menschen aus aller Welt als buntes Miteinander erträumt wurde, herrscht heute modrige Tristesse. Für die weiträumige Immobilienanlage vor den Toren Berlins findet sich seit Jahren kein Käufer. Der völlige Zerfall scheint vorgezeichnet. Wie anders hatte dieser Ort noch ausgesehen, als hier im August 1988 die damals 20-jährige Finnin Kirsi Liimatainen, Tochter kommunistischer Arbeiter aus der Industriestadt Tampere, auf 400 andere junge Leute aller Kontinente traf. Was sie alle in diese Bildungseinrichtung führte, warum auch die junge Frau aus Finnland als linke Repräsentantin ihres Heimatlandes hier ein Studienjahr verbringen wollte, war die Suche nach Antworten auf damals so völlig selbstverständliche Fragen wie: Auf welche Weise kann der Marxismus-Leninismus dabei helfen, die Welt gerechter zu machen, sie zu verbessern? Wie sollten marxistische Theoreme und politische Ökonomie einwirken auf die Modellhaftigkeit skandinavischer Wohlfahrtsstaaten, wie auf die Taktiken der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront FSLN in Nicaragua, des bewaffneten Kampfes des ANC in Südafrika oder die Lenkung der peruanischen Túpac-Amaru-Bewegung? Aber es kam anders. Wer von ihnen hätte auch nur erahnen können, dass wenige Monate später all jenes im Weltenlauf keine praktische Rolle mehr spielen sollte? Nur einige Wochen nachdem Kirsi ihren Lehrgang beendet hatte, brach das sozialistische Staatensystem zusammen, wurde der Marxismus verhöhnt und für endgültig erledigt erklärt. Die so hoffnungsfroh gewesenen Schulungsgäste vom Bogensee reisten zurück in ihre doch keineswegs friedlicher gewordenen Herkunftsländer, nach Südafrika, Afghanistan, Angola oder eben nach Finnland, das durch die nun wegbrechenden Wirtschaftsbeziehungen zur ehemaligen Sowjetunion einer wirtschaftlichen Rezession entgegensteuerte. Der Traum von einer internationalistischen Verbundenheit friedliebender Menschen schien für immer begraben zu sein, wurde belächelt als eine Allüre ewiger Sozialromantiker, die als machtlose Verlierer im neoliberalen Politikgeschäft einer turboglobalisierten Finanzwirtschaft nun wirklich nichts mehr zu suchen hatten. Doch für Kirsi, die inzwischen als Regisseurin in Berlin lebt und arbeitet, haben die Fragen von damals niemals ihre Berechtigung verloren. Sie wollte wissen, ob das Erlernte, ob die internationalistische Vision Spuren im Denken und Handeln ihrer ehemaligen Mitstreiter hinterlassen hatte. Oder, wie Kirsi es formuliert: »Wo sind sie heute?«, »Wessen Brot essen sie?« und: »Welche Farben haben ihre Träume?« Um alledem auf den Grund zu gehen, beschloss sie, ihre Weggefährten von einst aufzuspüren, Menschen also, die seinerzeit vom Bogensee in eine ungewisse und gefährliche Zukunft zurückgekehrt waren. Das Ergebnis ihrer jahrelangen Arbeit ist der berührende Dokumentarfilm »Comrade, where are you today? – Der Traum der Revolution« (112 Minuten, zu beziehen über www.wfilm.de/comrade-where-are-you-today/dvd-bluray-vod), der einen einzigartigen Blick auf die Geschichte und Gegenwart linker Bewegungen freigibt. Die für ihre Reisen nach Bolivien, Chile, Nicaragua, Libanon und Südafrika erforderlichen Mittel brachte Kirsi Liimatainen mit Hilfe großzügiger Zuschüsse politischer und kunstfördernder Stiftungen auf, die durchaus nicht nur dem dezidiert linken Spektrum zugehörig sind. Ein Beweis dafür, dass nach über einem Vierteljahrhundert durchaus ein gesellschaftliches Interesse an einer künstlerisch anspruchsvollen Reflexion des lange totgeglaubten Internationalismus besteht. Wer aber sind nun die Menschen, die Kirsi nach so langen Jahren und oft komplizierten Recherchen vor Ort wiedertrifft? Kirsis Reise beginnt bei Lucía in Bolivien, von deren indigener Herkunft Kirsi damals gar nichts wusste. Hier nun, in Cochabamba, steht eine äußerst herzliche und dabei sehr nachdenkliche Mitstreiterin vor ihr, die sich ihrer ethnischen Wurzeln besonnen hat und als Heilpraktikerin mit Mitteln traditioneller indianischer