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Die diversen vermeintlichen Anschlüsse zwischen Fahrrad und Kraftfahrzeug skizzierte Sebastian Herrmann in der Süddeutschen Zeitung (12./13.11.2016) unter dem apodiktisch anmutenden Untertitel: »Vor 200 Jahren baute Karl Freiherr von Drais den ersten Vorfahren des Fahrrads. Nur deshalb konnte das Automobil erfunden werden.« Ich teile diese Auffassung nicht. Sie gehört schon deshalb auf den Prüfstand, weil die Behauptung der »Verwandtschaft« der beiden Individualverkehrsmittel genau das sprichwörtlich unter die Räder kommen lässt, was dieses Jahr in der Tat nicht ausreichend genug gewürdigt werden kann: die Einzigartigkeit des anthropomobilen Zweiradprinzips. Das Fahrrad ist eine geniale, eigenständig-mechanische Konstruktion, die sich grundsätzlich vom Automobil unterscheidet. Sie beruht auf dem Leichtbau und sucht durch auf die menschliche Muskelkraft möglichst effektiv bezogene Anordnung der für die Beinarbeit wichtigen Pedale sowie ideal gängige Schaltungen das Maximum an Leistung sicherzustellen. Das Zweiradprinzip musste von vornherein eine entscheidende Schwäche des Menschen berücksichtigen: die von der Natur gesetzte Kraft- und Ausdauergrenze. Das klassische Fahrrad ist und bleibt das bislang einzige Individualverkehrsmittel, bei dem die Menge der bereitgestellten Energie nicht immer weiter gesteigert werden kann. Im Automobilbau dagegen steht seit jeher die Steigerung der Motorleistung im Pflichtenheft – früher bezeichnenderweise in PS = Pferdestärken ausgedrückt. Im Laufe des 19. Jahrhundert kamen sowohl die anthropomobilen Zweiräder als auch die mit fossilen Brennstoffen befeuerten »Motorkutschen« allmählich in Fahrt. Massenhaft eingesetzt wurden beide Verkehrsmittel erst ab dem frühen 20. Jahrhundert. Die ab 1817 in den Verkehr gelangten Laufmaschinen des Karl Freiherr Drais von Sauerbronn und anderer Hersteller (s. Ossietzky 8/2017) waren teuer und wenig praktikabel. Bereits um 1820 gerieten sie rapide aus der Mode. Mehr als zehntausend der in England »Hobby Horse« genannten Draisinen kamen weltweit wohl nicht unter die Leute. Ein neuer Aufschwung des Radfahrens erfolgte ab den 1860er Jahren, als in Frankreich das Vélocipède mit Pedalen an der vorderen Radnabe in den Verkehr kam. Diesen balanciertechnisch herausfordernden »Knochenschüttlern« folgten die technisch avancierten und schnelleren, freilich das Leben der Cyclisten aufs Spiel setzenden Hochräder. Die Prototypen der uns heute vertrauten Fahrradkonstruktionen mit Rohrrahmenbauweise, mittiger Tretkurbel und Kettenantrieb wurden in den 1880er Jahren in England zur Marktreife entwickelt. Sie konnten im Zuge der zugleich prosperierenden arbeitsteiligen industriellen Produktionsmethoden massenhaft hergestellt werden und wurden schließlich – hierzulande nach dem Ersten Weltkrieg – auch für die Arbeiter erschwinglich. Bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts lief für die meisten Europäer die Teilnahme am Individualverkehr auf den Einsatz der eigenen Beine hinaus. Die im 19. Jahrhundert verfügbaren Zweiräder waren teuer. Als potentielle Kunden fielen folglich genau die gesellschaftlichen Schichten beziehungsweise Stände aus, die von jeher auf das Zufußgehen angewiesen waren, die sich keine Reitpferde, Kutschen oder eine Fahrt mit der Postkutsche leisten konnten. Zudem hätten die Räder die damals relativ alternativlose tierische Antriebskraft in keiner Weise ersetzen können. Um 1820 arbeiteten immerhin rund 75 Prozent der deutschen Bevölkerung auf dem Lande, und für ihre tagtägliche Feld- und andere Arbeit benötigten die Menschen Zugtiere. In den Städten, wo die Herrschaften mit der Kutsche bequem von Tür zu Tür fuhren, war das Zweirad bestenfalls ein Freizeitgerät für gut Betuchte oder Enthusiasten. Als das Kfz zu Beginn des 20. Jahrhunderts so weit entwickelt war, dass es als ernsthafte Alternative zu standesgemäßen Kutschen in Frage kam, stieg, wer es sich irgendwie leisten konnte, prompt auf Motorwagen um. Soweit zum allgemeinen Hintergrund. Das ab 1817 sehr allmählich in Fahrt kommende anthropomobile Zweirad spielte beim Entwicklungsprozess der Kraftfahrzeuge keine Rolle. Was sowohl viele fahrrad- als auch »ottomotorfixierte« Autohistoriker bei ihrer »Verwandtschaftskonstruktion« gleichsam ausblenden, sind die Hervorbringungen des Dampfkraftzeitalters. Die ersten zweckdienlichen mechanischen Fahrzeuge für den Transport von Gütern und Menschen setzte Richard Trevithick ab 1801 in England in Fahrt. Sein erster Dampfwagen verfügte bereits über eine Kraftflussunterbrechung zum kurveninneren Hinterrad, um