Meditation in ihre Gemeinde hineinwirkt. Lucía sieht ihre damalige Zeit in der DDR als einen Schritt von vielen, der ihre Persönlichkeit positiv zu formen half. Marxismus und Naturreligion, der Glaube an eine klassenlose Gesellschaft und an indigene Gottheiten zugleich sind für sie kein Widerspruch, denn beides soll den Verarmten Hilfe bringen und sie aus elenden Lebensverhältnissen befreien. Mit der sich kommunistisch nennenden Splitterpartei ihres Ortes und deren Stalinflagge verbindet sie nichts, aber einen Stalin hatte es in den Lehren am Bogensee ohnehin nicht gegeben. Sie hat damals gelernt, dass multinationaler Ausbeutung durch internationalistische Solidarität begegnet werden muss, und dies sieht sie mit den vor einigen Jahren erfolgreich verlaufenen Protesten der Indigenen gegen die Privatisierung der Trinkwasserversorgung bestätigt. Auch dass mit Evo Morales ein erster indigener Präsident in Bolivien gewählt wurde, beweist, dass man es mit einer allmächtig scheinenden Oberschicht aufnehmen kann. In Chile trifft Kirsi dann auf Marcelino, den die Nachbarn heute noch als Kommunisten kennen, auch wenn er es jetzt als Werkstattinhaber ruhiger angehen lässt. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, an die Solidarität des chilenischen Volkes zu Zeiten der langen Pinochet-Diktatur zu erinnern und unterstützt alte Weggefährten, die sich aktiv in die sozialistische Politik ihrer Gemeinden einbringen. Eine ganz andere Entwicklung haben Nabil in Beirut und Ghazwan aus dem Südlibanon genommen. Nabil lebt in Deutschland und fliegt gemeinsam mit Kirsi zu seiner Familie. Was Nabil bewegt, ist die Tatsache, dass der Marxismus durchaus noch die revolutionäre Macht hätte, in seinem Lande etwas zu verändern. Da wäre zum Beispiel die Emanzipation der Frauen, die im Libanon nicht zuletzt durch linke, nichtreligiöse Einflüsse vorangeschritten ist. Ghazwan hingegen lebt im Südlibanon, wo die Hisbollah regiert und das Straßenbild islamistisch geprägt ist. Ghazwan hat einen Marktstand auf dem örtlichen Basar und hat sich – zumindest äußert er dies so – vom Marxismus als Utopie abgewandt. Er ist aber auch von allen ehemaligen Weggefährten derjenige, der in der gefährlichsten Region lebt und arbeitet. Das wird sichtbar, als ein fröhliches Familienpicknick in einer Flucht vor einer Schießerei in der Nähe endet. Es tut weh, die Betroffenheit in den Gesichtern dieser so gastfreundlichen Menschen zu lesen, wenn eine eben noch lebhafte Diskussion über die friedliche Zukunft des Libanon durch das Dauerfeuer automatischer Waffen abgebrochen wird. Eine der berührenden Szenen des Films. Am tragischsten jedoch ist die Begegnung mit der Witwe Dumas, Kirsis südafrikanischem Kommilitonen. Erst hier, in Johannesburg, erfährt Kirsi von Dumas wahrer Existenz. Duma war der Deckname von Matteo, der in der DDR lernen sollte, den bewaffneten Kampf des ANC von Sambia aus propagandistisch nach Südafrika zu begleiten. Der einst von der Apartheid gejagte Kämpfer starb aber bereits im Jahre 2003. Sichtlich ergriffen steht Kirsi an seinem Grab auf dem Märtyrerfriedhof und wird von Matteos Witwe getröstet. Und wenngleich sie auch die Korruptheit der gegenwärtig herrschenden ANC-Regierung anprangert, so wird klar: Matteo hat nicht umsonst gekämpft, sein Land ist von der Geißel der Apartheid befreit. Umsonst war auch nicht der Traum von einem gelebten Internationalismus bei den anderen Mitstreitern, denn Kirsi hat sie in ihrem wunderbaren Film zusammengeführt, die Weggefährten von damals, die ihre einstmals geteilten Ideale auf eigene unverwechselbare Weise fortleben. Ein Film, der bestätigt, dass der Traum von einer gerechten, sozialen und vor allem solidarischen Weltgemeinschaft nie sterben wird. Danke, Kirsi Liimatainen, für diese Ermutigung. Wir werden sie auch zukünftig brauchen. Kinotermine: www.wfilm.de/comrade-where-are-you-today/kinotermine/
Erschienen in Ossietzky 10/2017 |
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