einen Drehzahlausgleich bei der Kurvenfahrt zu ermöglichen. Kurz, das Auto war längst erfunden, als Karl Drais um 1813/1814 seine ersten »Fahrmaschinen ohne Pferd« testete. Sie waren vierrädrig und sollten dem bequemen Transport von mehreren Personen dienen. Weil aber seine mit einer Tretkurbel betriebenen Vehikel die Erwartungen nicht befriedigten – »die Schwierigkeiten, die der Erfinder noch nicht überwältigt hat, bestehen darin, dass man auf schlechten Wegen wie in Bergen sehr müde dabei wird« –, kam ihm schließlich der Geistesblitz, ein leichtes, nur zweirädriges Gefährt in Fahrt zu bringen. Die gängige Hypothese, Drais hätte die Laufmaschine als Reaktion auf die nach dem Ausbruch des Tambora-Vulkans in Indonesien entstandenen Klima-kapriolen erfunden, ist nicht minder haltlos. Wie seine zündende Idee zustande kam, bei der er sich an keinen Vorbildern in der Natur orientieren konnte, geht aus seinen Zeugnissen nicht hervor. Fest steht, dass er sein Zweirad als individuelles Verkehrsmittel anpries, das, wenn die Pferde »auf dem Felde gebraucht werden und die Reiselust am größten ist«, zum Einsatz kommen solle. Die frühen Dampfwagen-Pioniere wollten die Mail-Coach-, also Postkutschen-Eildienste auf den Landstraßen ersetzen und in den Großstädten die Pferdeomnibusse durch »steamer« ablösen. Nachdem circa 50 Fahrzeuge den Regelbetrieb aufgenommen hatten, betrieben das Pferdegewerbe und die Eisenbahngesellschaften erfolgreich die gesetzliche Aushebelung der Dampfwagenbetreiber. Das endgültige Aus besiegelte der britische Gesetzgeber 1865 mit dem legendären »Red Flag Act«. Dieses Gesetz begrenzte erheblich die zulässige Geschwindigkeit mechanischer Straßenfahrzeuge und schrieb drei Mann Besatzung und einen Signalgänger vor. Die Dampfwagenentwickler brachten diverse automobiltechnische Errungenschaften hervor – Wechsel- und Differenzialgetriebe, Kettenantrieb, Einzelradaufhängung, geometrisch korrekte Lenkung, wirksame Bremsen et cetera. Diese Pionierleistungen waren längst Standard, bevor das mit einer Kette angetriebene Fahrrad präsentiert wurde. An der Erfindung und Weiterentwicklung des Dampfwagens hatten Fahrradmechaniker nachweislich keinerlei Anteil, und an dem seit 1884 Gestalt annehmenden Benzinmotorwagen grundlegend ebenfalls nicht. Carl Benz ging es nicht um eine Kopie anthropomobiler Fahrmaschinen; er wollte »die Lokomotive aus ihrer Zwangsläufigkeit befreien«, sie »den ganzen Raum beherrschen« lassen. Ein Blick auf die Straßen der Gegenwart reicht, um die Tragweite dieser frühen Vision zu ermessen. Allerdings bereiteten die Wagen mit »Gasmotorenbetrieb« ihren Entwicklern diverse Probleme. So erwiesen sich die Motoren zunächst als viel zu schwach für Karosserien, die mit »der eleganten Droschke in Wettbewerb treten« konnten. Benz und Daimler verbauten in ihren ersten Pkw deshalb einige Leichtbauteile der sich gerade etablierenden Fahrradindustrie. Nicht lange freilich, denn sie waren schlicht ungeeignet. Den Kraftfahrzeugkonstrukteuren ging es um die Motorisierung der bereits im 18. Jahrhundert technisch erheblich verbesserten Kutschen, nicht um die bessere Ausnutzung menschlicher Muskelkraft. Zudem waren sie zwingend auf das Mitspielen der Politik angewiesen, denn richtig ins Rollen kommen konnten die Kraftfahrzeuge nur nach ungemein umfangreichen infrastrukturellen und gesetzlichen Vorleistungen. Obwohl in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Fahrrad zu einem viel genutzten Stahlross der »kleinen Leute« avancierte, monopolisierte der motorisierte Transport mit Hilfe der Politik umgehend nachhaltig den Verkehr und blockierte massiv die Fortbewegung aus eigener Kraft. Die von Karl Freiherr Drais von Sauerbronn ausgetüftelte Basisinnovation eines leichten lenkbaren Gefährts mit zwei linear hintereinander angeordneten Laufrädern hat es grundsätzlich nicht verdient, als »Vater« oder als technik- und kulturgeschichtlicher Wegbereiter des brachial Raum und Leben fordernden, umweltschädlichen Automobils herabgewürdigt zu werden. Drais‘ anthropomobile Draisine ist gleichsam die Mutter einzigartig postfossiler Fortbewegungsmittel, deren jüngstes Kind das beste heute hergestellte Fahrradmodell (ohne Motor) ist. Postfossile Vehikel ermöglichen neben dem Zufußgehen die natürlichste und raumschonendste Art, vom Fleck zu kommen, wobei Mensch beim Radeln ausschließlich das körpereigene Fett verbrennt. Siehe auch: Johann-Günther König: »Fahrradfahren. Von der Draisine bis zum E-Bike«, Reclam-Verlag; derselbe: »Die Autokrise«, Verlag ZuKlampen.
Erschienen in Ossietzky 9/2017 |
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